Horst Haider Munske
Lob der Rechtschreibung
Es gibt viele Versuche, die deutsche Rechtschreibung zu korrigieren. Alle leiden an zwei Mängeln. Übersehen wird die Bedeutung der Orthographie für Leser, ignoriert die Kontinuität der Schriftform und deren Symbolwert für die eigene Sprache. Eine Charakteristik und Verteidigung der bewährten Rechtschreibung. Die deutsche Rechtschreibung ist lobenswert. Lobenswert ist sie für ihre vielen guten Eigenschaften, die das Lesen erleichtern, ohne das Schreiben besonders schwer zu machen. Sie übertrifft darin die Schriftnormen vieler weitverbreiteter Sprachen.
Zu loben ist sie vor allem für ihre Einheitlichkeit, die in langer Tradition gewachsen ist und vor mehr als hundert Jahren einvernehmlich besiegelt wurde. Sie hat in ihrer Geschichte bewiesen, daß sie fähig ist, sich der Sprachentwicklung und den Bedürfnissen ihrer Benutzer anzupassen. Das ist noch heute eine ihrer Stärken. Ein besonderes Lob verdient sie für die Widerstandskraft, die sie gegenüber zahllosen Reformversuchen gezeigt hat. Diese dankt sie natürlich ihren Verteidigern, die sich nicht von platten Nützlichkeitsideen ins Bockshorn jagen ließen, die Ausdauer bewiesen und Überzeugungskraft.
Und ich lobe sie auch für ihr Alter, für die Züge kontinuierlicher Entwicklung und geschichtlicher Herkunft, die sie nicht verbirgt. Ihre Kindheit liegt im frühen Mittelalter bei christlich-frommen Mönchen, die die Kunst des Schreibens mit lateinischen Buchstaben in den spätlateinischen Schriften der Kirchenväter und der Vulgata-Bibel kennengelernt hatten. Sie übertrugen diese Schrift auf ihre bairischen, alemannischen und fränkischen Dialekte, die nie zuvor aufgezeichnet worden waren. Ähnlich hatten fast ein Jahrtausend zuvor Freunde der griechischen Kultur deren Schrift auf italische Dialekte übertragen und damit jene lateinische Schriftkultur begründet, die schließlich die ganze Welt erobert hat. Spuren dieser Adaptionsgeschichte prägen bis heute die deutsche Orthographie und sind ein Teil ihrer Eigenart.
I. Alphabet und Alphabetschrift.
Züge des Alters verrät schon die Begrifflichkeit. Das Wort „Alphabet“ wurde im Mittelalter aus dem kirchenlateinischen Wort „alphabetum“ ins Mittelhochdeutsche entlehnt und geht zurück auf ein entsprechendes griechisches „alphabetos“, das sich aus den Bezeichnungen für die ersten beiden Buchstaben des griechischen Alphabets „alpha“ und „beta“ zusammensetzt. Das Wort hat die Adaption ins Lateinische überstanden und ist von dort in alle europäischen Sprachen aufgenommen worden: ein kleiner Spiegel unserer Kulturgeschichte.
Ähnlich erging es dem Wort „Orthographie“, dem wir noch heute die Herkunft aus dem Griechischen ansehen. Auch das wurde zuerst ins Lateinische entlehnt und von dort im 15. Jahrhundert ins Deutsche. Hier wurde es offenbar erst gebraucht, als man sich in Schulen und ersten Orthographielehren um richtiges Schreiben bemühte. 1571 begegnet uns erstmals die Übersetzung „Rechtschreibung“, Glied für Glied dem griechischen Original nachgebildet. Das „richtige Schreiben“ war also offenbar eine Forderung, die schon in der Frühzeit europäischer Schriftlichkeit erhoben wurde. Das griechische Wort belegt es und sagt damit viel über die Bedeutung der Normierung von Schriftsystemen. Alle Rede, man könne auf Normen doch verzichten, mißachtet Grundbedingungen der Schriftlichkeit, die so alt sind wie diese selbst.
Schreiben mit Buchstaben ist nur eine von vielen Möglichkeiten der Verschriftung, aber offenbar die erfolgreichste und einfachste, da wir mit einer kleinen Anzahl von Buchstaben eine unendliche Menge von Wörtern graphisch abbilden können. Das ist möglich, weil die einzelnen Zeichen nicht bestimmte Bedeutungen (zum Beispiel den Zahlenwert von 1, von 2, von 3) haben wie in ostasiatischen Wortschriften mit vielen tausend Zeichen, sondern sich auf die begrenzte Zahl von Lauten einer Sprache beziehen. Allerdings sind diese Laut-Buchstaben-Beziehungen niemals einfach (ein Laut = ein Buchstabe), sondern zumeist kompliziert wie im Deutschen, Französischen und Englischen.
Die Ursachen dieser Kompliziertheit liegen in der Geschichte des jeweiligen Schriftsystems begründet, in der Adaption eines Alphabets einer fremden Sprache (hier des Lateins), im Wandel der Sprache seitdem und besonders in der eigenständigen Entwicklung der Rechtschreibung. Wollte man alle Folgen und Zeugnisse dieser Entwicklung beseitigen, würde man jede Orthographie ihrer Identität berauben, all jener Züge, in denen ihre Benutzer das vertraut Eigene ihrer Sprache erkennen. Das gilt im Deutschen zum Beispiel für die Zeichenverbindungen ch, sch, ck, tz, für Dehnungs-h, Dehnungs-e (ie) und besonders unser ß.
II. Schrift als Symbol.
Warum eigentlich geben die Griechen nicht ihre griechische Schrift auf? Warum schreiben die Russen noch immer in kyrillischer Schrift, die vor mehr als tausend Jahren aus der griechischen entstand? Und warum lassen sich die Chinesen nicht bekehren, von ihrer altertümlichen Wortschrift zugunsten der lateinischen Alphabetschrift abzugehen? Im Gegenteil: Die Griechen zeigten während der Olympischen Spiele mit nationalem Stolz ihre eigenen Schriftzeichen vor, die kaum ein Besucher lesen kann. Die fremde Schrift hat hier keinen Informationswert, aber einen hohen Symbolgehalt. Sie ist ein Identifikationsmerkmal der Nation, nach innen und nach außen.
Einen ähnlichen Symbolgehalt haben die Besonderheiten unserer Orthographie. Rechtschreibreformer haben stets das Ziel vor Augen, sie völlig zu beseitigen. Die einzige Grenze, die sie notgedrungen akzeptieren, ist der Widerstand der Sprachgemeinschaft, der ihnen Stück für Stück ihrer Reformen zunichte macht. So werden Rechtschreibreformen immer magerer, bis sie ganz sterben.
III. Rechtschreibung für Leser.
Die Alphabetschrift basiert auf der Wiedergabe von Lauten durch Buchstaben. Welchen Sinn hat dann die Großschreibung am Wort- und Satzanfang, die Unterscheidung von Leere und Lehre, von daß und das? All das kompliziert doch offensichtlich das Verhältnis von Lauten und Buchstaben und macht das Erlernen der Rechtschreibung schwerer. So ist es, und es hat einen guten Grund: die Ausrichtung der Rechtschreibung auf den Leser.
Sie begann in der Medienrevolution des 16. Jahrhunderts. Die Verbreitung des Buchdrucks und die Verwendung preiswerten Papiers (anstelle teurer Tierhäute), außerdem die Erfindung der Lesebrille ermöglichten die Verbreitung gedruckter Schriften und Bücher für ein schnell wachsendes Lesepublikum. Die Buchkultur des Mittelalters war nur für eine kleine Elite in den Klöstern bestimmt. Die Vervielfältigung von Texten geschah durch einfaches Abschreiben oder durch Nachschreiben eines Vorlesers. Es gab eine Kultur der Buchkunst, aber keine Lesekultur. So war auch das System der Verschriftung vorrangig auf die Wiedergabe der Laute gerichtet.
Das änderte sich im Europa der frühen Neuzeit. Jetzt wurden in kurzer Zeit und sprachübergreifend graphische Mittel entwickelt, um das visuelle Verstehen von Texten zu erleichtern und zu beschleunigen. Hier liegen die Grundlagen unserer deutschen Orthographie. Dies ist vor allem deshalb bedeutsam, weil Rechtschreibreformer stets mit den Schreibschwierigkeiten argumentieren, als ginge es bei der Rechtschreibung mehr um das rechte Schreiben als um das leichte Lesen. Die Schriftgeschichte lehrt uns, daß es umgekehrt ist. Unsere Orthographie ist eine Leseschrift. Differenzierungen für Leser sind zumeist Erschwernisse für Schreiber. Das ist in Jahrhunderten entwickelt und akzeptiert worden. Jetzt muß es gegen jene verteidigt werden, die aus ideologischen Gründen der Erleichterung des Schreibens den Vorrang geben wollen.
IV. Stammschreibung.
Warum schreiben wir Leute und heute, aber mit gleichem Laut läuten und häuten? Warum Eltern, aber älter, warum Bild und Burg, aber halt und stark, wo doch in beiden Fällen eine „hartes“ t beziehungsweise k gesprochen wird? Offensichtlich widersprechen diese Schreibungen dem Grundprinzip der Laut-Buchstaben-Beziehung. Dem folgte das Mittelhochdeutsche viel besser. Man schrieb bilt, burc und lenge für Bild, Burg und Länge. Erst seit dem 16. Jahrhundert tauchen Schreibungen auf, die sich am Stamm orientieren, also Bild mit d wegen der Paradigmenformen Bildes, Bilde, Bilder oder Länge wegen der Ableitung aus lang. Diese sogenannten Stammschreibungen werden schon in den ersten Rechtschreiblehren von Kolross (1530) und Frangk (1531) angeführt. Wir interpretieren diese Entwicklung der deutschen Orthographie als Orientierung am Leser, der die Wörter einer Wortfamilie schnell erkennen soll. Das wird zweifellos erreicht, wenn man die lautlichen Abwandlungen in einem Beugungsparadigma und in Ableitungen nicht berücksichtigt, sondern die Wortstämme immer gleich schreibt.
Ein besonderer, für das Deutsche charakteristischer Typ solcher Stammschreibung sind die Umlautschreibungen ä und äu (statt e und eu). Durch die Ähnlichkeit zwischen ä und a beziehungsweise äu und au wird gleichsam eine graphische Eselsbrücke hergestellt. Das ist eine Besonderheit und eine Stärke unserer Rechtschreibung. Allerdings funktioniert sie nur in der Flexion ausnahmslos (Haus - Häuser, alt - älter), bei Wortbildungen nur so lange, wie sie durchsichtig sind (lang - länglich, Tat - Täter). Sind die semantischen Beziehungen zum Grundwort verdunkelt wie bei Eltern, behende oder schneuzen, bedarf es keiner Umlautschreibung mehr. Entsprechende Reformversuche sind widersinnig und gegen die Sprachentwicklung gerichtet.
V. Das ß.
Das ß ist das eigenartigste Zeichen der deutschen Orthographie. Es stammt aus der Frakturschrift, die in Deutschland in vielen Varianten vom ausgehenden Mittelalter bis 1942 als Schreib- und Druckschrift verbreitet war. In diesen sogenannten gebrochenen Schriften entstanden zwei s-Zeichen, ein langes s-Zeichen für Wortanfang und -mitte und ein kurzes, rundes für den Schluß. Aus ihrer Kombination in einer sogenannten Ligatur, das heißt zwei miteinander verbundenen Bleilettern, ist wahrscheinlich unser Eszett entstanden. Es war also ursprünglich ein Doppelzeichen. Die „Übersetzung“ in die Antiquaschrift war schwierig, denn dort gab es nur ein einziges s-Zeichen. So wurde die ß-Ligatur einfach entlehnt, ein Sonderzeichen, das bis heute an die Frakturschrift erinnert. Seinen Namen hat es vielleicht nach dem „geschwänzten“ z der Frakturschrift.
Die Verwendung des ß ist begrenzt: nie am Anfang, niemals groß geschrieben. Scharfes s nennen es manche, denn es steht immer nur für stimmloses s, nie für stimmhaftes. Darin unterscheidet es sich vom einfachen s, das sich auf beide Laute beziehen kann. Es gibt mehrere Verwendungen des ß: im Inlaut nach Langvokal und Diphthong steht es für stimmloses s, um es vom stimmhaften zu unterscheiden. So können wir Muse und Muße, reisen und reißen, die sich lautlich unterscheiden, auch in der Schreibung erkennen. Ferner als Schluß-ß nach kurzem Vokal und in dem Wörtchen daß. Beides soll künftig beseitigt werden.
Ist es hier überflüssig? Wir wollen verstehen, wozu es dient. Das sogenannte Schluß-ß tritt auf, wenn eigentlich ss nach Stammprinzip zu erwarten wäre. Statt muss wie in müssen steht muß, statt müsste steht müßte. Das ß übernimmt damit eine zusätzliche Information, die über den Lautbezug hinausgeht. Es sagt uns: Hier endet das Wort muß oder der Stamm müß-. Was ist damit gewonnen? Es ergänzt die Information von Wortzwischenräumen, Interpunktion und Großschreibung. Solche Grenzsignale sind ein wichtiges Merkmal leserorientierter Schriftsysteme. Meist wird der Wortbeginn markiert, die Kennzeichnung des Stamm- oder Wortendes erfolgt seltener. Das ß ist dazu das einzige Mittel. Eine besonders wichtige Funktion hat es in Zusammensetzungen wie Ausschußsitzung, Mißstand, Eßsaal oder Schlußsatz. Hier zeigt es die Kompositionsfuge an und erleichtert es, die Teile des zusammengesetzten Wortes zu erkennen. Diese Erleichterung des Lesens sollte man nicht ohne Not über Bord werfen.
VI. Zum Wörtchen „daß“.
In der Schule gilt „daß“ als das Kummerwort der deutschen Sprache. Es wird gleich gesprochen wie das Pronomen das, aber verschieden geschrieben. Das muß lange geübt werden. Wo stecken die Schwierigkeiten? In der Grammatik. Unsere Orthographie leistet sich hier den Luxus, einen grammatischen Unterschied, der in der Lautung nicht zum Ausdruck kommt, durch Verschiedenschreibung zu kennzeichnen: hier die Konjunktion daß, dort der sächliche Artikel, das Relativpronomen und das Demonstrativpronomen das. Es ist interessant, daß gerade Lehrer darauf bestehen, das daß beizubehalten. Sie sagen, es schule das Verständnis für Grammatik. Rechtschreibunterricht wird zum Helfer.
Oder muß man sagen: Er wird durch diese Inanspruchnahme belastet? Wohl kaum. Denn es geht hier auch darum zu zeigen, wie sehr die Schreibung unsere Sprache in all ihren Eigenheiten abbildet. Und dazu gehört die Herausbildung der Konjunktion aus dem Pronomen das - ein komplizierter Vorgang in der Sprachgeschichte, der schon am Anfang deutscher Schriftlichkeit einsetzt. Ich habe einen Text aus dem Jahre 1341 gefunden, abgedruckt in der Sammlung von Weistümern von Jacob Grimm, in dem mit großer Regelmäßigkeit die Konjunktion mit ß, die Artikel und Pronomina mit s geschrieben werden. Gerade Rechtstexte sind auf Präzision angewiesen. Bei den professionellen Kanzleien des Mittelalters liegen die Anfänge einer Schriftnormierung. Deshalb kann dieses Zeugnis nicht überraschen.
Es ist leider wenig bekannt, welche bedeutende Rolle die Rechtskodifizierung für die Sprachnormierung gespielt hat. Am bekanntesten ist vielleicht die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) im Jahr 1900. Ihre Sensibilität in Sprachfragen hat deshalb viele Juristen dazu veranlaßt, gegen die Rechtschreibreform zu protestieren. Differenzierung in der Sprache ist für sie bedeutsam für die Differenzierung in der (Rechts-)Sache.
Gute Gründe haben also dazu geführt, daß die Unterscheidungsschreibung selbst in der sogenannten Rechtschreibreform beibehalten wurde. Warum dann aber eine Schreibänderung von daß zu dass? Offenbar sollte dem Schluß-ß unbedingt der Garaus gemacht werden. Dabei gab es gute Gründe, am daß nicht zu rühren. Doppelkonsonanten sind nämlich in unserer Rechtschreibung vor allem flektierbaren Wörtern vorbehalten, um ein Gelenk zwischen zwei Silben bilden zu können (Män-ner). Unflektierbare Einsilber wie in, mit, bis schreibt man zu Recht nur mit einfachem Konsonanten. Will man also weiterhin Pronomen und Konjunktion in der Schreibung unterscheiden, dann ist dafür das Sonderzeichen ß am besten geeignet. Es hebt auch durch seine graphische Oberlänge die Konjunktion daß gegenüber dem Pronomen das ab. Die Weisheit historischer Entwicklung ist auch hier den falschen Vereinfachungen von Reformern vorzuziehen. Das bestätigt auch die erhöhte Fehlerquote der neuen ss-Schreibung.
VII. Groß oder klein?
Die Großschreibung der Substantive und Substantivierungen ist die hervorstechendste Eigentümlichkeit unserer Rechtschreibung. Wir finden sie bereits in der Lutherbibel aus dem Jahr 1543 vorgebildet und in der gesamten klassischen deutschen Literatur angewandt.
Reformer wollen diese deutsche Eigentümlichkeit seit langem loswerden. Meist wird argumentiert, die Substantiv-Großschreibung sei schwer erlernbar, stellenweise auch willkürlich. Demgegenüber sagen viele Ausländer, daß dies kein Problem sei, vielmehr machten die hervorgehobenen Substantive das Lesen deutscher Texte leichter. Empirische Nachweise sind für beide Positionen schwer zu erbringen. Bisherige Tests bestätigten meist das, was die betreffenden Wissenschaftler beweisen wollten. Jedem zweifelhaften Reformversuch steht die Macht der Tradition gegenüber.
Der Kern der Regel ist einfach: Wir schreiben nicht nur Substantive groß, sondern auch Wörter anderer Wortarten, die wie Substantive gebraucht werden, zum Beispiel Präpositionen in „das Für und Wider“, Pronomina in „das traurige Ich“, Verben in „das Soll und Haben“ und schließlich Adjektive und Partizipien wie „das Blau des Himmels“, „die Ausgestoßenen“.
Es geht dabei um den Wortartgebrauch im Text. Das ist der Clou dieser Regel. So können wir als Leser sofort erkennen, was die Gegenstände der Rede, die Hauptwörter, sind. Manchmal führen solche Substantivierungen dazu, daß der betreffende Gebrauch fest wird, lexikalisiert. So sind unzählige neue Wörter entstanden wie die Studierenden, die Angestellten, die Auszubildenden, Lesen, Schreiben oder Wandern.
Eine folgerichtige Anwendung ist auch die Großschreibung fester substantivischer Ausdrücke wie Erste Hilfe, Schneller Brüter, Kleine Anfrage (im Parlament). Das war nie als Vorschrift formuliert, wurde aber in der Praxis gern und häufig benutzt.
Auch die Kleinschreibung von Verben, Adjektiven und Pronomina ist einfach. Probleme bereitet nur ein charakteristischer Zug der Sprachentwicklung: das Verblassen von Substantiven zu Präpositionen (kraft), Adverbien (abends), Adjektiven (es tut mir leid) sowie in scheinbaren Substantivierungen von Adverbien (im übrigen, des öfteren) und Pronomen (folgendes, der meinige). Solche Entwicklungen in der Schreibung nachzuvollziehen - das ist die Stärke unserer Rechtschreibung. Die Reformer sind dabei, sie zu zerstören.
VIII. Getrennt oder zusammen?
Kein Thema hat die Kritiker der Rechtschreibreform heftiger aufgebracht als die neuen Regeln zur sogenannten Getrennt- und Zusammenschreibung. Worum geht es dabei, und weshalb ist die überlieferte Regelung besser?
Getrennt oder zusammen - das gehört zum wichtigen Bereich der Abgrenzung von Wörtern in einem Text. Wortzwischenräume erleichtern das Lesen, weil sie einen unmittelbaren Zugriff auf die sinntragenden Elemente ermöglichen. Unterstützt wird das durch Großschreibung und Zeichensetzung. Was ein Wort ist und was man also auf diese Weise kennzeichnet, erscheint zunächst unproblematisch. Es gibt einfache Wörter sowie Wortbildungen. Jeder, der Deutsch spricht, kennt die Muster der Ableitung und der Zusammensetzung. Deshalb träten auch kaum Probleme der Schreibung bei solchen komplexen Wörtern auf, gäbe es nicht Bereiche der Wortbildung, die noch nicht kanonisiert sind, erst im Entstehen sind und noch schwankend im Gebrauch. Es handelt sich dabei stets um Wörter, die im Text benachbart stehen und syntaktisch aufeinander bezogen sind. Das ist der Fall etwa bei fertig und machen, tot und schlagen in den Verben jemanden/etwas fertigmachen, jemanden totschlagen; die Adjektive fertig und tot beziehen sich auf das Objekt der verbalen Handlung. Sie werden dem Verb als Verbzusatz einverleibt.
Entsprechend werden zahllose Verben dieses Typs zusammengeschrieben. Das ist jedoch nicht zwingend erforderlich und muß auch nicht reglementiert werden. Gerade darin liegt die Qualität einer Orthographie, daß sie es ermöglicht, sprachlichen Entwicklungen zu entsprechen, ohne daß Regeln geändert werden müssen. Es ist Aufgabe der Wörterbücher, solche Entwicklungen des Schreibgebrauchs zu dokumentieren.
Ähnlich verlaufen die Prozesse der Einverleibung bei Verben wie eislaufen, maschineschreiben und Partizipien wie ratsuchend, Alleinstehende. In völliger Unkenntnis solcher im Entstehen befindlicher Wortbildungsmuster haben die Rechtschreibkommissionen unsinnige Schreibungen wie Rat suchend, allein Stehende vorschreiben wollen. Sie stehen auch in dem jüngsten Reformduden, jetzt aber schon wieder neben den bisherigen Schreibungen.
In anderen Fällen wiederum wird die Zusammenschreibung genutzt, um semantische und syntaktische Unterschiede zu markieren, zum Beispiel frei sprechen (frei ist Adverb zu sprechen) und (jemanden von einer Schuld) freisprechen (frei ist Verbzusatz, der sich auf das Objekt der Handlung bezieht). Seit Jahrhunderten unterschieden wird zwischen so genannt und sogenannt, so in dem Satz „Seit wann wirst du so genannt?“ (so ist Modaladverb) und der Formulierung „die sogenannte DDR“ (so ist Verbzusatz zum Partizip).
Gerade auf diesem Feld, das 1901 noch nicht amtlich geregelt wurde, hat sich eine Kultur der Differenzierung entwickelt, die schwer in starre Regeln zu bringen ist und damit viele Möglichkeiten für intelligente Schreiber eröffnet. Es ist kein Zufall, daß gerade auf diesem scheinbar unbedeutenden Gebiet der Rechtschreibung die Reformer ihr Canossa erlebt haben.
IX. Konservative Schriftkultur.
Welches sind die Merkmale einer historisch geprägten Schriftkultur? Kontinuität, Einheitlichkeit und Differenziertheit. Kontinuität wird erzielt durch Konservativität, durch das Festhalten am Schreibgebrauch über Jahrhunderte hinweg. Dauerhaftigkeit des Schriftkodes ist eine Grundbedingung jeder Schriftkultur. Deshalb nimmt die Schrift keine Rücksicht auf Veränderungen der Lautsprache, sondern gibt den üblichen Zeichen eine neue Interpretation. So entstand unser Zeichen für langes i (ie) auf folgende Weise: Im Mittelhochdeutschen gab es einen Diphthong i-e wieder (zum Beispiel in lieb, bieten, die); diese Schreibung blieb auch erhalten, als i-e zu langem i wurde (Monophthongierung). Später wurde diese Schreibung sogar generalisiert für fast alle deutschen Wörter mit langem i. Lautwandel einerseits und Konservativität der Schreibung andererseits haben mehrfach zu Komplizierungen der Laut-Buchstaben-Beziehungen geführt. Das gilt für die Orthographien vieler Sprachen.
Ein anderes Beispiel für außerordentliche Konservativität ist die Schreibung griechischer Lehnwörter im Deutschen. Die Zeichen ph, th und ch in Philosoph, Theologie, Christus erklären sich aus der langen Entlehnungsgeschichte dieser Wörter, vom Griechischen ins Lateinische und vom klassischen Latein der Humanisten ins Deutsche. Ursprünglich bezeichneten die griechischen Zeichen phi, theta und chi stimmlose Verschlußlaute mit einer folgenden Behauchung (Aspiration). Römische Schreiber griechischer Lehnwörter gaben das mit den Kombinationszeichen ph, th und ch wieder. Und dabei blieb es, obwohl im hellenistischen Griechisch aus den Verschlußlauten längst Reibelaute entstanden waren. Dem entspricht unsere Aussprache von ph als f. Die Humanisten haben diese Tradition der Verschriftung griechischer Wörter getreulich aufgenommen, und zwar nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen und Französischen.
X. Haut der Sprache.
Oft kommt es zu Rechtschreibreformen, weil die Orthographie fälschlicherweise für ein „Kleid der Sprache“ gehalten wird. Kleider kann man wechseln, Kleider sind zeitbedingt, Kleider haben mit dem Körper Sprache wenig zu tun. Das eben ist der Irrtum.
Zweierlei ist falsch. Erstens wird Sprache seit der Verbreitung von Lesen und Schreiben über das Geschriebene und Gedruckte identifiziert. Nicht das Hörbare, sondern das Sichtbare, was man schwarz auf weiß besitzt, macht Sprache für uns faßbar. Den Rang dieser Erscheinungsform kann man auch daran ermessen, daß die standardisierte gesprochene Hochsprache durch Sprechen nach der Schrift entstanden ist. Bis heute ist auch in der Schule (gegenüber Dialektsprechern) die Schriftsprache Orientierung der Sprechsprache. Kein Zufall, daß „Schriftsprache“ überhaupt „Standardsprache“ bedeutet.
Ich will der irreführenden Metapher vom „Kleid der Sprache“ eine andere entgegensetzen: Die Rechtschreibung einer Sprache ist die „Haut der Sprache“. Sie ist untrennbar mit ihr verbunden, mit der Sprache gewachsen und gealtert. Sie gibt ihre Besonderheiten auf je eigene Weise wieder und ermöglicht alle Differenzierungen, die ihre Benutzer verlangen.
Das macht die Eigenart jeder Orthographie aus. Keine gleicht der anderen. Es gibt keine Konfektion bei Orthographien. Man mache eine Probe, zum Beispiel schreibe Deutsch in englischer Orthographie oder umgekehrt. Zwei Beispiele: „Ai law mei kantri“; „Ish leebe mine lund“. Was für eine Verballhornung! Wegen dieser Spezifik wird die Schreibung oft für die Sprache selbst gehalten, weshalb viele die Rechtschreibreform als eine Sprachreform empfinden. Denn wer die Haut der Sprache verletzt, beschädigt auch den Körper.
Die verschiedenen Versuche, die deutsche Rechtschreibung zu korrigieren, leiden an zwei grundlegenden Mängeln. Sie verkennen die Leistung einer Orthographie für Leser und erzeugen deshalb nur Verschlimmbesserungen. Vor allem aber ignorieren die Reformer die Grundvoraussetzungen aller Schriftkultur: Kontinuität der Schriftform und deren Symbolwert für die eigene Sprache. Das begründet den anhaltenden Widerstand gegen die Rechtschreibreform.
Frankfurter Allgemeine, 4. 10. 2004
Quelle: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=aufsaetze&id=17
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