Reinhard Markner
Mißgriffe und Absurditäten
„Deutsche Rechtschreibung – Amtliche Regelung“: Ein Schnelldurchgang
Die amtliche deutsche Rechtschreibung, wie sie seit 1996 an den Schulen unterrichtet wird, bricht in vielen Bereichen mit der orthographischen Tradition und ist doch im wesentlichen die alte. Sehr viel weitergehende Reformvorschläge waren wiederholt, zuletzt 1989, am Widerstand der Öffentlichkeit gescheitert. Insbesondere die Kleinschreibung der Substantive, das Hauptanliegen der Reformer, ließ sich politisch nicht durchsetzen.
Aufgrund dieser Umstände ist die veränderte Verteilung von ss und ß für die ganz überwiegende Zahl der ins Auge des Lesers fallenden Veränderungen verantwortlich. Die zugehörigen Regeln werden meist auf die Faustformel gebracht, daß nach kurzem Vokal ss, nach langem und nach Diphthong hingegen ß zu stehen habe. Zu beachten sind allerdings eine Reihe von Zusatz- und Ausnahmebestimmungen, die Kinder lernen müssen, um nicht fälschlich „Muß“ (für Mus) oder „Buss“ zu schreiben. Daß auch umlernende Erwachsene Schwierigkeiten haben, zeigen die im öffentlichen Sprachgebrauch unübersehbaren irrtümlichen ss-Schreibungen: „dreissig“, „Ereigniss“, „Strasse“ und so weiter. Das Kriterium der Vokallänge ist nicht zuletzt deshalb schwierig, weil die Aussprache regional unterschiedlich ist („Spaß“). Erleichterungen für Schüler ließen sich bisher nicht seriös nachweisen. Der langjährige Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, der Siegener Linguist Gerhard Augst, behauptete Anfang des Jahres: „Die Leistungen wurden schlechter, jetzt sind sie wieder gleich; und sie werden besser werden.“ Nach acht Jahren müßten sie es längst sein.
Die veränderte ss/ß-Schreibung fällt in das erste Kapitel der amtlichen Regelung, „Laut-Buchstaben-Zuordnungen“. Hier finden sich im übrigen nur verstreute Restbestände früherer Reformvorschläge. Eine umfassende Eindeutschung der Fremdwörter ließ sich nicht durchsetzen. Die meisten der verbliebenen „integrierenden“ Schreibungen sind auf Betreiben der Kultusminister nur als Varianten zugelassen worden und werden wenig verwendet. Ein Restaurant (ursprünglich war „Restorant“ vorgesehen), das „Spagetti mit Tunfisch“ anbietet, stellt sich ins orthographische Abseits. Allgegenwärtig ist hingegen der „Tipp“, da er für obligatorisch erklärt wurde. Befremdliche Zusammensetzungen wie „Beautytipp“ oder „Investmenttipp“ sind die Folge. Häufig begegnet auch „Potenzial“, da diese Variante von den Nachrichtenagenturen verbreitet wird. Schwankend ist der Gebrauch im Falle von „Biographie/Biografie“. Daß die Reform auf dem Gebiet der Wörter griechisch-lateinischer Herkunft auf halbem Wege steckengeblieben ist, wird schon an der Schreibung „Orthografie“ deutlich. Nicht viel besser steht es um ursprünglich französische Wörter wie „Frigidär“; schon bisher gab es hier etliche Bastardschreibungen („Korps“). Insgesamt muß man bilanzieren, daß die Zeit der orthographischen Eindeutschungen vorbei ist. Neun von zehn neuen Fremdwörtern kommen heute aus dem Englischen, an integrierende Schreibungen ist nicht zu denken („Kompjuter“).
In den Bereich der „Laut-Buchstaben-Zuordnungen“ fallen schließlich einige besonders anstößige Neuschreibungen. Der Tolpatsch ist nicht toll, sondern ungeschickt, und wer belemmert dasteht, ist noch lange kein Schaf. Volksetymologien hat es schon immer gegeben, aber ihre amtliche Verordnung ist ein Novum in der Sprachgeschichte. Ein eklatanter Mißgriff der Reformer war auch die Sichtbarmachung sehr entlegener etymologischer Zusammenhänge. Man schneuzt sich die Nase, nicht die Schnauze. Schon in Luthers Bibelübersetzung von 1545 ist die Rede von „Füssen, die behende sind schaden zu thun“. So kann man nur schreiben, wenn der wortgeschichtliche Zusammenhang gründlich vergessen ist.
Das kontroverseste Kapitel der Neuregelung ist das zur Getrennt- und Zusammenschreibung. Diesen Bereich erstmals komplett „durchregeln“ zu wollen war das ambitionierteste Projekt der Reformer. Ziel war es, Anweisungen zu formulieren, aus denen sich die Entscheidung für die Getrennt- oder Zusammenschreibung jeweils eindeutig ableiten lasse. Hinzu kam die Absicht, der über die letzten Jahrhunderte im Deutschen zu beobachtende Tendenz zur Wortverschmelzung (Univerbierung) entgegenzuwirken. Im Ergebnis sind die betreffenden Regeln so komplex geworden, daß ihre Auslegung selbst den Wörterbuchredaktionen außerordentlich schwerfiel. Die einschlägigen Wortnester im „Duden“ sind voller undurchsichtiger Einzelfestlegungen: „freistehend“, aber „frei lebend“, „halbrund“, aber „halb tot“. Bei dem Versuch einer Neuregelung haben die Reformer grundlegende Prozesse der Wortbildung verkannt, jahrhundertealte Wörter wie „Handvoll“ und „Zeitlang“ für abgeschafft erklärt und die Neuentstehung von Wörtern (beispielsweise Zusammensetzungen aus Infinitiven und Infinitiven – „kennenlernen“) grundsätzlich untersagt. Einige im vergangenen Juni von den Kultusministern gebilligte Änderungen an den betreffenden Paragraphen beseitigen bei weitem nicht alle Systemfehler der Neuregelung, machen aber umfangreiche Umstellungen in den Wörter- und Schulbüchern unumgänglich. Der für Ende August angekündigte neue Duden wird das dokumentieren.
Einige neue Zusammenschreibungen sind unproblematisch, da längst gängig („krankschreiben“, „stattdessen“), andere offensichtlich verfehlt und auch ungebräuchlich („Standingovations“).
Das Kapitel „Schreibung mit Bindestrich“ ist von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung. Die Neuschreibung „45-Jähriger“ hat die Frage provoziert, was eigentlich ein „Jähriger“ sei. Die Behelfsschreibungen „Schluss-Strich“ oder „Schiff-Fahrt“ werden nicht verwendet, da sie noch unbeholfener wirken als „Schlussstrich“ und „Schifffahrt“.
Das Verhältnis von Groß- und Kleinschreibung ist ganz entgegen den ursprünglichen Intentionen der Reformer zugunsten der Großschreibung verschoben worden. Schreibungen wie „heute Morgen“ und „Leid tun“ gehen auf grammatische Fehlurteile zurück und sind deshalb besonders scharf kritisiert worden. Die im Juni beschlossene Neuzulassung der Variante „leidtun“ ändert nichts daran, daß die eklatante Falschschreibung „Leid tun“ weiterhin im Umlauf ist. Die Großschreibung adverbialer Wendungen wie „im Übrigen“ oder „des Öfteren“ verkennen die eigentliche Funktion der Majuskeln, Wichtiges im Satz hervortreten zu lassen. Die Bestimmung, weiterhin „Terra incognita“, aber neu „Alma Mater“ zu schreiben (weil „mater“ ein Substantiv ist), richtet sich augenscheinlich an Schreibende, die das Große Latinum abgelegt haben. Die jüngst erfolgte Wiederzulassung der Großschreibung sogenannter Nominationsstereotypen erfolgte unter dem Vorwand, sie gehörten dem von der Neuregelung nicht erfaßten fachsprachlichen Gebrauch an, was offensichtlich nicht immer zutrifft („Schwarzes Brett“).
An der Zeichensetzung hat sich in der Hauptsache nur geändert, daß viele Kommas weggelassen werden dürfen. Welche Konsequenzen diese Liberalität hat, demonstriert das Regelwerk mit Beispielsätzen wie „Wir standen den Rucksack auf dem Rücken vor dem Tor“. Die Schüler machen von den neuen Freiheiten regen Gebrauch, die deutschen Nachrichtenagenturen hingegen faßten 1999 den Beschluß, bei der herkömmlichen Zeichensetzung zu bleiben. Dafür gaben sie die denkwürdige Begründung, daß „die Lesbarkeit ihrer Nachrichten, insbesondere für ihre Kunden aus dem Audio-Bereich“, gewährleistet bleiben müsse. Die Reformer haben aus dieser Kritik keine Konsequenzen gezogen.
Das Regelwerk schließt mit dem Kapitel zur „Worttrennung am Zeilenende“. Die Absurdität vieler neu zugelassener Silbentrennungen ist oft genug vorgeführt worden: „Fotos-phäre“, „Hallod-ri“, „Halbe-delstein“. In der Praxis begegnen diese Fehlleistungen relativ selten, aber die „Demok-ratie“ hat es immerhin bis in einen Beschluß des CDU-Parteivorstands gebracht. Die obligatorische Trennung von s-t bricht mit einer alten Druckertradition, die Trennung –ck hingegen greift eine solche wieder auf. Wer Zu-cker trennt, sollte daher auch Ka-tze trennen.
Die Rechtschreibreform ist ein Werk der fehlgeleiteten Pedanterie. Das Aufeinandertreffen von drei gleichen Vokalbuchstaben ist sogar ein derart marginales Problem, daß im Regelwerk zu seiner Illustration die Beispiele „Hawaii-Inseln“ und „Zoo-Orchester“ angeführt werden, faktisch inexistente Wörter, bei denen sich die Frage nach ihrer richtigen Schreibung (neu auch „Zooorchester“) gar nicht erst stellt. Wenigstens hier war die Reform unschädlich.
F.A.Z., 13. 8. 2004
Quelle: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=aufsaetze&id=12
|