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02.11.2014
 

Odilia Hiller
Schraib wasdu hörst

Das Schreiben nach Gehör hat sich in der Unterstufe längst durchgesetzt. Kritiker meinen, vor allem auf Kosten der Rechtschreibung. Eine Trendwende findet aber statt.

Ihr Sohn geht in die vierte Klasse. «Er kann noch keinen geraden Satz schreiben», sagt die Mutter aus Appenzell Ausserrhoden. Ein Vater aus St. Gallen sagt: «Ich traue meinen Augen jeweils nicht, wie die Texte meines Sohnes aussehen. Er schreibt kreuz und quer.» Solche Aussagen von Eltern von Primarschulkindern sind immer wieder zu hören. Sie befürchten, dass ihre Kinder in der Schule falsche Schreibweisen einüben, weil die Lehrer «nichts mehr» korrigierten. Dass zum Zeitpunkt, wo den Kindern endlich jemand sagt, wie man ein Wort richtig schreibt, diese bereits verinnerlicht haben, dass es nicht so darauf ankommt, ob man dieses so oder anders schreibt. Wer liegt richtig, die besorgten Eltern oder die «grosszügigen» Lehrer? Wie steht es um den Stellenwert der Rechtschreibung in der Primarschule?

Anfangs herzig, später falsch

Die meisten angefragten Fachleute geben Entwarnung – fast, aber nicht ganz. Der Schreibunterricht, wie er heute an vielen Ostschweizer Primarschulen praktiziert wird, setzt seit gut zwei Jahrzehnten vor allem anfangs stark auf das Schreiben nach Gehör. Dass dies richtig sei, daran zweifeln weder der Schulamtsleiter des Kantons Appenzell Ausserrhoden noch zwei Fachdidaktiker der Pädagogischen Hochschulen St. Gallen und Thurgau. Am Anfang ihrer Schreibkarriere lernen die Primarschüler also nicht Wortbilder oder Regeln, die sie dann richtig anwenden müssen, sondern sie üben, auf gesprochene Wörter und Sätze zu hören und diese anschliessend mit Hilfe der gelernten Buchstaben «lautgetreu zu verschriftlichen». Das Resultat sind die bekannten chaotischen Schriftbilder, die anfangs als «herzig», später als kreuzfalsch gelten. Dies soll der natürlichen Entwicklung der Kinder entgegenkommen und ihre Kreativität fördern. Anstatt aus Angst vor dem Rotstift nur ein paar wenige Wörter zu verwenden, die sie sicher kennen, sollen sie relativ früh kurze Texte schreiben und einen umso breiteren Wortschatz anwenden. Der Haken: Nicht für alle Kinder scheint diese Methode gleich gut geeignet.

«Ich hatte auch Kinder in der Primarschule und musste erst umdenken», sagt Walter Klauser, Leiter des Amtes für Volksschule des Kantons Appenzell Ausserrhoden. «Es braucht etwas Mut – auch von den Eltern – etwas stehen zu lassen. Man muss es aushalten können.» Die Freude am Schreiben bleibe so aber tatsächlich vielen Schülern erhalten. An den Aufsätzen sei klar ersichtlich, dass der Wortschatz breiter geworden sei, wie Studien belegten. Das seien gegenüber früher klare Erfolge. «Die Kinder können heute viel schneller Inhalte und Botschaften aufschreiben als früher.» Doch dürfe dies selbstverständlich nicht auf Kosten der Rechtschreibung gehen. «Hier müssen wir künftig einen besonderen Akzent setzen. Wir müssen diesen Lernzielbereich mit den Lehrern nochmals gut anschauen.»

Denn der Befund unter Schulabgängern zeigt ebenfalls: Während die stärkeren Schüler im Durchschnitt insgesamt gleich gut oder besser schreiben als früher, ist die Schreibkompetenz gerade bei Kindern aus bildungsfernen Schichten oder Migrantenkindern am Ende der Schulzeit häufig katastrophal. «Auch ich erschrecke manchmal, wenn ich Texte von Schülern der Brückenangebote am Ende der obligatorischen Schulzeit sehe», sagt Klauser.

Vier- bis fünfmal pro Woche trainieren

Angesichts der breiten Streuung innerhalb der Klassen stellt sich die Frage, ob das freie Schreiben nach Gehör für alle Schüler nur ein Segen ist. «Die Lehrer dürfen nicht vergessen, einfache Rechtschreibregeln schon ab der 2. Klasse einzuführen», sagt Marco Bachmann, Leiter des Fachbereichs Deutsch und Leiter Berufseinführung an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Das Ziel der Schulausbildung bleibe, orthographisch korrekt zu schreiben. «Doch wie im Zeichnen oder Sport handelt es sich dabei um einen Lernprozess, der verschiedene Stadien durchläuft.» Neuere Lehrmittel führten heute schon während der 1. Klasse erste Rechtschreibmuster ein. «Vor allem schwächere Schüler brauchen Strukturen, Instruktion und Training», sagt Bachmann. Für sie genüge es häufig nicht, erst in der 3. Klasse schwer begreifliche Rechtschreibregeln einzuführen. Dass in einem immer praller gefüllten Stundenplan jedoch genug Zeit bleibe, mit den schwächeren Kindern möglichst vier- bis fünfmal pro Woche grundlegende Lese- und Schreibfertigkeiten zu trainieren, sei eine der grossen Herausforderungen des jetzigen Schulsystems. Unter den Lehrkräften sei das Bewusstsein dafür aber zunehmend wieder vorhanden. «Die Trendwende zurück zur vertieften und differenzierten Beachtung der Rechtschreibförderung ist bereits vollzogen.» Zum Umdenken hätten auch die Resultate der Pisa-Studien geführt: «Es gab in der Schweiz zu viele Jugendliche, welche die Schule ohne das notwendige Rüstzeug für die Arbeitswelt verliessen.»

«Eltern ausreichend informieren»

Christian Thommen, Studienbereichsleiter Sprachen an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, ist für das phonetische Schreiben – als dosiert eingesetzte Zwischenphase eines Entwicklungsmodells. Er hat ein gewisses Verständnis für die Verunsicherung bei manchen Eltern angesichts der jahrelangen Schreibabenteuer ihrer Kinder. Das Problem ortet er jedoch nicht in der Methode, die – richtig angewendet – dem individuellen Entwicklungsstand eines jeden Kindes Rechnung trage.

Viel wichtiger sei, dass die Schulen und Lehrkräfte die Eltern ausreichend aufklärten, was es damit auf sich habe. «Die Verwendung von Rechtschreibstrategien ist die letzte Stufe einer Entwicklung, die jedes Kind in unterschiedlichem Tempo durchläuft», sagt Thommen. Auf diesem Weg gelte es, beim Schreibenlernen die Balance zu finden zwischen der Förderung der Schreibfreude und dem Korrigieren – und zwar bei jedem Kind. Dass es nicht angehe, für jedes Kind einer Klasse ein eigenes Lernprogramm aufzustellen, sei auch klar. «Es ist aber relativ einfach festzustellen, welchen Lernstand ein Kind hat. Dementsprechend können die Lehrkräfte Gruppen bilden.» Es sei nicht auszuschliessen, dass man nach dem Enthusiasmus der 1980er- und 1990er-Jahre für das freie Schreiben ohne Eingriffe in manchen Schulzimmern etwas zu wenig auf die Form geachtet habe. «Üben an der Form ist heute aber wieder von Anfang an ein Thema.»





Lehrpläne – Der Geist der Neunziger

Im Thurgauer Lehrplan für die Primarschule aus dem Jahr 1996 – überarbeitet im Jahr 2006 – steht im Kapitel Deutsch unter «Didaktische Bemerkungen» einiges zu lesen, was noch den Geist der 1980er- und 1990er-Jahre atmet, als man vom früheren Drill wegkommen wollte:
«Beim Schreiben für Adressaten und Adressatinnen ist die Rechtschreibung von besonderer Bedeutung. Das kann so weit führen, dass sie für wichtiger angesehen wird als der Inhalt. Diesen Eindruck darf der Deutschunterricht bei den Schülern und Schülerinnen nicht hervorrufen. Schreiben ist wichtiger als die Rechtschreibung. Rechtschreibung stellt lediglich einen Teilaspekt des Schreibens dar. Die Rechtschreibung bildet ein sehr komplexes und teilweise in sich widersprüchliches System, in dem nur sehr wenige Regeln ohne Einschränkung gelten. Die Lernenden eignen es sich im Laufe der Zeit beim Schreiben und insbesondere beim Lesen vor allem unbewusst an. Dieser Lernprozess sollte durch Individualisierung behutsam gefördert werden. Klassendiktate sind dabei kaum eine förderliche Übungsform. Wichtig sind dagegen der Ansporn und das Erlernen von Techniken, Hilfsmittel wie Wörterbücher usw. zu gebrauchen. Bereits auf der Mittelstufe, vor allem jedoch auf der Oberstufe, ist darauf Wert zu legen, dass Schüler und Schülerinnen mit ihren individuellen Rechtschreibproblemen umgehen lernen. Eine günstige Voraussetzung für das Rechtschreiblernen ist es, wenn Schüler und Schülerinnen Texte für Leser und Leserinnen schreiben können und wollen und dabei wissen, dass Rechtschreibfehler die Wirkung ihres Textes stören können.»

Im Lehrplan 21, der zurzeit überarbeitet wird, heisst es neu:
«Fehler treten sowohl in Deutsch wie beim Fremdsprachenlernen auf und sollen für den Erwerbsprozess genutzt werden. Differenziertes Korrekturverhalten passt sich den unterschiedlichen Lernsituationen an. Wo es um die Förderung des Sprechflusses geht, werden Fehler zurückhaltend korrigiert, für die korrekte Sprachverwendung sind hingegen gezielte Korrekturen nötig.»
(oh)





«Das Üben ist Sache der Schule»

Stefan Stirnemann, Kantonsschullehrer und Gründungsmitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz, zum «groben Unsinn» des Schreibens nach Gehör.

Herr Stirnemann, was halten Sie von der gängigen Methode, Primarschulkinder anfangs phonetisch, also nach Gehör, schreiben zu lassen?

Stefan Stirnemann: Ich halte das für groben Unsinn. Das Stichwort lautet beim Schreiben «Übung». Nur mit Ausdauer und Wiederholung können Kinder sich Schreibweisen einprägen. Dem wird in der Primarschule viel zu wenig Rechnung getragen. Es ist eine Bevormundung, Kindern Informationen vorzuenthalten unter dem Vorwand, sie müssten sich entwickeln.

Sie würden also schon von Anfang an Fehler korrigieren?

Stirnemann: Das Problem ist, dass man mit dem Schreiben nach Gehör erst einmal eine künstliche Welt schafft. Eine Art Paralleluniversum, wo es nicht darauf ankommt, wie etwas geschrieben wird. Ich halte es für wichtig, dass die Schule von Anfang an sagt, was richtig und was falsch ist. Das heisst ja nicht, dass man einen Schüler k. o. schlägt, wenn er einen Fehler macht. Es geht heute zu oft vergessen, dass es den Kindern Sicherheit gibt, zu wissen, wie etwas richtig ist.

Sehen Sie eine Gefahr, dass Fehler sich eingraben?

Stirnemann: Natürlich. Und wenn Fehler, wie bei extremen Formen dieses Vorgehens, erst ab der dritten Klasse korrigiert werden, führt das bei den Schülern zu noch grösserer Verunsicherung. Plötzlich ist alles falsch, was sie zuvor richtig gemacht haben.

Verfechter der Methode des freien Schreibens sagen, im Sport oder Zeichnen erwarte man auch nicht von Anfang an Meisterleistungen. Genauso müsse der Schreibprozess reifen.

Stirnemann: Ja, das muss er. Aber in der Mathematik hört man auch nicht auf mit dem Korrigieren falscher Rechnungen, weil der Schüler sich erst entwickeln muss. Falsch ist falsch. In der Rechtschreibung gilt das gleiche.

Hat sich die Rechtschreibkompetenz in den letzten Jahren verschlechtert?

Stirnemann: Als Leser beobachte ich eine gewisse Verwahrlosung. Viele Zeitungen und Verlage investieren nicht mehr wie früher in diesen Bereich. Als Lehrer sehe ich, dass mehr Schüler Mühe haben mit der Gross- und Kleinschreibung. Die verunglückte Rechtschreibreform verunsichert zudem nicht nur die Schüler, sondern beispielsweise auch mich.

Ist es nicht pingelig und altmodisch, wenn man auf korrektem Deutsch beharrt?

Stirnemann: Die deutsche Sprache, und damit auch die Orthographie, ist ein Weltkulturerbe, das es zu erhalten gilt. Die Rechtschreibung wurde ja nicht erfunden, um Schüler damit zu belästigen, sondern damit die Menschen sich gegenseitig verstehen. Man schreibt immer für den Empfänger, nicht für sich selbst.


Quelle: Ostschweiz am Sonntag
Link: http://www.ostschweiz-am-sonntag.ch/ostschweiz-am-sonntag/thema/Schraib-wasdu-hoerst;art304168,4008007


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Kommentare zu »Schraib wasdu hörst«
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Kommentar von Leserbrief, Ostschweiz am Sonntag, 9. Nov. 2014, verfaßt am 07.12.2014 um 22.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=715#10022

Rechtschreibung und Information

Es mag ja durchaus erheiternd sein, wenn in einem Stelleninserat «stielsicheres Deutsch» gefordert wird, oder in einer Werbeaktion von «unseren angebeteten Kursen» die Rede ist – mindestens für diejenigen, die es überhaupt bemerken…

Ich pflichte Stefan Stirnemann bei, dass man (meistens) für den Empfänger schreibt – ausser beispielsweise im eigenen Tagebuch. Rechtschreibung ist ja nicht Selbstzweck, sondern der Empfänger soll die Information so verstehen, wie sie der Verfasser gemeint hat. Die Klarheit und Eindeutigkeit von Texten wird oft vernachlässigt, vielleicht auch deshalb, weil sie noch etwas anspruchsvoller ist? Die oft gehörte Aussage, Rechtschreibprogramme würden das Problem lösen, stimmt immer weniger, weil sie das fehlerhafte Wort durch das «nächstgelegene» ersetzen, und das kann ja dann einen völlig anderen Sinn ergeben. Die unterschiedliche Bedeutung von «Sie» und «sie» ist nur allzu oft völlig unbekannt. Mittlerweile sind leider auch die Medien und Behörden stark von diesem Trend betroffen.

Wir gewöhnen uns mehr und mehr daran, das vermeintlich Richtige in einen Text «hineinzuinterpretieren» und vergessen dabei, dass Fehler in Texten auch gravierende Konsequenzen haben können (z. B. in der Technik oder der Medizin). Wer übernimmt dann die Verantwortung?

Da die «Durchlaufzeit» ein bis zwei Jahrzehnte dauert, ist handeln dringlich!

(Link)


Kommentar von Leserbrief, Ostschweiz am Sonntag, 9. Nov. 2014, verfaßt am 07.12.2014 um 22.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=715#10023

Wer schreibt, wie man spricht, wird scheitern

Als Opa mit Kindern und Enkeln kann ich Ihnen nur beipflichten. Für viele ist Hochdeutsch eine Fremdsprache, die gelernt werden will.

Versuchen Sie eine Fremdsprache nach dem Gehör zu schreiben, und fangen mit dem Japanischen an, es darf aber auch «Inglisch» sein, und alle die Praktiker von «Schreiben, wie man spricht» werden scheitern!

Eine Sprache bedarf der Schriftlichkeit, ausser man begnügt sich mit dem Smart-Phone. (Wie schreibt man das gesprochen?) Mit Ikons alleine wird es in der Kanti nichts ! Entschuldigung für meine Rechtschreibung!

(Link)


Kommentar von Leserbrief, Ostschweiz am Sonntag, 9. Nov. 2014, verfaßt am 07.12.2014 um 22.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=715#10024

Eltern sind dem Unsinn hilflos ausgeliefert

Oh, wie recht hat Stefan Stirnemann mit seinen deutlichen, ja, fast verzweifelten Worten bezüglich Handhabung der Rechtschreibung in der Unterstufe! Wie kann man nur eine so naive, ignorante Schiene fahren? Und als Eltern ist man diesem Unsinn machtlos ausgeliefert – das ist das Allertraurigste!

Mit dieser Beliebigkeit wird das Kind in ein Meer geworfen, aus dem es doppelt und dreifach schwierig ist, wieder aufzutauchen, wohingegen klare Leitplanken behutsam den Weg in das Land der geschriebenen Sprache, welches so wunderbar ist, weisen.

(Link)


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 09.12.2014 um 08.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=715#10025

Der Artikel in der "Ostschweiz", so verdienstvoll er auch sein mag, leidet an den auf diesen Seiten schon häufig abgehandelten Problemen, nicht zuletzt, was das Vokabular betrifft. So ist beispielsweise vom "vom früheren Drill" die Rede, obwohl damit nichts anderes als das geduldige Üben gemeint ist (Herr Stirnemann stellt die Sache richtig dar).

Die Äußerungen des Herrn Bachmann von der PH Thurgau sind vor diesem Hintergrund besonders aufschlußreich, denn er verwendet statt "Drill" oder "Üben" das Wort "Training", womit sich aber an der Substanz nichts ändert.

Bemerkenswert ist auch das Eingeständnis, daß das u.a. von Augst propagierte Schreiben nach Gehör (vgl. "Laut-Buchstaben-Beziehungen") gerade den Schwächsten schadet. Nicht, daß das eine Neuigkeit wäre, aber immerhin!

Richtig ärgerlich sind die Platitüden des Herrn Klauser, denenzufolge es eine "Freude am Schreiben" gebe und "der Wortschatz breiter geworden" sei.


Kommentar von www.20min.ch, 21. Januar 2015, verfaßt am 22.01.2015 um 21.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=715#10048

«Studenten können nicht mehr richtig schreiben»
von Ph. Flück

Maturanden haben zunehmend Mühe mit der Rechtschreibung. Ist die lasche Rechtschreibekontrolle an den Primarschulen daran schuld?

(Bildunterschrift: Christa Dürscheid: «Bei Kindern muss nicht gleich jede Kleinigkeit angestrichen werden.»)

Falsch geschriebene Wörter, abgehackte Sätze, willkürlicher Gebrauch der vier Fälle und rein zufällig gesetzte Kommata: Prüfungsexperten bestätigen der NZZ, dass es Maturanden gibt, die kaum einen einzigen deutschen Satz korrekt schreiben können. Fehler in der Rechtschreibung seien bei fast allen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. So heisse es bei den Schülern etwa «gleich falls« statt «gleichfalls« und «schohn» statt «schon».

Auch HSG-Professor Rainer J. Schweizer sagt: «Es ist tatsächlich so, dass Studenten zunehmend Mühe mit der Rechtschreibung haben.» Doch was sind die Gründe für die mangelnde Rechtschreibekompetenz der Schüler?

Lasche Rechtschreibekontrolle

Professor Schweizer glaubt, dass die steigende Zahl elektronischer Kommunikationsmittel an der Entwicklung schuld ist: «Auf Facebook oder WhatsApp ist nur eine reduzierte Kommunikation erforderlich, man benutzt oft Abkürzungen wie zum Beispiel ‹LG› statt ‹Liebe Grüsse›.» Diese Kommunikationsweise stelle einen grossen Teil der heutigen Kommunikation dar, deshalb entwickle sich die Sprache vieler Jugendlichen nur in beschränktem Masse. Auch bemerkt Schweizer eine wachsende Lesefaulheit: «Heutige Studenten lesen und schreiben grundsätzlich zu wenig.»

Eine weitere Ursache sieht SVP-Nationalrat und ehemaliger Lehrer Oskar Freysinger in der laschen Kontrolle der Rechtschreibung an Primarschulen. An vielen Schulen dürfen Kinder nämlich so schreiben, wie sie sprechen. So sollen sie Freude am Schreiben entwickeln. Das aber sei fatal, findet Freysinger: «Gerade während der ersten Schuljahre haben Kinder ein unglaublich fotografisches Gedächtnis, deshalb darf man sie nicht an falsche Schreibweisen gewöhnen.» Solche Fehler seien später nur sehr schwer zu beheben. Die Verarmung der Sprache schreite ohnehin schon sehr schnell voran: «Schon bald wird die deutsche Sprache in eine Willkürlichkeit, wie sie noch vor der Barockzeit herrschte, zurückfallen.» Deshalb müsse man in der Schule unbedingt von Anfang an auf die korrekte Orthografie achten.

Mehr Fehler, dafür «inhaltlich stark»

Der Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, Christian Amsler, bestätigt, dass in den ersten Schuljahren in vielen Schulen mehr auf den Inhalt als auf die Form geschaut werde: «Viele Lehrer in der Schweiz unterrichten nach dem Prinzip des ‹Schreibe, wie du sprichst›, eine Methode, die von Sprachwissenschaftlern und Lehrern entwickelt wurde.» Probleme berge diese Methode keine. Im Gegenteil: Es sei gut, dass man die Texte der Kinder nicht mit dem Rotstift zudecke. Er selbst hält die Methode für sehr effektiv: «Ich habe kürzlich bei einem Schulbesuch die Anwendung dieser Methode beobachtet und war positiv beeindruckt davon.»

Auch der Berner Volksschulamtsvorsteher Erwin Sommer glaubt nicht, dass die lockere Rechtschreibkontrolle zu mehr Rechtschreibfehlern führe: «Ich habe eher festgestellt, dass der Wechsel der neuen Rechtschreibung zu einer Verunsicherung geführt hat.» Es sei wichtig, den Kindern die Freude am Schreiben zu vermitteln. Rot markierte Korrekturen könnten demotivierend wirken.

SP-Bildungspolitiker Matthias Aebischer ist von der «Schreibe, wie du sprichst»-Methode überzeugt: «Wenn man Kinder ständig korrigiert, nimmt man ihnen die Freude am Schreiben.» Er merke es bei seiner kleinen Tochter auch: «Wenn ich mir manchmal das Korrigieren nicht verkneifen kann, sehe ich sofort, dass es sie stört.» Natürlich müsse man einmal aufhören, jeden Rechtschreibefehler durchzulassen, doch dies müsse nicht gerade in der ersten oder zweiten Klasse geschehen.

Wenn er als Uni-Lehrbeauftragter mit Studenten zu tun habe, merke er manchmal auch, dass diese tendenziell mehr Fehler machen würden als früher. «Dafür sind sie inhaltlich klar stärker geworden.»

(www.20min.ch/schweiz/news/story/-Studenten-koennen-nicht-mehr-richtig-schreiben--15238578)


Onlineumfrage: Sollen Schüler so schreiben dürfen, wie sie sprechen?
Zwischenstand: ja 11 %, nein 87 %, weiss nicht 2 %
(7023 Teilnehmer)


Kommentar von www.20min.ch, 22. Januar 2015, verfaßt am 22.01.2015 um 21.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=715#10049

«Sonst vergeht die Lust am Schreiben»

In vielen Schulen dürfen Schüler so schreiben, wie sie sprechen. Der Zürcher Volksschuldirektor Martin Wendelspiess sagt, warum.

(Bildunterschrift: «Bei einem Aufsatz, wo die Fantasie im Vordergrund steht, zählt die Orthografie vielleicht nur am Rande», sagt der Zürcher Volksschuldirektor Martin Wendelspiess.)

Herr Wendelspiess, in der Primarschule dürfen je nach Lehrperson die Schüler so schreiben, wie sie sprechen. Rechtschreibfehler werden nicht korrigiert. Warum?

Die Ziele für die Rechtschreibung und Grammatik sind klar definiert. Wie aber diese Ziele erreicht werden, liegt in der Verantwortung der Lehrperson. Wenn sie will, kann sie die Schüler schreiben lassen, ohne Korrekturen vorzunehmen. Im Zentrum steht hier die Lust am Schreiben. Diese vergeht schnell, wenn ein Kind einen ganzen Text mit roten Korrekturen zurückbekommt. Die Feinjustierungen kommen dann später.

Kritiker befürchten aber, dass sich eingeschlichene Fehler nur noch schwer beheben lassen …

Es ist ja nicht so, dass die Kinder dauernd so schreiben dürfen, wie sie wollen. Bei einem Aufsatz, wo die Fantasie im Vordergrund steht, zählt die Orthografie vielleicht nur am Rande. Bei einem Diktat aber wird die gleiche Lehrperson streng auf die Rechtschreibung achten. Wichtig ist, dass das Kind weiss, in welchem Bereich welche Regeln gelten.

Prüfungsexperten stellen fest, dass Maturanden in der deutschen Sprache immer mehr Fehler machen. Wäre das mit einem strengeren Rechtschreibe-Regime nicht zu verhindern?

Ich glaube nicht daran, dass Schüler immer schlechter Deutsch können. Das ist Kulturpessimismus. Schon die Babylonier befürchteten vor 5000 Jahren, dass es der Jugend nie gelingen würde, ihre Kultur zu erhalten. Ich habe einmal von eine Studie gehört, in der Schüleraufsätze von heute mit Aufsätzen vor 40 Jahren verglichen wurden. Zwar machten die Schüler von heute tatsächlich mehr Rechtschreibfehler. Aber sie hatten einen viel grösseren Wortschatz, was das Resultat wieder relativiert. Würden wir tatsächlich immer schlechter deutsch schreiben, dann wären wir längst alles Analphabeten.

(dp)

(www.20min.ch/schweiz/news/story/28415733)



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