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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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18.08.2008
 

Nicht geliebt, aber angekommen

Zehn Jahre Rechtschreibreform: Die Schreibenden wünschen sich eindeutige Regeln. Dr. Matthias Wermke ist Leiter der Duden-Redaktion. Mit ihm sprach Birgit Eckes über die Bilanz nach zehn Jahren Rechtschreibreform.

Zehn Jahre Rechtschreibreform. Wie sieht Ihre persönliche Bilanz aus?

Die neue Rechtschreibung wird zwar nicht geliebt. Aber sie ist im Alltag angekommen, trotz aller Unkenrufe. Mittlerweile wird sie in den meisten Publikationen verwendet, sogar in der FAZ. Und eine ganze Schülergeneration hat sie auch schon durchlaufen.

Dennoch erinnern wir uns noch gut an den erbitterten Widerstand bei der Einführung.

Das war bei der Einführung der „alten“ Rechtschreibung Ende des 19. Jahrhunderts nicht anders. Im Übrigen war Anlass für die Rechtschreibreform von 1996 der anhaltende Unmut über die komplizierten „alten“ Regeln.

Diesmal wurde allerdings nachgebessert, zum Beispiel bei den Regeln für die Groß- und Kleinschreibung oder Zusammen- und Getrenntschreibung.

In beiden Bereichen hat es gewisse Irritationen gegeben, so zum Beispiel bei der Schreibung von Zusammensetzungen aus zwei Verbgrundformen. Die sollten grundsätzlich nur noch getrennt geschrieben werden (sitzen bleiben). Die Überarbeitung der Regeln lässt jetzt auch in bestimmten Fällen wieder die Zusammenschreibung zu (sitzen bleiben oder sitzenbleiben = nicht versetzt werden). Insgesamt führen die Nachbesserungen aber nicht zu einer Rückkehr zur alten Rechtschreibung.

Was jedoch zum weiteren Kritikpunkt wurde. Es gibt immer mehr verschiedene Schreibweisen für dieselben Wörter.

Es ist eine alte Erfahrung der Duden-Sprachberatung, dass die Ratsuchenden nicht von uns wissen wollen, wie sie ein Wort schreiben können, sondern wie sie es schreiben sollen. . . Sie suchen nach eineindeutigen Regeln. Varianten entsprechen diesem Bedürfnis einfach nicht.

War das ein Denkfehler der Reformatoren?

Vielleicht haben sie das Sicherheitsbedürfnis der Schreibenden unterschätzt.

Auch der Duden bietet zahlreiche verschiedene Schreibweisen an. Konnten Sie sich nicht entscheiden?

Der Duden setzt alle amtlichen Rechtschreibregeln konsequent um. Das führt in vielen Fällen zur Angabe mehrerer Schreibungen. Im Sinne der Benutzer kennzeichnen wir allerdings diejenige Schreibweise, die wir empfehlen. Das ist unser Beitrag zum Erhalt einer möglichst einheitlichen Rechtschreibung.

Sind weitere Änderungen zu erwarten?

Kurzfristig: Nein. Rechtschreibregeln setzen sich im Laufe der Zeit durch. Das kann zwei, drei Generationen dauern. . . Trotzdem sind sie nicht in Stein gemeißelt. Es ist sinnvoll, sie in größeren Abständen zu überprüfen.

Geht der Trend zur weiteren Individualisierung?

Schon vor 1996 konnte im Prinzip jeder schreiben, wie er wollte. „Korrektes“ Schreiben wird ja nur an den Schulen eingefordert. Klar ist aber, dass die Schulrechtschreibung ganz allgemein Vorbildfunktion hat. Das wird auch in Zukunft so bleiben.

Sind die Jungen heute schlechter in Rechtschreibung als die Alten?

Das kann man so nicht sagen. Vielleicht hatte es die Schülergeneration, die jetzt ins Berufsleben eintritt, in Sachen Rechtschreibung schwerer, weil auch ihre Lehrer anfangs noch verunsichert waren. Jetzt haben wir ein abgeschlossenes Regelwerk, und ich gehe davon aus, dass sich die Rechtschreib-Kompetenz nach und nach verbessert.

Was halten Sie von Anglizismen in der deutschen Sprache?

Seit es Menschen gibt, suchen sie Kontakt zueinander, handeln sie miteinander. Dabei ist es völlig natürlich, dass sie auch Wörter voneinander übernehmen. 25 Prozent unserer Standardwortschatzes stammen aus anderen Sprachen. Kiosk kommt aus dem Persischen, Alkohol aus dem Arabischen. Heute schöpfen wir aus dem Englischen. Vor 150 Jahren war es das Französische, aus dem wir Wörter wie Portemonnaie, Büro oder Trottoir übernommen haben. Vieles hat sich erhalten, anderes ist wieder verschwunden.

Wo würden Sie die Grenze ziehen?

Wörter aus fremden Sprachen sind dann willkommen, wenn sie unsere Ausdruckfähigkeit verbessern und unseren Wortschatz bereichern. Es ist durchaus ein Unterschied, ob ich von einem Gesicht oder einer Visage spreche. Wo Fremdwörter nur schmückendes Beiwerk sind oder die Verständigung erschweren, sind sie verzichtbar. Aber Achtung: Viele Fremdwörter sind Fachwörter und werden als solche gebraucht. Das gilt im Zweifel nicht für englischsprachige Werbesprüche. „Come in and find out“ - „Komm herein und finde wieder hinaus“ - oder was?

Trotzdem machen sich viele Menschen Sorgen um eine Unterwanderung ihrer Sprache. Sind das geheime Okkupationsängste?

Lassen Sie mich so antworten: In Österreich grassiert derzeit die Angst vor einer „Ver-Tschüssung“ der Sprache. Was passiert da? Das heimische „Servus“ wird immer häufiger durch „Tschüss“ ersetzt, anstelle von „Karfiol“ wird „Blumenkohl“ angeboten, das Wort „Tomate“ ersetzt öfter das traditionelle „Paradeiserl“. Hier ist der Aggressor nicht das Amerikanische, sondern unser gutes Deutsch. Und wie gehen wir damit um?

Ihre Fragen zur Rechtschreibung beantwortet Dr. Matthias Wermke morgen von 11-13 Uhr unter der Rufnummer (0221) 1632-222.


Quelle: Kölnische Rundschau
Link: http://www.rundschau-online.de/html/artikel/1218382117226.shtml


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Kommentare zu »Nicht geliebt, aber angekommen«
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Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 19.08.2008 um 10.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7323

Schon wieder die Behauptung, vor 1996 hätte es laute Klagen gegen die komplizierten Rechtschreibregeln gegeben. Kann jemand eine nennen, die damals öffentlich angesprochen wurde?


Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 19.08.2008 um 20.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7325

Angekommen sei sie also ...

Die Zeitungen haben Hausorthographien, was in den Schulen unterrichtet wird, hat der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, kürzlich berichtet (siehe Link), und laut Allensbachstudie lehnt der überwiegende Teil der Bevölkerung die Reform nach wie vor ab. Weiters festigen mehrere Studien den ohnehin vorhandenen Verdacht, daß die Fehlerzahlen in Folge der Reform statt gesunken gestiegen sind (was übrigens auch Tageszeitungslektüre täglich beweist). Und die Schweizer scheinen überhaupt im Begriff, sich abzukoppeln.

Wer oder was soll da also konkret wo angekommen sein?


Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 19.08.2008 um 20.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7326

Vielleicht liest Herr Wermke keine Zeitungen. So kann er also nicht sehen, was die Reform angerichtet hat.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.08.2008 um 15.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7329

"Unter Fachleuten stimmte man schon 1901 überein, daß die 2. Orthographische Konferenz nicht den Abschluß einer Reform markieren dürfe, sondern eigentlich den Anfang: Die Einheitlichkeit war erreicht, jetzt sollte die Vereinfachung kommen." So steht es im Duden-Taschenbuch "Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" von 1996.
Die Einheitlichkeit wurde durch die jetzige Reform zerstört, hier stehen wir wieder am Anfang. Eine Vereinfachungsreform, welche die Einheitlichkeit der Rechtschreibung zerstört hat, ist fehlgeschlagen. Auch daraus rühren die gestiegenen Fehlerzahlen. Die "-niss"-Fehler sind ein Rückfall in die Zeit vor 1901, als sehr häufig "-niß" gedruckt wurde.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 20.08.2008 um 22.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7330

Was auch immer damals verhindert hat, daß diese "Fachleute" ihr Vorhaben umsetzten: Es war segensreich.


Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 27.08.2008 um 17.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7341

Etwas ist noch nachzutragen: Ich hatte an Herrn Wermke geschrieben, am Tag nach dem Interview:

»Sehr geehrter Herr Dr. Wermke,

gestatten Sie eine schriftliche Anfrage, nachdem ich gestern bei der Telefonaktion der Kölnischen Rundschau nicht zum Zuge gekommen bin:
Wann kommt der "Jahrhundert-Duden"? In einem Gespräch vernahm ich, so etwas sei evtl. in Vorbereitung. Gemeint ist wohl ein Wörterbuch, das sozusagen die Schriftpraxis des ganzen 20. Jahrhunderts abschließend dokumentiert (denn ein solches, sehr wünschenswertes Werk existiert ja doch gegenwärtig nicht) und damit zugleich immer noch denen als Nachschlagewerk dienen könnte, bei denen die Reform nicht "angekommen" ist. Dieses Marktsegment ist sehr groß, wie aus einer Allensbach-Umfrage vor kurzem zu entnehmen war. Rechtlich wäre nichts einzuwenden gegen das Produkt, denn die Reformschreibung ist kein Gesetz und jeder außerhalb der Schulen ist frei, sie sagten es im Interview selbst, die herkömmliche Schreibweise zu verwenden - was ja eben sehr viele auch tun und weiterhin tun werden. Es ist wirklichkeitsfern, das anders zu sehen. Gleiches gilt auch für Ihre Software, die momentan nur fünf reformierte "Geschmacksrichtungen" bietet, aber nicht die traditionelle Schreibung. Da sagt sich jeder, der sowieso nicht reformiert schreiben will, naja, das Duden-Programm brauche ich nicht, da bleibe ich bei Word, wo ich immer noch die Wahl habe und das ohne Zusatzkosten. Ich mag nicht glauben, daß man gerade bei Duden aus ideologischen Gründen diesen Bedarf nicht decken will.

Sowohl aus kaufmännischer Sicht als auch aus Konsumentensicht wundert es mich deshalb außerordentlich, daß die besagte Marktlücke von Ihnen noch nicht geschlossen wurde, denn wer könnte das besser tun als eben Duden? Jede noch so kleine Marktlücke wird heutzutage eher früher als später entdeckt und von irgend jemand geschlossen, und diese ist nicht eben klein. Deshalb bin ich mehr als geneigt, der erwähnten Aussage zu glauben und wäre deshalb erfreut, wenn Sie dazu etwas sagen könnten.

Sicher, es gibt den Mackensen, und den schätze ich auch, aber er deckt ja nicht das ganze Jahrhundert ab bis zum Beginn der neuen, nunmehr gemischten Schreibpraxis. Auch der Duden von '91 tut das nicht, und er ist nicht mehr im Handel. Vielleicht könnten Sie wenigstens eine etwas aktualisierte Neuauflage davon machen?«


Er hätte darauf freundlich, aber nichtssagend replizieren können.
Doch er antwortet schnell und sagt viel:

»Sehr geehrter Herr E.,

schon Konrad Duden hat in seinem "Vollständigen Wörterbuch der deutschen Sprache" von 1880 nicht seine eigenen, sehr progressiven Vorstellungen davon, wie das Deutsche sinnvollerweise zu verschriften sei, umgesetzt. Vielmehr stützte er sich auf das preußische Regelwerk für den Schulunterricht, das sein Kollege Wilhelm Wilmanns im Auftrag des preußischen Kultusministers von Puttkammer erarbeitet hatte. So macht es die Dudenredaktion bis heute. Auch der Duden unserer Tage wendet nur das zum Erscheinungstermin geltende amtliche Regelwerk auf möglichst viele Stichwörter an. Wie Konrad Duden gehen wir davon aus, dass es die im Unterricht vermittelte und abverlangte Rechtschreibung ist, die letzendlich den allgemeinen Schreibgebrauch mittel- und langfristig steuert. Von daher ist nicht daran gedacht, ein Rechtschreibwörterbuch der von Ihnen beschriebenen Art zu publizieren.
Mit freundlichen Grüßen
ppa Dr. M.W.«


Lassen wir mal dahingestellt, wer hier was gesteuert hat und steuert. Interessant ist: er gibt eine fette Marktlücke ohne Not preis und dies sogar bekannt. Aber Verleger sind ja in erster Linie nicht Geschäftsleute, sondern Idealisten.


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 27.08.2008 um 18.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7342

Vermutlich ist dies der wunde Punkt beim heutigen Duden: Wirtschaftlich hat das Wörterbuch die Reform überlebt, indem es seinen normativen Anspruch aufgab (obwohl es auch eine andere Möglichkeit gegeben hätte). Zugleich ist seine Geltung die Voraussetzung für das weitere wirtschaftliche Überleben. Die (einigermaßen blödsinnige) Floskel von der allgemeinen Vorbildfunktion der Schulorthographie dient da zunächst nur als cache-misère.

Aber im Grunde verfolgt der Duden die gleiche Reklamestrategie wie vor der Reform, als es noch "Der Duden ist amtlich" hieß. Das war ein semantischer Trickbetrug: Nicht der Duden war amtlich, sondern die amtliche Rechtschreibung folgte dem Duden. Heute lautet die Formel "Der Duden richtet sich nach der Schule", derweil Lehrer und Schüler jedes Wort im Duden nachschlagen (so ähnlich jedenfalls von Dr. Matthias Wermke an anderer Stelle empfohlen).


Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.08.2008 um 19.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7343

Welcher Bürger, der keine Schulkinder oder Enkel zu betreuen hat, kauft sich die neueste Rechtschreibung, außer er braucht sie beruflich? Meinetwegen soll er "Senioren-Rechtschreibduden" heißen. Es scheint aber, daß der Verlag auf die Buchhändler erfolgreich Druck ausübt, Rechtschreibwörterbücher der bisherigen Rechtschreibung nicht einmal als Bückware, sondern nur auf Bestellung anzubieten.


Kommentar von David Weiers, verfaßt am 28.08.2008 um 08.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7344

Eine Frage, die mir gerade so in den Sinn komm:
Können die Reformeiferer ohne amtlichen Stempel nicht schreiben oder wollen sie es nicht?

Das ist auch anwendbar auch auf den Duden-Verlag; ob der ohne amtlichen (Schein-)Stempel nichts drucken will, wage ich aber zu bezweifeln: ich glaube, der kann wirklich nicht anders. Hat schon was von einem anankastischen Syndrom, wie ich finde...


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 28.08.2008 um 11.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7345

Lieber Herr Weiers,

der amtliche Stempel entbindet zunächst einmal vom anstrengenden Gebrauch des eigenen Gehirns, wobei natürlich gerne übersehen wird, daß manche Organe auch verkümmern können, wenn sie zu selten gebraucht werden. Sodann entbindet er von jeglicher Verantwortung. Und das ist doch eigentlich schon wieder etwas sehr Schönes. Diese Blockwart-Mentalität ist als verleugneter und ungeliebter Bruder immer noch weit verbreitet in Deutschland. Nach der Wiedervereinigung mischte sich dann das ostdeutsche informelle Schwesterchen dazu und gemeinsam konnten die Geschwister wiederbeleben, was zumindest im Westen über die 60er, 70er und 80er Jahre langsam wegen Nichtbeachtung abstarb. Nur so kann ich mir jedenfalls den Feuereifer erklären, mit dem etwa Eltern Schulbüchereien säubern oder der Duden-Verlag geradezu stolz auf seine Ignoranz ist.

Dazu noch eine Stimme aus der Vergangenheit, die das so oft zitierte deutsche Wesen leider immer noch allzu zeitlos trifft:

„Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den Märchenkröten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man schrie – nach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule. Diederich betrat sie heulend, und auch die Antworten, die er wußte, konnte er nicht geben, weil er heulen mußte. Allmählich lernte er den Drang zum Heulen gerade dann auszunutzen, wenn er nicht gelernt hatte – denn alle Angst machte ihn nicht fleißiger oder weniger träumerisch – und vermied so, bis die Lehrer sein System durchschaut hatten, manche üblen Folgen. Dem ersten, der es durchschaute, schenkte er seine ganze Achtung; er war plötzlich still und sah ihn, über den gekrümmten und vors Gesicht gehaltenen Arm hinweg, voller Hingabe an. Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben und willfährig. Den gutmütigen spielte er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmte. [...]
Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.“

Heinrich Mann: Der Untertan, 1918. Obiger Abschnitt wurde bereits 1914 vorabgedruckt. Genaue Nachweise auf Anfrage.


Kommentar von jueboe, verfaßt am 28.08.2008 um 14.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7347

Der amtliche Anstrich ist die Existenzgrundlage des Dudens.

Fast in jeder Amtsstube und fast in jedem Büro in der freien Wirtschaft findet man die Bücher mit den gelben Deckeln. Sie stehen dort, weil es "von oben" so angeordnet wurde und weil sie deshalb auf Behörden-/Firmenkosten für alle Beamten/Sachbearbeiter angeschafft wurden. Schließlich sollen alle im Hause "amtlich" korrekt (oder falsch) schreiben.

Ganz nebenbei: ich habe mir angewöhnt, bei solchen Duden auf Gebrauchsspuren zu achten. Auf dem schneeweißen Papier sieht man Gebrauchsspuren - bzw. deren Abwesenheit - nämlich besonders gut. Die meisten dieser Duden sehen aus, als wären sie am Vortag erst angeschafft worden.


Kommentar von Dr. Maria Theresia Rolland, verfaßt am 29.08.2008 um 11.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#7349

Leserbrief in der Kölnischen Rundschau,29.8.2008, S.24 (Im Anschluß an den gekürzten Leserbrief ist das Original angefügt.)
Jetzt rede ich!
"Keineswegs angekommen!"

Duden-Redaktionsleiter Matthias Wermke sagte im Rundschau-Interview, die Rechtschreibreform werde von den Deutschen inzwischen mehrheitlich akzeptiert. Diese Leserin widerspricht entschieden:

1. Die Rechtschreibreform ist objektiv keineswegs "im Alltag angekommen". Nach der jüngsten Allensbach-Umfrage vom April 2008 bejahen nur neun Prozent der Bevölkerung die Reform, 55 Prozent dagegen lehnen sie ab.
2. Keineswegs war der Anlass für die Rechtschreibreform von 1996 "der anhaltende Unmut über die komplizierten alten Regeln". Vielmehr wurde die "Reform" 1972 in der DDR begonnen und später dann in der Bundesrepublik aufgegriffen, um nicht auch noch in der Orthographie eine Zweistaatlichkeit herbeizuführen. Mit dem Mauerfall bestand diese Sorge nicht mehr, und man hätte das Reformvorhaben ersatzlos streichen können. Statt dessen haben die Professoren, die den offiziellen Auftrag von der Kultusministerkonferenz hatten, ihre eigenen "Liebhabereien" realisiert und letztendlich Schreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts als "neu" verkauft.
3. Es gibt durchaus nicht "oftmals" (Wermke) verschiedene Schreibweisen für dieselben Wörter, da gegebenenfalls andere Schreibungen andere Wörter meinen. Zum Beispiel meint "jemanden kaltstellen" so viel wie "jemanden seines Einflusses berauben". Dagegen meint "kalt stellen": "eine Speise zum Abkühlen stellen". Die Dudenschreibung auch hierfür in einem Wort ("kaltstellen") ist falsch: Man kann nicht zum Beispiel einen Pudding seines Einflusses berauben.
4. Da die Schweiz im Hinblick auf das sprachlich Korrekte schon kräftig ändert - mit dem Ziel, die "von der Rechtschreibreform beschädigte Einheitlichkeit und Sprachrichtigkeit der Rechtschreibung ... in der Schweiz wiederherzustellen" (Schweizer Orthographische Konferenz), sollten wir in Deutschland nachziehen. Erst wenn die Falschschreibungen eliminiert sind, kann sich die Sprache wieder "normal"entwickeln und natürliche Weiterentwicklungen aufnehmen.
5. Schüler machen heute doppelt so viele Fehler wie vor der "Reform", wie auf der Jahrestagung der "Forschungsgruppe Deutsche Sprache" im Juli 2008 dargelegt wurde. Die Älteren und alle, die die "Reform" ablehnen, schreiben dagegen unreformiert und sprachlich korrekt, also nach den immanenten Gesetzmäßigkeiten der deutschen Sprache, wie es Wortschatz und Grammatik erfordern.
Dr. Maria Theresia Rolland

Original-Leserbrief:
Hier irrt Wermke!
Die folgenden Klarstellungen dienen dazu, den Leser der Kölnischen Rundschau nach der "persönlichen Bilanz" von Matthias Wermke bezüglich der sog. Rechtschreibreform nach 10 Jahren nunmehr mit den Fakten bekanntzumachen.

1. Die Rechtschreibreform ist objektiv keineswegs "im Alltag angekommen". Nach der jüngsten Allensbach-Umfrage vom April 2008 bejahen nur 9 Prozent der Bevölkerung die Reform, 55 Prozent dagegen lehnen sie ab. Der Protest in Deutschland ist nach wie vor ungebrochen – wie es im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel heißt (31.07.2008). In der FAZ wird nur eine abgemilderte Reformschreibung verwendet, in der bewußt sehr schlimme Fehler der "Reform" vermieden werden.

2. Keineswegs war "Anlass für die Rechtschreibreform von 1996 der anhaltende Unmut über die komplizierten ´alten´ Regeln." Vielmehr wurde die "Reform" 1972 in der DDR begonnen, später dann in der Bundesrepublik aufgegriffen, um nicht auch noch in der Orthographie eine Zweistaatlichkeit herbeizuführen. Mit dem Mauerfall 1989 bestand diese Sorge nicht mehr, und man hätte das Reformvorhaben ersatzlos streichen können. Statt dessen haben die Professoren, die den offiziellen Auftrag von der Kultusministerkonferenz (KMK) eingeholt hatten, ihre eigenen "Liebhabereien" (Volksethymologie, Getrennt-/Zusammenschreibung usw.) realisiert und letztlich Schreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts der Bevölkerung als "neu" verkauft.

3. Es gibt durchaus nicht oftmals verschiedene Schreibweisen für dieselben Wörter, da ggf. andere Schreibungen andere Wörter meinen, z.B. meint: "jemanden kaltstellen" soviel wie: "jemanden seines Einflusses berauben" (Wahrig), dagegen meint in 2 Wörtern: etwas "kalt stellen": eine Speise zum Abkühlen stellen. Die Dudenschreibung auch hierfür in einem Wort: "kaltstellen" ist falsch: Man kann nicht eine * "Speise, z.B. einen Pudding, seines Einflusses berauben".

4. Die Duden-Empfehlungen zielen zwar auf Einheitlichkeit ab, aber oftmals auf die sprachlich falsche Schreibung.

5. Da die Schweiz schon kräftig ändert im Hinblick auf das sprachlich Korrekte (vgl.: Schweizer Orthographische Konferenz – SOK), mit dem Ziel, "die von der Rechtschreibreform beschädigte Einheitlichkeit und Sprachrichtigkeit der Rechtschreibung in Presse und Literatur der Schweiz wiederherzustellen" (Urs Breitenstein/ SOK), sollten wir in Deutschland nachziehen. Erst wenn die Falschschreibungen eliminiert sind, kann sich die Sprache wieder "normal", also sprachgerecht, entwickeln und die natürlichen Änderungen bzw. Weiterentwicklungen aufnehmen.

6. Im Prinzip hat sich vor der Reform jeder bemüht, sprachlich korrekt zu schreiben, also so, wie der Sprachgebrauch seinerzeit im Duden "festgehalten" war, nicht wie er nunmehr durch die Reform "künstlich festgelegt" ist.

7. Schüler machen heute doppelt so viele Fehler wie vor der "Reform", wie Uwe Grund auf der Jahrestagung der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS) in Stuttgart am 26. Juli 2008 dargelegt hat. Die Älteren und alle, die die "Reform" ablehnen, schreiben dagegen unreformiert und daher sprachlich korrekt, also nach den immanenten Gesetzmäßigkeiten der deutschen Sprache, wie es Wortschatz und Grammatik erfordern.

8. Man muß sinnvolle Fremdwortübernahme unterscheiden von den sprachlich falschen Anglizismen, z.B.: "downgeloadet" statt: "heruntergeladen".

Zum 10. Jahrestag der offiziellen Einführung der "Reform" am 1.8.2008 hat die Presse eine "Bilanz" gezogen – um 3 Beispiele herauszugreifen: "Geschichte eines Scheiterns" (Badische Zeitung), "Die Diktatur beim Diktat" (Der Standard), "Laufende Reparaturarbeiten" (Frankfurter Rundschau). Die Titel sprechen für sich!
Dr. Maria Theresia Rolland


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.07.2016 um 05.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=602#10526

Von allen Seiten wird versichert, die Rechtschreibreform sei "angekommen". Daran mußte ich wieder denken, als ich folgendes las:

Laut Statistischem Bundesamt studieren drei Viertel der 2,7 Millionen Studenten auf Bachelor oder Master. Die Reform für kürzere Studienzeiten, europaweite Vergleichbarkeit und Mobilität, ist also angekommen. Aber 28 Prozent brechen das Bachelor-Studium ab. (Focus 15.7.16)

Wenn man etwas durchsetzt, ohne Ausweichmöglichkeit, wird man nach einiger Zeit sagen können, es sei angekommen.

(So sind auch Haushaltsabgabe und Semesterticket angekommen...)



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