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08.04.2006
 

Stefan Stirnemann
Zwischen lokaler Identität und nationaler Kohäsion

Ein Forum ist in römischer Zeit der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Es ist der Markt, wo Münzen auf harte Tische gezählt werden, und der Platz für Bürgerversammlungen und Gerichtsverhandlungen.

Der Römer Varro nennt es einen Ort, zu dem die Leute ihre Auseinandersetzungen (controversia) hintragen können. Das Forum Helveticum gibt mit Heft 15 seiner Schriftenreihe einer Auseinandersetzung Raum, die schon lange an der Zeit ist: «Dialekt in der (Deutsch-) Schweiz – Zwischen lokaler Identität und nationaler Kohäsion (2005).» Der Band bietet Beiträge von 27 Autoren und zahlreiche kurze Stellungnahmen von Schülern; die Redaktion hatten der Präsident des Forums, alt Bundesrat Arnold Koller, und der Geschäftsführer Paolo Barblan. Je drei der Betrachtungen sind französisch und italienisch geschrieben, den italienischen ist eine französische oder deutsche Zusammenfassung beigefügt.

Koller und Barblan zeichnen einleitend den Stand der Auseinandersetzung und das Ziel der Veröffentlichung: die zunehmende Verwendung der Mundart in der Schule werde verantwortlich gemacht für die abnehmenden Fähigkeiten im Hochdeutschen. Mundart werde vermehrt auch geschrieben, etwa von Jugendlichen in ihren elektronischen Nachrichten. Das Schwinden der Schriftsprache schwäche den staatlichen Zusammenhalt und gefährde den Austausch mit dem deutschen Sprachraum. In dieser Lage will das Forum Helveticum einerseits den «Fragen um Identität und nationale Kohäsion» nachgehen, anderseits den Standort des Dialekts in der Deutschschweiz bestimmen, und lässt Vertreter vieler Bereiche zu Wort kommen: aus Sprachwissenschaft, Politik, Medien, Werbung, Kirche, Migration, Literatur, Popmusik und vor allem aus der Schule.

Bemerkenswert sind in erster Linie die berechtigten Sorgen der lateinischen Schweiz. Alt Nationalrat Fulvio Caccia schreibt: «Les interlocuteurs alémaniques répondent de plus en plus souvent en dialecte à leurs compatriotes latins, souvent sans se rendre compte du problème que cela pose.» Er stellt auch fest, dass Radio und Fernsehen der deutschen Schweiz zunehmend in Mundart senden. Zwei Schülerstimmen: «Wieso mögen die heutigen Jugendlichen Mundart lieber als Hochdeutsch? Ein Grund ist sicher, dass Hochdeutsch die Sprache der Schule ist, und wie allgemein bekannt ist, mögen die jungen Leute die Schule nicht besonders» (Laura, 15, Gymnasium). «Im Dialekt fühlt sich meine Zunge einfach viel wohler als im Hochdeutsch» (Liem, 16, Gymnasium). Ähnlich empfindet es Hans Stöckli, Nationalrat und Stadtpräsident von Biel: «Leider gehöre auch ich zu diesen Schweizerinnen und Schweizern, die sich mündlich nur sehr ungern in Hochdeutsch äussern. Zweifel an meiner Sprachkompetenz, an der Tonalität und an der präzisen Ausdrucksweise im gesprochenen Hochdeutsch führen dazu, dass ich lieber Französisch als Hochdeutsch spreche.» Wenn Hochdeutsch verschmäht und der Unterricht in den anderen Landessprachen abgebaut wird, so bleibt für die Verständigung über die Sprachgrenzen hinaus das Englische.

Moreno Bernasconi, Vizedirektor des «Giornale del Popolo» sieht die Zukunft so: «Ces éléments portent à penser que la Suisse alémanique tend vers une sorte de diglossie dialecte/anglais qui se ferait au détriment du plurilinguisme helvétique.» Carli Tomaschett, Chefredaktor des «Institut Dicziunari Rumantsch Grischun» verweist darauf, dass an den Bündner Sekundarschulen das Englische das Französische abgelöst habe und dass Italienisch nach wie vor nicht verpflichtendes Fach sei: «Die Schulpolitik der Bündner Behörden dürfte folglich zu einer Schwächung der nationalen Kohäsion führen.»

Ein zweiter Ausschnitt aus dem reichen Inhalt. Der Freiburger Linguist Walter Haas gibt mit einer anspruchsvollen Begriffsunterscheidung die theoretische Grundlage der Auseinandersetzung; der feurige Mundartspezialist und Radioredaktor Christian Schmid zeigt die Entwicklung der Mundartliteratur; der Musikjournalist Bänz Friedli führt unter dem Titel «Himmuherrgottstärnenabenang!» in die Welt des Mundartpops ein; Basil Schader, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHS), bestimmt den Einfluss der Mundart bei der Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund.

In Rom durfte öffentlich auftreten, wer reden konnte; der Politiker musste Redner sein. Für den Medienspezialisten Roy Oppenheim ist der Alemanne «an sich schon in Rhetorik eher unbeholfen» – wie schreiben die Alemannen dieses Hefts? Die trockene Sprache wissenschaftlicher und politischer Betrachtung überwiegt. Was ist ein «vernakularkulturalistisches Integrationsverständnis»? Sprachliche Versehen kommen vor: «Dem Effekt hat sich noch keine Studie angenommen.» Die Rechtschreibung befindet sich in dem Durcheinander, das im Zeitalter immer neuer Vereinfachungen zu erwarten ist. Der Band gibt aber nicht Anlass zum Beckmessern, sondern zum Danken. Er verdient, sorgfältig gelesen und auf allen Foren beredt besprochen zu werden. Die Ergebnisse des Gesprächs sind natürlich in Lehrpläne für alle Schulstufen umzusetzen. Aber damit die Dinge lebendig werden, müssen Lehrer und Schüler Freude an ihnen haben. Mit Recht nimmt Marianne Sigg, Dozentin an der PHS, die Freude am Hochdeutschen in ihre Bausteine für den Kindergarten auf. Alle unsere Sprachen, die Landessprachen und die Mundarten, haben ihr Recht. Das Wiederfinden eines Gleichgewichts unter ihnen ist Sache verantwortungsvoller Politik.

(Mitteilungen des Sprachkreises Deutsch 1/2006)



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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 09.04.2006 um 09.36 Uhr  
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Wieso nehmen eigentlich so viele Leute an, daß, wer die sog. "Standardsprache" von vornherein spricht, sie also sozusagen in die Wiege gelegt bekommt, sein Leben lang einen Vorteil hätte, den Dialektsprecher nie aufholen könnten? Ich meine, es ist ein Vorteil, einen Dialekt als Muttersprache zu sprechen und sich zusätzlich einen Standard zu erwerben, um vor einer größeren Öffentlichkeit auftreten zu können und da auch verstanden zu werden. Wie jeder Erwerb einer Fremdsprache die eigene Bildung bereichert, so bereichert auch der Erwerb eines Standards die eigene Bildung, auch wenn das nicht jedem gleich offensichtlich ist. Benachteiligt sind zu einem gewissen Grade die, denen ein Aufwachsen in einem Dialekt durch "bildungsbeflissene" Familienkultur oder auch manchmal geographisch verwehrt ist; sie lernen nie das Urige, das Eigentliche in ihrem Herkunftsbereich kennen. Und das ist sogar eine Schwäche. Das öffentliche Schulsystem allerdings soll die Heranwachsenden auf das Leben in einer größeren Öffentlichkeit vorbereiten. Gute öffentliche Erziehung hier zerstört nicht, was durch Elternhaus und lokale Kultur gewachsen ist, sondern lehrt zusätzliches Wichtiges. Daß nur die "im Leben weit kommen", die nur das wissen, was in der öffentlichen Schule gelehrt wurde, mag ja für die stimmen, die halt einseitig immer gleich genau wissen, was einzig "im Leben weit kommen" beinhaltet und wie das einzig vor sich geht. Ich bin mir da nicht so sicher. Aber ich meine, es ist die *Erweiterung* der eigenen Mitteilungsfähigkeit, die positiv zum Leben einer größeren Gemeinschaft unter den Menschen beiträgt, nicht das Bestehen allein auf dem, was die Natur einem schon als Kind sprachlich angeeignet hat, — besonders wenn das in einem in allem nur hyperkorrekt sprechen müssenden Elternhaus stattfand.




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