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28.10.2005
 

Stefan Stirnemann
Die schöne Haut der Sprache
Horst Haider Munske weiß, warum wir schreiben, wie wir schreiben

»Am heutigen Freitag tritt der Rat für Rechtschreibung in Mannheim ein weiteres Mal zusammen.
Er bespricht die Silbentrennung und die Kommasetzung. Die Unbrauchbarkeit der betreffenden Regeln ist zwar längst bekannt, aber dieser Umstand ist bis zu den verantwortlichen Politikern offenbar noch immer nicht vorgedrungen. Da könnte das neue Buch von Horst Haider Munske Abhilfe schaffen. Es ist ein Zaubermittel, denn es verhilft zum klaren Blick.

Sein Lob der deutschen Rechtschreibung hat Horst Haider Munske zuerst in dieser Zeitung angestimmt (F.A.Z., 4. Oktober 2004). Er lobte sie, weil sie das Lesen leicht und das Schreiben nicht schwer mache, er lobte ihre Einheitlichkeit, ihr Alter, ihre Geschichte und besonders ihre Kraft, zahllosen Reformversuchen zu widerstehen. Er fand ein neues Bild für sie: Rechtschreibung ist nicht das Kleid, das ein Schneider nach der Tageslaune zuschneidet und ändert; sie lebt und entwickelt sich mit der Sprache als ihre schöne und zweckmäßige Haut. Wegen des dichterischen Schwungs vieler Sätze nannte der Dichter Reiner Kunze in seiner Zürcher Rede dieses Lob ein „Hohelied auf die Haut der Sprache“.

Nun hat der Erlanger Gelehrte das, was er vor einem Jahr auf knappen Zeitungszeilen vorführte, zu einem handlichen Büchlein ausgestaltet. Es trägt den Untertitel: „Warum wir schreiben, wie wir schreiben“, und mit unsichtbaren Buchstaben steht hinter diesem Untertitel: „Warum wir weitgehend nicht so schreiben, wie es Reformer immer wieder wollten.“ In den Mittelpunkt dieser Frage führt das Kapitel „Rechtschreibung für Leser“: „Unsere Orthographie ist eine Leseschrift. Differenzierungen für Leser sind zumeist Erschwernisse für Schreiber. Dies ist in Jahrhunderten entwickelt und akzeptiert worden.“

Die Mühen der Schreiber zeigt Munske an den „Laut-Buchstaben-Beziehungen“. Hat man die Laute und ihre Zeichen auf zwei Gliedern ausgerichtet vor sich und mustert sie, so schaut man eine Überfülle möglicher und wirklicher Beziehungen zwischen ihnen. Das lange i etwa tritt in „Riese“, „ihm“, „sieht“, „Bibel“ so vielgestaltig auf, daß der Wunsch begreiflich ist, Ordnung zu befehlen: Weg mit allen Dehnungszeichen! So wollte es Konrad Duden, und wenigstens die Doppelvokale wollten 1989 auch die Reformer noch weghaben.

Munske befiehlt nichts, er versucht zu verstehen. Er möchte zeigen, daß das, was dem Schreiber Schwierigkeiten macht, dem Leser das Verstehen erleichtert. Seine Haupterkenntnis ist, daß unser Schreibsystem von ‚unsichtbarer Hand’ in dieser Richtung verändert wurde: „Kein Drucker und kein Minister, kein Verleger und kein linguistisch motivierter Reformer kann dafür verantwortlich gemacht werden.“ Dies gilt auch für die weiteren Bereiche, die Munske vorstellt, zum Beispiel: Die Stammschreibung; Das Kummerwörtchen ‚daß’; Das ß; Fremdwörter.

An Beispielen aus zwei Kapiteln sei Munskes Haltung näher erläutert. Erstens aus dem Kapitel „Groß oder klein?“ Im Sinne der Neuregelung soll dem Schreiber die sogenannte Artikelprobe Sicherheit geben. Ein Substantiv, groß zu schreiben, soll daran erkannt werden, daß die Verbindung mit einem Artikel möglich oder sinnvoll ist. Das ist eine Eselsbrücke, also eine Brücke für Esel, und der Esel muß zudem noch überlegen, ob er die Brücke betreten darf. Beim Superlativ ‚am besten’ darf er nicht: der Artikel ist zwar da, aber das Wort hält sich geduckt. Und will er mit ‚ich bin dir gram’ über den Fluß und schreibt ‚Gram’, so bricht er ein und säuft ab. Munske hat keinen Sinn für Eseleien; er zeigt an Verbindungen wie „die zwei“, „der eine und der andere“, „des öfteren“, daß der Artikel noch weitere Aufgaben hat, als Hauptwörter zu grüßen.

Worum es geht, macht Munske mit den folgenden Sätzen besonders deutlich: „Das nehme ich dir nicht im geringsten übel. – Auch der Geringste hat Anspruch auf ärztliche Hilfe.“ Erklärung: „Im zweiten Satz liegt echte Substantivierung des Superlativs von ‚gering’ zur Bezeichnung von Personen vor, im ersten dagegen haben wir eine versteinerte Wendung vor uns, die mit dem Negationswort ‚gar nicht’ synonym ist. Diese Parallelität führt zur Kleinschreibung.“
Sichtet man solche ‚versteinerten Wendungen’ in den Wörterverzeichnissen und Grammatiken verschiedener Zeiten, so findet man, daß sie gebildet und gebraucht werden, sich halten oder verschwinden. Munske schreibt dazu: „In allen diesen Fällen geht es darum, daß die Rechtschreibung den Sprachwandel zu festen phraseologischen Einheiten nachvollzieht und dafür eine pragmatische Lösung findet, die bei abgeschlossener Entwicklung eine Schreibung fixiert, in Fällen des Übergangs aber angemessene Varianten zuläßt.“ Dieses Begleiten des Sprachwandels macht, wie Munske sagt, eine „regelmäßige Anpassung im Sinne einer orthographischen Sprachpflege nötig“. Hier, wie überall, wo echtes Leben ist, gibt es keine einfache Regel.

Zum zweiten aus dem Kapitel „Getrennt oder zusammen?“ Hier bespricht Munske, um eine ‚oft mißverstandene Regel’ zu klären, zwei Sätze: „Die Versammlung ist nicht öffentlich“ und „Dies ist eine nichtöffentliche Versammlung.“ In Frage steht § 36 E2(1) der amtlichen Regelung (Fassung vom Juni 2004): „Lässt sich in einzelnen Fällen keine klare Entscheidung für Getrennt- oder Zusammenschreibung treffen, so bleibt es dem Schreibenden überlassen, ob er sie als Wortgruppe oder als Zusammensetzung verstanden wissen will, zum Beispiel: ‚nicht öffentlich’ (Wortgruppe) / ‚nichtöffentlich’ (Zusammensetzung).“ Munske meint dazu: „Man kann nicht sagen, das Wort würde (unlogischerweise) einmal zusammen, einmal getrennt geschrieben.“ Er hält sich auch hier an die Sprachwirklichkeit, in welcher es die Zusammensetzung ‚nichtöffentlich’ gibt (Munske vergleicht ‚undeutlich’) und die Wörter ‚nicht’ und ‚öffentlich’, die im Satz nebeneinander stehen können. Die Wahl ist nicht frei, es kommt auf den Sinn an, den man ausdrücken will. Soweit die Beispiele.

Horst Haider Munske hat ein durch und durch lesenswertes Büchlein geschrieben, ein Büchlein der Freiheit. Er vertritt mit ihm die Freiheit der Sprache und stellt sich so, ohne es eigentlich zum Ziel zu haben, gegen die Regelungswut der Rechtschreibreform. Das Büchlein verlangt Arbeit; es ist nicht leicht zu lesen. Hie und da ist man anderer Meinung, aber das fördert die Freiheit – in einem freien Gespräch, das kein Politiker oder Schulbuchverleger entscheiden darf.

Horst Haider Munske: „Lob der Rechtschreibung“. Warum wir schreiben, wie wir schreiben. Verlag C.H.Beck, München 2005. 141 S., br., 9,90 €«


( F.A.Z., 28. Oktober 2005, Seite 38 )



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Kommentar von perlentaucher.de, verfaßt am 06.11.2005 um 20.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=352#2247

Rezensionen - Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.10.2005
Rundum glücklich ist Rezensent Stefan Stirnemann mit Horst Haider Munskes Buch "Lob der Rechtschreibung". Er sieht darin "ein Zaubermittel", das zu einem klaren Blick verhelfe. Überzeugt hat ihn, dass Munske nichts befiehlt,sondern versucht zu verstehen, "warum wir schreiben, wie wir schreiben". Dem Autor gehe es darum zu zeigen, dass das, was dem Schreiber Schwierigkeiten macht, dem Leser das Verstehen erleichtert. Als seine Haupterkenntnis hält Stirnemann die Einsicht fest, dass unser Schreibsystem von "unsichtbarer Hand" in diese Richtung verändert wurde. An Beispielen aus zwei Kapiteln erläutert Stirnemann die Haltung Munskes näher. Er vertrete mit seinem "Lob der Rechtschreibung" die Freiheit der Sprache und stelle sich so gegen die Regelungswut der Rechtschreibreform. Abschließend würdigt Stirnemann dieses "Büchlein der Freiheit" als "durch und durch lesenswert".



Kommentar von Frankfurter Rundschau, 10. 1. 06, verfaßt am 01.06.2006 um 19.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=352#4101

DAS KLEINE PLUS

Anders als den Schulkindern, denen natürlich erst einmal eine solide Grundlage von "Richtig" und "Falsch" eingetrichtert werden muss, eröffnet das seit Jahren sich dahin schleppende Rechtschreibchaos uns Erwachsenen ein gerüttelt Maß an köstlicher und harmloser Anarchie. Früher waren wir Pendanten - heuten sagen wir: Ach, was soll's? Denn die aufwändige Suche der Reformer nach Wortursprüngen und daraus vermeintlich folgender Rechtschreiblogik treibt Leser und Schreiber nur allzu oft an die Grenzen des Absurden, und darüber hinaus. Noch viel tiefer in die Geschichte der Rechtschreibung taucht aber Horst Haider Munske ein, und plötzlich ergibt alles wieder einen Sinn: warum wir Schlange und Schnee schreiben, nicht aber Schtein und Schpiegel. Wie es zum daß kam. Warum es manchmal ein einziger Buchstabe tut (Gebet) und man manchmal zwei Vokale braucht: das Beet. Dass man alles erklären kann, heißt nicht, dass es "logisch" ist. Und logisch braucht Schrift auch nicht zu sein! Grundsätzlich tragen alle "natürlichen Orthographien", schreibt Munske, ". . . Züge ihrer Entstehung und ihrer eigenständigen Entwicklung und sind darum niemals auch nur annähernd ideal konstruiert. Aber sie funktionieren,... sie werden gelernt, gelesen und geschrieben. Dafür sind sie zu loben und nicht zu bemäkeln." sez

Horst Haider Munske: Lob der Rechtschreibung. Warum wir schreiben, wie wir schreiben. Verlag C.H. Beck, München 2005, 142 Seiten, 9,90 Euro.

(Frankfurter Rundschau, 10. Januar 2006)



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