zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Diskussionsforum Archiv Bücher & Aufsätze Verschiedenes Impressum      

Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

Die neuesten Kommentare


Zur vorherigen / nächsten Nachricht

Zu den Kommentaren zu dieser Nachricht | einen Kommentar dazu schreiben


21.03.2005
 

Die Drohkulisse steht

Das Wörtchen „verbindlich“ wird uns diesen Sommer noch häufiger begegnen.

Die ersten Geschäftemacher versuchen schon jetzt zu suggerieren, daß die Befolgung der Amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung ab dem 1. August für jedermann verpflichtend sei. Der Anbieter akademie.de zum Beispiel schreibt: "Zum 01. August 2005 wird die neue deutsche Rechtschreibung amtlich. Die neuen Regeln sind dann für alle verbindlich. Nun wird es höchste Zeit, nach vorne zu blicken, sich modern und lernfähig zu zeigen." Bezeichnenderweise räumt man aber auch ein: "Wegen des jahrelangen Reformstreits verharren viele noch im inneren Lernstreik gegenüber den neuen Regeln." Im Lernstreik scheinen sich auch einige Mitarbeiter von akademie.de selbst zu befinden. So heißt es auf der Seite "Über uns" sehr frei nach Heyse: "Zum Wissenspool von akademie.de gehören einschliesslich des Net-Lexikons inzwischen fast 100.000 Webseiten. [...] Als akademie.de-Mitglied geniessen Sie außerdem erhebliche Preisvorteile bei externen Dienstleistern und bei unseren Online-Workshops, die Sie auch ohne Mitgliedschaft buchen können."



Diesen Beitrag drucken.


Kommentare zu »Die Drohkulisse steht«
Kommentar schreiben | neueste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben

Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 21.03.2005 um 09.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#473

Die "Akademie" bringt es auf den Punkt: Es gehe darum, "sich modern und lernfähig zu zeigen" – egal, was die "Reform" vorschreibt. "Lernen" steht hier beschönigend für 'Mitlaufen', und Mitläufer haben's, wie man wieder sieht, nicht leicht: Wenn sie ihren Herren gehorsam vorauseilen, bekommen sie oft genug nicht mit, daß jene hinter ihnen längst abgebogen sind …


Kommentar von David, verfaßt am 21.03.2005 um 13.45 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#476

Es ist immer wieder erstaunlich, wieviele Mitglieder der Sprachgemeinschaft sich einschüchtern bzw. verplanen lassen: Man trifft immer wieder eine ganze Reihe von Leuten an (mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, aus nahezu allen Sparten), die zwar eher hilflos, aber dafür manches Mal auch erschreckend entschlossen die Meinung vertreten, daß die RSR für alle verbindlich sei, ja sogar Gesetzescharakter habe. Leichtes Spiel für Politiker.
Daß es unter ihnen auch sehr viele gibt, die sich (eher schlecht als recht) an die "neuen Regeln" halten, sie aber trotzdem als störend empfinden, macht die Sache nicht besser: der gute Deutsche meckert eben nicht, er gehorcht.
Die Obrigkeit muß das verstörte Volk dann nur noch mit Floskeln wie "modern und lernfähig" ködern - so etwas nennt sich dann auch Propaganda.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 21.03.2005 um 14.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#477

Vom "amtlichen Regelwerk" spricht man bislang nur beim Duden und bei Bertelsmann, dort freilich in penetranten Wiederholungen und sogar gekoppelt mit "allgemein verbindlich". Aus der Zusammensetzung des Rates für deutsche Rechtschreibung, in dem ja keineswegs nur Lehrerverbände, Deutschdidaktiker und Schulbuchverlage vertreten sind, könnte man jedoch in der Öffentlichkeit leicht den Schluß ziehen, aus dem "Vorbildcharakter" sei längst die "Allgemeinverbindlichkeit" geworden.

Wenn freilich Bertelsmann demnächst dem neuesten Duden folgt und die "Altschreibungen" ganz wegläßt, steht die Allgemeinheit tatsächlich ohne ein weitverbreitetes Wörterbuch mit den üblichen Schreibungen da, was allerdings nicht ganz zutrifft. Die meisten "Neuschreibungen" werden ab 1. 8. 2005 von ebenfalls zulässigen "Varianten" begleitet sein, die sich durch die Bank als die traditionellen Schreibungen entpuppen. Die Unterscheidung zwischen "alt" und "neu" wird sich im wesentlichen auf "Flussschifffahrt" und "dass", d.h. auf die Dreikonsonantenregel und auf "ss" statt "ß" reduzieren. Wenn dann auch noch die Zeitungen in allen Fällen zu den üblichen Schreibungen zurückkehren, wird man über Vermerke wie diese schmunzeln:

Die von Frau Simonis gepflegte neue Rechtschreibung haben wir beibehalten. (FAZnet)
Die von der "FAS" gepflegte alte Rechtschreibung haben wir beibehalten. (SPIEGEL)

Vermutlich setzen die Reformbetreiber jetzt die ganze Hoffnung darauf, daß durch die Riesenmenge der Varianten auch in der neuen Ära der "Verbindlichkeit" fehlerhafte Schreibungen in Schülerarbeiten praktisch unmöglich sein werden - natürlich außer in den Fällen, die immer schon falsch waren. Die Lehrbücher werden aber weiterhin nur die verballhornten Schreibungen von 1996 zeigen, von denen die Reformmafia glaubt, sie würden einmal bei allen jungen Menschen zur Gewohnheit werden.

Demnächst ist übrigens Landstagswahl in Nordrhein-Westfalen. Vielleicht erinnert jemand Herrn Rüttgers daran, was er am 8. 8. 2004 bei Sabine Christiansen sagte. Aber damals hörte man ja auch noch Hoffnungerweckendes von Herrn Wulff. Am Ende helfen wohl nur die Selbstheilungskräfte der deutschen Sprache - wenn es die denn geben sollte.


Kommentar von Dietrich von Hase, verfaßt am 21.03.2005 um 15.59 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#478

Natürlich kann jeder auch die Rechtschreibung des 19. Jahrhunderts verwenden oder in Sütterlinschrift schreiben oder Druckwerke in Frakturschrift herstellen - verbindlich ist insoweit natürlich gar nichts.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 21.03.2005 um 16.38 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#479

Interessante Variantenführung:

Vor unserer Meldung hieß es:
»Zum 01. August 2005 wird die neue deutsche Rechtschreibung amtlich. Die neuen Regeln sind dann für alle verbindlich …«

Inzwischen heißt es:
»Zum 01. August 2005 wird die neue deutsche Rechtschreibung amtlich. Die neuen Regeln sind dann in Schulen und Behörden verbindlich.…«

Ein Unterschied ist das schon, sehr geehrter Herr von Hase, danke fürs Nachbessern.


Kommentar von Stefan Weidle, verfaßt am 21.03.2005 um 22.33 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#481

Das Erfreuliche auf der Leipziger Buchmesse war, daß niemand mehr über die Rechtschreibreform sprach. Das Thema scheint sich in Verlagskr(e)isen erledigt zu haben. Man macht einfach weiter, wie man es gelernt hat, wir jedenfalls werden kein Buch in einer anderen als der uns bekannten Orthographie herausbringen. Wir werden uns allerdings daran gewöhnen müssen, daß es verschiedene Orthographien geben wird, der Anspruch auf eine verbindliche neue Orthographie der deutschen Sprache wird ad acta gelegt werden müssen. Und man wird sehen, daß es auch ohne geht, das mag für die Schulen schwierig sein, weil sie etwas unterrichten müssen, was mit der Realität nicht korreliert, aber die Variationsbreite ist nicht so groß, daß man sich nicht mehr versteht. Man soll nur nicht denken, es sei möglich, aus dem jetzigen Zustand noch einmal in einen allgemeinverbindlichen zurückzufinden, die Chance ist vertan. Da ich der Ansicht bin, die Masse des bisher Geschriebenen ist normativer als die Masse des künftig zu Schreibenden, bin ich guten Mutes, daß die in alter Rechtschreibung publizierten Texte leichter gelesen werden als die in welchem Augenblicksstadium auch immer einer neuen gedruckten. Setzen wir also auf die Macht des Bestehenden! Wir haben Millionen von Büchern, die für unsere Auffassung sprechen, und für die anderen sprechen ein paar Hundert und nicht mal in der gleichen (Schrift-)Sprache. Ich glaube, wir alle, denen an Orthographie wirklich liegt, können den Entscheidungen gelassen entgegensehen. die Kraft des Faktischen, der bereits gedruckten Bücher, wird eine Abkehr von der gewachsenen Rechtschreibung unmöglich machen. Das einzige, was die Duden-Redaktion mit dieser Initiative erreicht, ist, daß sie sich obsolet macht: noch ein paar Arbeitslose mehr (die freilich nie mehr irgendwo einen Job finden).


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 21.03.2005 um 22.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#482

Die Erfahrung zeigt, daß es Jahrzehnte dauern kann, bis sich wieder ein allgemein anerkannter Standard etabliert. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem solchen ist im deutschen Sprachraum gegenwärtig wenig ausgeprägt -- die allgemein herrschende Legasthenie überdeckt gnädig eigene Defizite auf dem Gebiet der Orthographie.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 21.03.2005 um 23.34 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#483

Die orthographischen Zustände vor der Reform, wo eigentlich kaum jemand, der eine normale Schulbildung durchlaufen hatte und in seinem Tätigkeitsbereich öfters etwas schreiben mußte, bemerkenswerte Rechtschreibfehler machte, haben ja über Jahrzehnte die Reformgeister nicht zur Ruhe kommen lassen, die diese Zustände schon deshalb für unerträglich hielten, weil diejenigen, die gar nicht viel schreiben mußten, halt schon mehr Fehler gemacht haben als die andern. Solche Geister werden jetzt, wo eine »reformierte« Norm zwar vorgegeben, diese aber nicht nur in ihrer Gesamtheit unpraktikabel ist, sondern eben deshalb mit der Rechtschreibwirklichkeit auf unabsehbare Zeit weniger denn je übereinstimmen wird, erst recht keine Ruhe finden. Und sie werden auch keine Ruhe geben. In Deutschland gilt, wie anderswo, nur noch ernster: Ordnung muß sein! Und die Ordnung ist in Sachen Orthographie vorläufig wohl schwer wieder herstellbar. Da hat Herr Weidle sicherlich recht.
Wünschenswert wäre aber nicht das Desinteresse an diesem Thema, das Herr Weidle auf der Leipziger Messe bei den Verlagen beobachtet hat, sondern eine klare Absichtserklärung seiner der anspruchsvolleren Literatur verpflichteten Verlegerkollegen, sich mit ihren Autoren, die wiederholt gegen die neue Rechtschreibung protestiert haben, zu solidarisieren und niemals Bücher in neuer Rechtschreibung zu publizieren, egal was die Ämter nach dem 1. August 2005 beschließen. Damit wäre die qualitativ bessere Rechtschreibwirklichkeit nicht nur in den vorhandenen riesigen Literaturbeständen gegeben, sondern sie wäre auch für die Zukunft gesichert. Diesen Tatsachen könnten sich die für den Schulunterricht zuständigen Behörden ebensowenig verschließen, wie der Rechtschreibwirklichkeit auf alltäglicherem Gebiet, die durch die Praxis der Springer-Zeitungen und der FAZ hergestellt wird.
Solange nicht der letzte Schulbuchverleger erkannt hat, daß die neue Rechtschreibung ihren Zweck völlig verfehlt hat und seinem Geschäft nur so lange zuträglich ist, als ihn die kultusministeriellen Prüfverfahren dazu vergattern, diese wie auch immer unbefriedigend in seinen Produkten darzustellen, werden die Reformkritiker als die Unruhestifter gelten.
In absehbarer Zeit aber wird sich niemand mehr der Erkenntnis verschließen können, daß wir ein orthographisches Durcheinander haben, wie selbst in barocken Zeiten nicht. Und dann wird sich wiederum eine neue Generation von Rechtschreibreformern dazu berufen fühlen, den Murks ihrer Vorgänger als solchen zu entlarven und ihnen zu zeigen, wie man die deutsche Orthographie professionell und wissenschaftlich sauber regelt. Sie werden in die Kultusministerien eindringen, wo man auf die permanenten Bildungskrisen sowieso nur mit permanenten Reformen reagiert. Und die Kultusministerien werden dieses neuerliche Alibi ihrer Unentbehrlichkeit mit Begeisterung aufgreifen und mit derselben Sturheit, die wir jetzt erleben, »durchsetzen«. Diese Rechtschreibreform wird dann so aussehen, daß das Ergebnis wieder – wie bei der Reform von 1996 – ein Griff zurück in die Vergangenheit sein wird. Diesmal nicht bis in die Barockzeit, sondern nur bis vor 1996, und die Kontinuität der deutschen Orthographie wird wieder weitestgehend hergestellt sein. Anders kann es gar nicht gehen, denn diese Reform hält niemand aus, auch nicht diejenigen, die jetzt noch meinen, sie als etwas Zukunftsträchtiges befürworten zu sollen.
Daß diese Reform »kein Deutscher aushält« hat übrigens kein Geringerer öffentlich gesagt, als Dr. Michael Klett, der sowohl Schulbuch- als auch Belletristikverleger ist. (Rede zur STAB-Preisverleihung an Reiner Kunze in Zürich, November 2004.)


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 23.03.2005 um 10.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#493

Der Werbetext der akademie.de war AP eine Meldung wert, die dann auch prompt von einigen Zeitungen übernommen wurde. Dabei hätte doch auf den ersten Blick auffallen müssen, daß die bei akademie.de praktizierte Neue Rechtschreibung ganz offenbar den Aufwand nicht lohnt: Für Schweizer Leser unterscheidet sich der Text in nichts vom immer schon Üblichen, in Deutschland und Österreich sind lediglich "Anschluss" und "dass" anders - unter 331 Wörtern! Ähnlich sah das übrigens 1998 im Werbetext der Schulbuchverleger gegen den Volksentscheid in Schleswig-Holstein aus ("Jan von der Waterkant"). Sollten Sie den Start der neuen Rechtschreibung versäumen, werden Ihre Texte mit Fehlern gespickt sein. Outen Sie sich besser nicht als jemand, der den Anschluss ins 21. Jahrhundert nicht geschafft hat. Papperlapapp!

Rechtschreibfehler müssen nicht sein. Im Reformstreit um die Rechtschreibung ging unter, dass die neuen Regeln viel harmloser sind als vermutet. Viele Standards wurden vereinfacht oder vereinheitlicht. Mit ein paar Stunden Lernzeit eignen Sie sich das Know-how für eine lebenslange korrekte Schreibpraxis an. [...] So haben Sie die wichtigsten Regeln im Überblick. Und ersparen sich die Zeit, ständig im Standardwerk Duden herumzublättern. Das war in der Tat die Zielvorstellung der Reformer, aber so leicht ist eben die deutsche Rechtschreibung nicht - weder die von 1901 und schon gar nicht die von 1996. Die reformierten Deutschdidaktiker haben ja auch längst schon ein neues Lernziel definiert: Erfahrung im Umgang mit dem Rechtschreibwörterbuch. Sich modern und lernfähig zu zeigen genügt also nicht. Nie zuvor hat es in den deutschsprachigen Ländern eine solche Abhängigkeit vom Rechtschreibwörterbuch gegeben, wie sie die Reform ihren freiwilligen und unfreiwilligen Anhängern beschert hat.

Und dann kommt die Warnung, die man unlängst auch aus dem Munde von Kultusminister Zöllner hörte: Vor allem bei Bewerbungsunterlagen heimsen Sie sich Minuspunkte ein, wenn den Personalentscheidern die Fehler bei der Rechtschreibung ins Auge springen. Die Rechtschreibreform als Versuch, die Beurteilungskriterien der betrieblichen und behördlichen Personalabteilungen zu unterlaufen! Das hat jedoch eine Kehrseite: Natürlich sieht der "Personalentscheider", ob der Bewerber es mit der traditionellen oder mit der reformierten Rechtschreibung hält. Welchen Schluß wird er aber daraus ziehen? Geben Neuschreiber sich wirklich als modern und lernfähig zu erkennen, oder vielleicht doch nur als unkritische Mitläufer? Entgeht dem "Personalentscheider" wirklich, daß "Zeit sparend" und "fertig stellen" primitive Schreibungen sind im Vergleich zu "zeitsparend" und "fertigstellen"?

Zum 01. August 2005 wird die neue deutsche Rechtschreibung amtlich. Die neuen Regeln sind dann für alle verbindlich. Wegen des jahrelangen Reformstreits verharren viele noch im inneren Lernstreik gegenüber den neuen Regeln. Nun wird es höchste Zeit, nach vorne zu blicken. Den letzten Satz sollte man unterstreichen. Er läßt sich nämlich auch anders verstehen. Wenn sich die Kultusminister zum letzten möglichen Zeitpunkt nicht von ihrem Unsinn verabschieden, wird noch lange der unprofessionelle Mix aus neuer und alter Rechtschreibung unsere gedruckten und geschriebenen Texte verunzieren. Mehr freilich nicht. Aber das - 2 auf 331 - ist auch schon schlimm genug.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 23.03.2005 um 21.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#499

Brief an den Autor des Kompaktkurses "Neue Rechtschreibung" bei www.akademie.de

Ich kenne die Probleme junger Internet-Unternehmen und weiß, wie groß die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Marktnische sind. Wenn große Konzerne aggressiv werben, warum soll das dann den kleinen Firmengründern verboten sein? Kurse in neuer Rechtschreibung anzubieten ist nichts Ehrenrühriges, allerdings sollten sich die Anbieter der Risiken bewußt sein. Wenn es in unserer Republik mit rechten Dingen zuginge, wäre das seit neun Jahren als durch und durch mißraten erkannte Regelwerk von 1996 längst vom Tisch. Wie Sie wohl auch bemerkt haben, sind es lediglich Politiker- und Wirtschaftsinteressen, die das Märchen vom orthographischen Fortschritt am Leben erhalten. Darf ich Ihnen an ein paar Beispielen vor Augen führen, worauf Sie sich in der Sache eingelassen haben?

Nehmen Sie diesen Satz in neuer Rechtschreibung: "Der Ausstand bei unserem wichtigsten Zulieferer hat auch bei uns die Produktion völlig lahm gelegt." Sie wissen natürlich, warum "lahm legen" getrennt zu schreiben ist: "lahm" läßt sich steigern bzw. erweitern: "...lahmer gelegt", "völlig lahm gelegt". Kann man hier aber wirklich "lahmer" sagen, und bezieht sich "völlig" nicht eher auf den zusammengesetzten Ausdruck? Die schon von der KMK beschlossenen Änderungen in den Paragraphen 34 und 36 helfen hier weiter: "Der Verbzusatz trägt den Hauptakzent" (Ergänzung zum Einleitungstext von § 34) und "auch Zusammenschreibung, wenn die Verbindung der beiden Wörter als Einheit aufgefaßt werden soll" (§ 36 E 2 (2). Damit wären wir wieder bei der alten Dudenregel von 1961, die ebenfalls auf Anfangsbetonung und einheitliche Bedeutung abhob. Halt, werden Sie sagen, beides sind nur Kann-Bestimmungen und § 36 E 2 (2) bezieht sich eindeutig auf "Verbindungen aus Einzelwort und adjektivisch gebrauchtem Partizip". Die "lahmgelegte Produktion" kann man also wieder zusammenschreiben - und muß gleichzeitig beim finiten Verb anders verfahren: "...hat lahm gelegt". Was werden Ihre Crashkurs-Teilnehmer dazu sagen? Spricht das für die Logik und Einfachheit der neuen Rechtschreibung? Das natürliche Sprachgefühl verlangt nämlich in beiden Fällen die Zusammenschreibung. Sind Sie dagegen bereit, die allgemeine Regel aufzustellen, nach der Neuregelung schreibe man am besten kontraintuitiv? Wenn Sie Ihre Aufgabe ernst nehmen, erwähnen Sie die Kann-Bestimmung. Selbst die ist aber ungenau. Man schreibt nämlich "In unserer dichtbesiedelten Gegend haben sich zahlreiche Betriebe niedergelassen", anders dagegen: "Unsere Gegend ist dicht besiedelt". Die Betonung läßt keinen Zweifel zu, daß es sich in ersten Fall um ein einheitliches Wort, im zweiten um eine Wortgruppe handelt. Die Regel der KMK müßte also vom "attributiv gebrauchten Partizip" reden, nicht jedoch vom "adjektivisch gebrauchten". Das ist aber noch längst nicht alles. Besonders kompliziert liegen im Deutschen die Verhältnisse beim Partizip I, das nämlich prädikativ nicht vorkommen kann; wir haben eben keine Progressive Form wie im Englischen. Attributiv kann man aber trotzdem eine Unterscheidung treffen, die etwas mit Verbalaspekt zu tun hat: "laubtragend" ist eine Dauereigenschaft, "Zwiebeln schälend" dagegen nicht - was sich in der Getrenntschreibung ausdrückt. "Ein Zeit raubendes Verfahren" widerspricht folglich der Logik der deutschen Sprache.

Nun höre ich schon Ihren Einwand: Wenn das alles so schwierig ist, warum dann nicht zu einfachen Faustregeln greifen, selbst wenn die zu falschen Schreibungen führen? Einfache Faustregeln für wen? Natürlich für die Hauptschulabgänger, die eine Lehrstelle suchen und keine finden, weil man in den Personalabteilungen Bewerbungen mit Rechtschreibfehlern sofort aussortiert. Für wie dumm halten Sie jedoch die dortigen Sachbearbeiter? Glauben Sie wirklich, daß der Einheitsbrei in der Rechtschreibung alles überdeckt, was die Bewerber sonst noch vorzuweisen haben? Und sollen mit dem Hinweis auf die Chancengleichheit alle beruflich Schreibenden von ihrer kompetenten Handhabung der deutschen Rechtschreibung abhalten werden, die immerhin die makellos redigierten Texte hervorgebracht hat, die wahrscheinlich milliardenfach unsere Bibliotheken füllen? Soll der Weg in das an Herausforderungen reiche 21. Jahrhundert damit beginnen, daß wir uns alle dumm stellen?

Die eigentliche deutsche Rechtschreibmalaise bestand und besteht ja darin, daß arrogante Zeitgenossen sich das Recht herausnehmen, über ungewöhnliche Schreibungen weniger schreiberfahrener Mitmenschen die Nase zu rümpfen. Nun wollen Sie den Besuchern Ihrer Internetseite einreden, jedermann und jedefrau werde sich demnächst blamieren, wenn sie nicht die Primitivschreibungen der Banausenclique der früheren Rechtschreibkommissionen übernehmen. "Mehr Demokratie wagen" hieß die Losung des Aufbruchs aus der restaurativen Nachkriegszeit. Die Revolutionäre von damals sind inzwischen in die Jahre gekommen und bedienen sich nun des erneut verkrusteten Staates, um uns ihren Schreibunsinn aufzudrücken. Ein junges Internet-Unternehmen sollte sich nicht dem Kampf um Bürgerrechte in den Weg stellen. Mit der Verdummung beim Schreiben fängt es nämlich an, und niemand weiß, wo es einmal enden wird.



Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 24.03.2005 um 04.38 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#500

Herr Jochems schrieb:

“...Die eigentliche deutsche Rechtschreibmalaise bestand und besteht ja darin, daß arrogante Zeitgenossen sich das Recht herausnehmen, über ungewöhnliche Schreibungen weniger schreiberfahrener Mitmenschen die Nase zu rümpfen...”

Ja, diejenigen, über die die ‘Gescheiten’ früher die Nase rümpften, fühlen sich von den Schreibreformern verstanden und vertreten. Das muß einer der Gründe dafür sein, daß die Reformgegner bei den jungen Leuten so gar nicht ankommen. Klar, wer früher verlacht wurde, empfindet es als Erleichterung, nach ‘Regeln’ schreiben zu können, die ihm jede Auslegung erlauben. Wenn alle gleich unsicher sind, rümpft keiner mehr. Und ob durch die Eingriffe der Schreibreformer die Grammatik, die Verständlichkeit, die Lesbarkeit, die Logik und anderes beeinträchtigt oder beschädigt wurden, ist für die Betroffenen zweitrangig.

Ich würde gerne den Test auf der Straße machen und wetten: Was beispielsweise ein attributiver Gebrauch ist oder ein prädikativer, worum es sich bei einem Partizip handelt oder bei einem finiten Verb usw., ist neunundneunzig von hundert Leuten nicht nur unbekannt, sondern egal. Argumente, die sich auf solche Begriffe stützen oder beziehen, werden deshalb dünn.

Doch nicht nur bei den Amateuren laufen Begründungen, die sich von der Grammatik her nähern, ins Leere:

“Lasst uns nach vernünftigen Regeln schreiben ...
...warum nicht nach kurzem, betontem Vokal einen Doppelkonsonanten setzen? Das ist eine einfache Regel und tut niemandem weh und hilft Deutschen wie Ausländern ohne groß zu überlegen normgerecht zu schreiben...”,

schrieb im FAZ Forum ein Teilnehmer, der sich als Deutschlehrer zu erkennen gegeben hatte.

Schlagworte sind wirkungsvoll, besonders wenn sie so tun, als seien sie auf der Seite der Schwächeren. So etwas brauchen wir auch! Ich fürchte, der Anbieter des Internet-Sprachkurses wird Ihren Ausführungen nicht folgen (können). Die Reformgegner haben zwar recht, aber die Reformer haben bislang das erfolgreichere Marketing.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 24.03.2005 um 09.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#501

Ja, Herr Isleif, die Reformer haben tatsächlich das erfolgreichere Marketing, das Marketing der Meinungsführer und Machthabenden. Aber wir wissen doch: Das beste Marketing bewirkt nur vorübergehenden Erfolg, wenn die Ware, die damit "gepusht" wird, schlecht oder gar unbrauchbar ist. Sie erfährt eine Scheinblüte und hält sich, meinungssubventioniert, einige Jahre auf dem Markt, dann wird sie verschwinden - jede Wette darauf!
Am längsten wird sich das ss halten. Aber auch diese Regel wird irgendwann ins Wanken kommen, zu fehlerträchtig, zu schwierig. Wir wissen nur nicht, WANN der Vernunftskater einsetzen wird - aber er WIRD!



Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 24.03.2005 um 15.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#502

Die satzaussagende (prädikative) Verwendung des Mittelworts der Gegenwart (Partizip Präsens), und: können Eigenschaftswörter (Adjektive) Ergänzungen (Objekte) haben?

Wenn das Mittelwort der Gegenwart (Partizip Präsens) nicht satzaussagend (prädikativ) verwendet werden darf, muß das begründet werden können. Die reine Beobachtung, daß es bisher nicht so verwendet wird, reicht nicht als Begründung für ein Verbot.

Wenn das Mittelwort der Gegenwart (Partizip Präsens) bei satzaussagender (prädikativer) Verwendung wirklich automatisch zum Eigenschaftswort (Adjektiv) wird (bei Verwendung mit 'sein': 'Sein Zeugnis ist hervorragend') oder zum Umstandswort (Adverb) wird (bei Verwendung mit einem Vollverb: 'Sie wanderten singend'), kann es gesteigert oder verstärkt werden: 'Diese Investition ist lohnend, lohnender, sehr lohnend, wirkt lohnender, viel lohnender.'
Wenn Adjektive und Adverbien keine Satzergänzung (kein Objekt) haben können, müssen Objekte dann zwangsweise mit dem Verb verschmelzen: 'Diese Investition ist erfolgversprechend, sehr erfolgversprechend, erfolgversprechender, viel erfolgversprechender'. Verboten wäre dann: 'Diese Investition ist '*Erfolg versprechend', weil 'versprechend' bei prädikativer Verwendung zum Adjektiv wird und deswegen kein Objekt haben kann.
Wenn das so gilt, haben die Reformer einen schweren Grammatikfehler gemacht.

Aber wie ist es bei beifügender (attributiver) Verwendung des Partizip Präsens?
Weil Verbformen nicht gesteigert werden können, wird das Partizip durch Steigerung oder Verstärkung zum Adjektiv: 'eine lohnendere, sehr lohnende Investition'.
Wenn das Partizip Präsens bei attributiver Verwendung aber auch Verbform bleiben kann, kann es als Verbform Ergänzungen haben. Dann ist es erlaubt zu schreiben: 'eine Erfolg, viel Erfolg, mehr Erfolg versprechende Investition'. Substantive können durch unbestimmte Zahlwörter verstärkt werden, aber nicht durch Steigerungspartikel:'eine *sehr Erfolg versprechende Investition' wäre falsch und nur als 'sehr erfolgversprechende Investition' richtig geschrieben.

Diese Unterscheidung ist normalen Schreibern sehr schwierig zu vermitteln.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 24.03.2005 um 18.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#503

Natürlich kann man schreiben: eine großen Erfolg versprechende Investition oder die frisches Blut saugenden Mücken. Konstruktionen wie diese taugen aber eher für eine grammatische Beweisführung als für einen stilistisch einwandfreien Text.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 24.03.2005 um 21.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#505

Gleich 1996 goß die Arbeitsgruppe für Sprachberatung und Lexikografie an der Universität Essen bitteren Wermut in den frischen Wein der Rechtschreibreform: "Durch die Entwicklung fester Wendungen im Laufe der Sprachgeschichte und die Tendenz zur Zusammenschreibung waren viele Zweifelsfälle entstanden: Man musste auf die Bedeutung fester Wendungen achten, auf die Betonung und auch auf die Geläufigkeit einer solchen Wendung. Das braucht man heute nicht mehr. Die Regeln sind grammatikalisiert worden, was allerdings nicht immer einfacher ist, weil man grammatische Kenntnisse braucht."

Acht Jahre später kam die Germanistin Sabine Mayr zu einem anderen Ergebnis. "Prädikativ ist out", berichtete sie am 28. 8. 2004 dem FOCUS. Sie habe bei der Arbeit an ihrer Dissertation festgestellt, für die alte Rechtschreibung habe man rund 80 Fachausdrücke kennen müssen, bei der neuen komme man mit gut 60 aus. Beispielsweise: "Im alten Duden war es für die richtige Schreibweise noch wichtig, zu wissen, was 'prädikativ' bedeutet - diesen Fachausdruck gibt es in den neuen Regeln nicht mehr."

Mayr folgerte, daß der Mensch für das Verstehen der Regeln nach der neuen Rechtschreibung weniger Grammatikwissen brauche. Das reformierte Regelwerk sei dem Laien leichter zugänglich. "Dazu kommt, daß sehr viele Rechtschreibregeln nach der Reform neu und weniger ausführlich formuliert wurden." Schüler würden aber andererseits auch bei der neuen Rechtschreibung nicht umhinkommen, sich ein grundlegendes Grammatikwissen anzueignen.

Gilt das allgemein - unabhängig von "alt" und "neu" - auch für normale "Sprachteilhaber", konkret gefragt: Müssen die sich bei jeder Schreibung darüber im klaren sein, aufgrund welcher Kriterien man so und nicht anders schreibt? "Betonung" und "einheitliche Bedeutung" - beides wieder "zugelassen" - wirken intuitiv. Je weniger man beim Schreiben über die Rechtschreibung nachdenken muß, um so besser. Augsts Proben sind dagegen der Rechtschreibung Tod. Dabei wollen einige Laienlinguisten im neuen Rat die Testbatterien sogar noch ausbauen. Herr Ickler führte (ebenfalls im August 2004) in seiner Rezension des neuen DUDEN vor, wie allgemeinverständlich man über unser Problem sprechen kann:

Es ist also - ungeachtet des vielen Rotdrucks - auf den ersten Blick alles wieder so wie vor der Reform, denn selbstverständlich schrieb man seit je, daß zum Beispiel die blutsaugenden Tiere frisches Blut saugend ihr Leben fristen. Allerdings waren die Bedingungen, unter denen getrennt beziehungsweise zusammengeschrieben wurde, früher klarer, denn jetzt wird zu Unrecht völlige Austauschbarkeit suggeriert. Einer der Gründe, warum die "Varianten" keineswegs gleichwertig sind, wird vom Duden regelmäßig unterdrückt: bei prädikativem Gebrauch (... ist Epoche machend) wäre die Getrenntschreibung ungrammatisch. Dasselbe gilt für jene vielen Zusammensetzungen, die um der gesamthaften Steigerung willen wiedereingeführt sind: "Heil bringend, auch heilbringend".

Im Grunde geht es also um folgendes: Präsenspartizipien in prädikativer Verwendung sind Adjektive, die Zusammensetzungen bilden können, und diese werden natürlich zusammengeschrieben. Das ist keine Regel, die man sich merken muß. Wer einmal bemerkt hat, wie es geht, benötigt keine weitere Anleitung. Was die Schreiber angeht, hat Sabine Mayr recht - und unsere Mitdiskutanten Koch und Isleif natürlich auch: Sie können auf das Fachwort "prädikativ" verzichten.


Kommentar von Günter Loew, verfaßt am 24.03.2005 um 22.18 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#506

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 über die Verfassungsbeschwerde der Eheleute Dr. Thomas Elsner und Gundula Diercks-Elsner gegen die Rechtschreibreform heißt es wörtlich im Teil C. II.(auf S. 59): "Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden."

Daran wird sich auch am 1. August 2005 nichts ändern, selbst dann nicht, wenn auch die Ministerpräsidenten die verbindliche Einführung der Rechtschreibreform förmlich beschließen sollten, weil der Staat, wie Professor Stettner mit Recht am 6.11.2004 in einem Leserbrief an die Aachener Zeitung festgestellt hat, nicht die Kompetenz besitzt, die Orthographie des Deutschen zu regeln, da er auf diesem Sektor, abgesehen von seiner Zuständigkeit für die Schulen, keine Sanktionskompetenz besitzt.

Wenn ihnen die Sprachgemeinschaft, von den sogenannten einfachen Leuten bis zu den kulturellen Eliten, wie bisher die Gefolgschaft verweigert, werden die für diesen katastrophalen Reformversuch verantwortlichen Politiker sich mit all ihren Maßnahmen nur noch lächerlich machen.

Die ganz große Blamage wird ihnen nur dann erspart bleiben, wenn sie jetzt wenigstens dafür Sorge tragen, daß die kleine Zahl der Reformkritiker im sog. Rat für Deutsche Rechtschreibung eine reelle Chance erhält, sich mit ihren rein sprachlichen Argumenten gegen die Lobby der aus ganz anderen Gründen an der der Fortführung der "Reform" Interessierten durchsetzen zu können.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 25.03.2005 um 02.46 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#507


Den Beitrag von Helmut Jochems:

"...Wer einmal bemerkt hat, wie es geht, benötigt keine weitere Anleitung. Was die Schreiber angeht, hat Sabine Mayr recht - und unsere Mitdiskutanten Koch und Isleif natürlich auch: Sie können auf das Fachwort "prädikativ" verzichten...",

darf ich etwas korrigierend kommentieren:

In dem Satz: Das ist aber eine höchst seltsame Germanistin, ist ‘seltsam’ attributiv gebraucht.
In dem Satz: Diese Germanistin kommt mir seltsam vor, ist ‘seltsam’ prädikativ gebraucht. Das Fachwort ‘prädikativ’ ist keineswegs ‘out’. Habe ich etwas übersehen? Ich hatte in meinem Beitrag unten nicht sagen wollen, man brauche den Fachausdruck nicht, sondern die Mehrzahl der Menschen könne damit nichts anfangen (und deshalb damit auch nicht überzeugt werden).

Diese seltsame Germanistin liefert mit ihrer ‘Erklärung’ den besten Beweis dafür, daß an der ganzen Misere vor allem die Germanisten und die Philologen an den Universitäten schuld sind. (Ich meine die bösen, nicht die guten!). Von uns Fußvolk konnte man das nicht erwarten, aber die großartigen Fachleute, die hätten erkennen müssen, was da verbrochen wurde. Doch ihr Aufschrei, der laute, konzertierte, blieb aus. Hätten diese Helden der abgewetzten Hosen und der fettigen Ledermappen mal für einen Moment den in die Hand gestützen schweren elitären akademischen Kopf ein wenig angehoben und benutzt, wäre der Spuk nach einer Woche vorbei gewesen.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 25.03.2005 um 09.20 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#508

Der Begriff 'prädikativer Gebrauch' wird beim Adjektiv benötigt, weil nur attributiv gebrauchte Adjektive dekliniert werden (abgesehen von den nicht deklinierbaren A.): Im Gegensatz zu fast allen übrigen indogermanischen Sprachen mit endungsveränderlichen Adjektiven bleibt im Deutschen das prädikativ gebrauchte Adjektiv endungslos. (Das bereitet manchen deutschen Fremdsprachenlernern zunächst Schwierigkeiten, wenn sie in der Fremdsprache Endungen gebrauchen müssen.)
Nur wenn das Substantiv durch das Adjektiv in eine bestimmte Klasse oder Sorte eingereiht werden soll, sind auch bei prädikativem Gebrauch flektierte Formen erlaubt: 'dieser Winkel ist ein rechter. Dieser Hut ist meiner.'

Übrigens: Adjektive, die Maßangaben darstellen, können bei Maßen mit Zahlwörtern Akkusativ-Objekte haben: '... breit, ... lang, ... hoch, ... tief'. Maße ohne Zahlangaben verschmelzen meist mit diesen Adjektiven.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 25.03.2005 um 10.34 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#509

Lieber Herr Koch,

wir entfernen uns vom Thema. Offenbar sind Sie so weit mit mir einig, daß das Fachwort ‘prädikativ’ noch existiert und nicht ‘out’ ist.
Ihre Beispiele aber reizen mich zum Widerspruch. In ‘dieser Winkel ist ein rechter’ liegt kein eigentlich prädikativer Gebrauch vor, sondern ein attributiver. Syntaktisch gesehen handelt es sich um eine Einsparung: ‘Dieser Winkel ist kein rechter (Winkel)’ Die Wiederholung von ‘Winkel’ wird eingespart.

Und in ‘dieser Hut ist meiner’ finde ich kein Adjektiv.

Freundliche Grüße von einem Nicht-Deutschlehrer!

Karl-Heinz Isleif
Tokio, Japan



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 25.03.2005 um 10.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#510

Irgend jemand hat hier vor einiger Zeit schon davor gewarnt, der Sprachregelung der Reformbefürworter auf den Leim zu gehen. Von den freiwilligen und unfreiwilligen Neuschreibern heißt es bekanntlich seit 1996, sie schrieben "nach den neuen Regeln", das übrige Volk natürlich "nach den alten". In Wirklichkeit schreibt im Normalfall niemand nach Regeln, vielmehr benutzt man die Wortbilder, deren Grundbestand noch aus der eigenen Schulzeit stammt und die im übrigen beim Lesen bestätigt und ergänzt werden. Herr Denk erinnerte vor Jahren daran, daß Schüler im Zweifel die sich anbietenden Schreibungen auf einen Zettel schreiben und dann die in der Erinnerung geläufigere übernehmen. Das Sprachgefühl hilft natürlich auch mit, unterstützt von Betonung und Bedeutung. Sprachwissenschaftler haben die Regularitäten der Rechtschreibung zwar immer schon mit deskriptiven Regeln beschrieben, dies aber primär als Hilfe für die Lexikographen, wenn nämlich in Grenzfällen Entscheidungen zu treffen sind.

Selbst der Duden enthält erst seit 1957 einen Regelteil, als nämlich die Leipziger Redaktion ihrer 15. Auflage einen "Leitfaden der deutschen Rechtschreibung und Zeichensetzung mit Hinweisen auf grammatische Schwierigkeiten" anfügte. Der Mannheimer Duden folgte 1961. Seitdem spricht man von "Dudenregeln", denn das "amtliche" Regelbuch von 1902 hatte bekanntlich vieles ungeregelt gelassen. Wie viele Benutzer wußten aber vor 1996, daß "ihr" Duden einen Regelteil enthält, und wie viele wissen es heute? Auch die Sprachwissenschaftler hatten in der guten alten Zeit ein eher distanziertes Verhältnis zu "Regeln". Erst die Beschäftigung mit Chomsky brachte sie auf den Gedanken, daß "generative Regeln" ein wunderbares Werkzeug für ihren Berufsstand seien. Die Welle ist längst abgeebbt, nur fußkranke Nachzügler gibt es noch, und dazu gehören unsere Reformer. Mehr noch: Sie verbanden einfache "generative Rechtschreibregeln" mit ihrem egalitären Jugendtraum, so könne man den unterprivilegierten Teil der Gesellschaft von seinen Schreibschwierigkeiten befreien. Im November 1997 bekannte der Leitende Regierungsschuldirektor Dr. Frank Schindler, Mitglied der Arbeitsgruppe Rechtschreibung der KMK, daß er sich in der Sache herzlich wenig auskenne, aber: "Ich versuche die Regelungen so zu verstehen, daß Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, Entscheidungen über richtig und falsch zu treffen."

Die deutsche Fremdsprachendidaktik kannte früher die "Dialektik von Können und Kennen" - wer kompetent eine fremde Sprache verwendet, verhält sich weder ausschließlich imitativ noch regelgeleitet. Genau das trifft auch auf die Rechtschreibung zu. "Einsicht" stützt und stärkt das richtige Schreiben, das aber im wesentlichen auf Gewohnheit beruht. "Einsicht" bedeutet übrigens nicht "Regelkenntnis", ja, wie im Fremdsprachenunterricht ist die abstrakte Regel meist meilenweit von der Sprachwirklichkeit entfernt. Man muß erkannt haben, worauf es ankommt, um eine Sprache richtig zu verwenden.

Noch einmal: Wenn in einem deutschen orthographischen Regelwerk für Lexikographen (und Lehrer) das Fachwort "prädikativ" fehlt, ist etwas nicht in Ordnung. Normale Sterbliche können sich diesen Umweg ersparen.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 25.03.2005 um 12.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#511

Herr Prof. Jochems hat wieder einmal in bewundernswerter Klarheit, wie sie seinem langen, erfahrungsreichen Gelehrtenleben entspringt, die Sache auf den Punkt gebracht: Der Kardinal- und Geburtsfehler der Refom ist die Fixierung auf "Regeln", die es zu vereinfachen gelte. Danach könne dann auch der "Wenigschreiber" die Orthographie annähernd perfekt beherrschen. (Nebenbei fragt man sich, warum gerade dem Wenigschreiber oder gar dem Nichtschreiber die reformierte Rechtschreibung so sehr zum Vorteil gereichen soll...). Warum aber funktioniert das nicht? Wir schreiben offenbar regelhaft, aber nicht regelgeleitet (Prof. Ickler). Gewohnheit und Sprachgefühl konnten den Reformern allerdings nicht als Objekt ihrer Veränderungs- und Volksbeglückungsabsichten dienen. Nun könnte man ja erwarten, daß aus den Regeln, die der Sprachlerner sich schließlich eines Tages angeeignet haben wird, auch wiederum Intuition und tragfähige Schreibgewohnheiten sich entwickeln werden. Sehen wir uns daraufhin (nach nunmehr 7 Jahren!) auch nur eine einzige Ausgabe einer "reformierten" Tageszeitung an, so werden wir eines besseren belehrt. D a r i n besteht das eigentliche Scheitern der Reform: daß sie kein Potential zu Konvergenz und Selbstoptimierung enthält und also schon vom Ansatz her tot ist, sozusagen ein Letal-Gen eingebaut hat. - Ich denke, bei der Auseinandersetzung mit den Reformbefürwortern sollten die Gegner sich von vornherein nicht auf die Frage " Wie können wir das Regelwerk verbessern?" einlassen. Hier hilft nur Fundamentalkritk und -opposition.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 25.03.2005 um 17.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#513

Es ist unmöglich, diese Argumentationsfigur ein für allemal zu erledigen. Schließlich hat jeder schon einmal die Erfahrung gemacht, daß gute Ideen im Zuge ihrer Umsetzung verwässert oder verhunzt wurden. Man muß also schon jedesmal von neuem plausibel machen, warum eine gut erscheinende Idee nicht nur ihre Verwirklichung schlecht überstanden hat, sondern tatsächlich im Ansatz verfehlt war.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 25.03.2005 um 17.05 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#514

Konvergenz:
Die für ein bestimmtes Rechtschreibproblem geltenden Regeln kann man sich als Glieder einer (mathematischen) Reihe vorstellen, die mit logischem 'UND' verbunden sind. Wenn diese Reihe der einzelnen Regeln für dieses Problem zu einem endlichen Grenzwert konvergiert, gibt es eine Lösung. Wenn die Reihe der Regeln divergiert, gibt es unendlich viele Lösungen oder gar keine Lösung für dieses Problem.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 25.03.2005 um 17.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#515

Wenn ich auch einer Fundamentalopposition das Wort rede, so bleibt trotzdem die Frage bestehen, ob es nicht klüger ist, die Verteidigungslinie zurückzunehmen und gewissermaßen subversiv das Menschenmögliche an Demontage der Reform zu erreichen. Indem Prof. Ickler im Rat mitwirken wird, ist ja schon ein Schritt in diese Richtung getan - oder?


Kommentar von Christian Dörner, verfaßt am 25.03.2005 um 17.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#516

Im wesentlichen gebe ich Herrn Prof. Jochems recht. Die Regeln im Duden wurden und werden von den wenigsten gelesen oder gar beachtet, und selbst viele Sekretärinnen beschränkten sich im Zweifelsfall darauf, ausschließlich im Wörterverzeichnis nachzuschlagen. Daß der Duden überhaupt einen Regelteil besitzt, war vielen unbekannt.
Dennoch stimmt es selbstverständlich nicht, daß der Rechtschreibduden erst seit 1957 bzw. 1961 ein Kapitel mit den orthographischen Regeln enthält. Selbst die erste Auflage von 1880 beinhaltete bereits ein (knappes und sehr unvollständiges) Regelwerk. Dies wurde im Laufe der Folgeauflagen und insbesondere nach dem Inkrafttreten der amtlichen Regelung 1902 zunehmend ausgebaut und erweitert. In den beiden Auflagen des Buchdruckerdudens finden sich dann zum erstenmal auch Vorschriften zur Zeichensetzung.
Die Duden der 30er und 40er Jahre enthielten bereits weitgehend vollständige Regelwerke zur Orthographie, die sich in einzelnen Punkten noch ausdrücklich auf den amtlichen Text von 1901/1902 bezogen. Nach Kriegsende wurde das offizielle Regelwerk nicht mehr neu aufgelegt, und der Duden wurde durch das berühmt-berüchtigte kultusministerielle Privileg zur alleinigen Instanz in rechtschreiblichen Fragen.
Von Anfang an enthielten jedoch sowohl der Mannheimer Duden als auch der der sogenannten »DDR« jeweils ein eigenes Regelwerk, wobei das des Mannheimer Dudens immer ein wenig knapper gehalten war, was wohl auch auf die Verfügbarkeit von umfangreicher Sekundärlitertatur zurückging (vgl. vor allem die Taschenbücher der Dudenredaktion zur Orthographie und zur Zeichensetzung und den Band über die Zweifelsfälle), während so etwas in der »DDR« nicht zur Verfügung stand, so daß dort der Rechtschreibduden auch Grenzfälle der Orthographie und Kommasetzung klären mußte, die im Alltagsleben kaum auftraten.
Bis auf wenige Ausnahmen unterschieden sich jedoch weder Regeln noch Einzelfestlegungen der beiden Duden (Ausnahmen gab es z. B. bei gutgehen/gut gehen sowie der Kommasetzung bei weder – noch, wenn entweder weder oder noch mehrmals hintereinander verwendet wurde, um weitere Glieder miteinander zu verbinden). Fälle wie West-Berlin/Westberlin usw. sind ebenfalls bekannt, haben aber natürlich andere Gründe als rein sprachwissenschaftliche.
Unabhängig davon waren in der Regel weder das amtliche Regelwerk von 1901/1902 noch das des Mannheimer Dudens, noch das des »DDR«-Dudens (und hier folge ich den Mannheimer Vorschriften zur Zeichensetzung) selbst denjenigen bekannt, die im täglichen Gebrauch in Fragen der Orthographie relativ sicher waren.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 25.03.2005 um 20.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#517

Mir geht es nicht um politische Ideologien jedweder Färbung, sondern um gängige Handlungs- und Denkmuster, wie sie unter gewissen Bedingungen entstehen, und deren Funktionsweise man sich immer wieder bewußt machen sollte. Ursprünglich gute Ideen, die verwässert und verhunzt werden, gibt es natürlich ebenso häufig, das ist beklagenswert. Könnte es nun sein, daß die Rechtschreibreform tatsächlich eine gute Idee war, die nur an ihrer dilettantischen Realisierung scheiterte?
Wie mag man erkennen, ob eine Idee vom Ansatz her für die Zukunft der Menschen gut ist oder schlecht? Wer kann das mit Sicherheit beurteilen? Wird eine gute Idee, die sich gleich jedem als solche offenbart, nicht wie von Geisterhand allein und ohne Zwang in der Praxis Fuß fassen? Oder regiert mich hier frommes Wunschdenken?

Anders gefragt: Kann eine Idee, die sich nur mittels Befehl, Einschüchterung oder gesetzlichen Druckmitteln verwirklichen läßt, vom Ansatz her gut sein?
Gibt es gute Ideen, die (zu aller Wohlgedeihen) mit Gewalt durchgesetzt werden müssen, weil die Menschen nicht einsichtig sind? Anders: kann aus Zwang Gutes entstehen? Und die uralte Frage: rechtfertigt ein gutes Ziel jedes Mittel?

Was die sogenannte Rechtschreibreform betrifft, so kann sie meiner Privatmeinung nach nichts anderes als im Ansatz verfehlt sein, weil sie nur mit Hilfe der staatlichen Autorität und gegen den massiven Protest der Betroffenen durchgesetzt wurde, wobei viele der Kritiker anfangs guten Willen zeigten und es mit der Neuregelung versuchten – mich persönlich eingeschlossen.
Hätten die staatlichen Ordnungshüter der Reformclique nicht die Steigbügel gehalten, so wären die Propheten aus dem Siegener Land wohl nur milde belächelt und in der Folge von der Schreibgemeinschaft ignoriert worden. Die Reformschreibung konnte nur mittels Staatsgewalt, also zwangsweise, eingeführt werden. Auf dem Gebiet von Sprache und Rechtschreibung aber haben der Staat und seine Organe nichts zu suchen – darin sind wir uns wohl alle einig. Ohne Einmischung des Staates aber wäre es niemals zu dieser Rechtschreibreform gekommen.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 25.03.2005 um 20.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#518

Anders: kann aus Zwang Gutes entstehen? (Karin Pfeiffer-Stolz)
Ohne Zwang würde viel Gutes niemals entstehen. Oder zumindest Notwendiges. Das Problem liegt doch nicht da. Es liegt eher darin, daß hier eben trotz der Erkenntnis, daß etwas gut Gemeintes mißlungen ist, von den politisch Verantwortlichen darauf bestanden wird, es durchzusetzen. Dazu muß man keine großen Parallelen der Weltgeschichte bemühen. Es ist nichts anderes als eine auf menschlicher Dummheit und Eitelkeit, die in der Menschheitsgeschichte schon so manche skurrilen Auswüchse hervorgebracht haben, beruhende Posse.
Als solche wird die "Rechtschreibreform" auch in die deutsche Geistesgeschichte eingehen. Und auch wenn die Wunschvorstellung vieler von uns, die Rechtschreibung wieder auf den Zustand zurückzuführen, den sie vor der Reform hatte, sich vielleicht nicht verwirklichen sollte, wird die "neue Rechtschreibung" keinen Bestand haben, das ist sicher. Selbst die Reformer haben dies inzwischen erkannt, nur versuchen sie, aus dieser Not eine Tugend zu machen: die Permanente Revolution der deutschen Rechtschreibung. Wobei wir doch wieder bei den großen Parallelen angekommen wären ...



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 26.03.2005 um 11.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#519

Richtig, noch in den dreißiger Jahren druckte der Duden eine 16seitige Vorbemerkung "Zur Rechtschreibung", die folgendermaßen anhebt: "In allen Stücken ist die Rechtschreibung befolgt, die nach den Beschlüssen der "Orthographischen Konferenz" vom 17., 18. und 19. Juni 1901 in der "Neuen Bearbeitung" des amtlichen Regelbuchs für die deutsche Rechtschreibung angewandt ist. Im Deutschen Reich, in Österreich und der Schweiz ist sie für den amtlichen Verkehr und für alle Schulen bindend." Klingt irgendwie bekannt, gelt? Ein wenig später heißt es: "Die wichtigsten Punkte, in denen die neue einheitliche Rechtschreibung von der bis zum Jahre 1902 geltenden "Schulorthographie" und von der sogenannten "alten Orthographie" abweicht, sollen hier nebst einigen Ergänzungen noch angeführt werden. " Dann geht es los mit der Erinnerung, daß "Tal", "Ton", "Tor" nicht mehr mit "th" zu schreiben seien - etliche Jahrzehnte nach den Berliner Beschlüssen.

Der Leipziger "Leitfaden" von 1957 enthält in der erweiterten Fassung von 1967 auf 105 Druckseiten 495 elegant formulierte "Regeln", die sich an den Gepflogenheiten der Schreiber orientieren, also das "Übliche" zur Norm erheben. In allem unterscheiden sie sich wohltuend von denen des Wiener Regelwerks. Zur GZS sagen die Leipziger zum Beispiel:

"Dem Wandel von der Getrennt- zur Zusammenschreibung liegt oft ein Bedeutungswandel zugrunde. Er ist also in erster Linie ein sprachlicher, erst in der Folge ein rechtschreiblicher Vorgang. Wesentlich ist, daß die Schreibung sinnvoll und unmißverständlich ist.
Da die Entwicklung nicht abgeschlossen ist und das Nebeneinander gedanklich zusammengehöriger Wörter oft eine verschiedene Deutung zuläßt, ergeben sich häufig Fälle, wo beide Schreibungen möglich sind und wo man die persönliche Entscheidung gelten lassen muß.
Bedeutung, Betonung und Schreibung sind oft voneinander abhängig. Die Betonung gibt Hinweise für die Schreibung."



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 28.03.2005 um 11.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#520

Frau Pfeiffer-Stolz schrieb am Karfreitag: "Hätten die staatlichen Ordnungshüter der Reformclique nicht die Steigbügel gehalten, so wären die Propheten aus dem Siegener Land wohl nur milde belächelt und in der Folge von der Schreibgemeinschaft ignoriert worden." Diese Äußerung über die Ursprünge der Rechtschreibreform ist im mittleren Teil nicht ganz richtig. Zwar waren sowohl Herr Augst wie Herr Schaeder hier Professoren im Fachbereich 3, und der Fachkongreß "New Trends in Graphemics and Orthography" (Siegen, 22. - 25. August 1985) läßt sich durchaus als die erste öffentliche Veranstaltung des Reformerkreises ansehen, aber mit Siegen oder der Siegener Gesamthochschule und späteren Universität hat dies alles nichts zu tun. Immerhin haben 1998 einige Siegener Professoren den Aufruf gegen die Rechtschreibreform unterzeichnet; andernorts waren es im allgemeinen auch nicht mehr. Viele Kolleginnen und Kollegen wußten vor 1996 nicht, daß Herr Augst an der Spitze des Arbeitskreises und der späteren Kommission stand, und die verspätete Nachricht von Herrn Schaeders Mitwirkung (Teil GZS des Regelwerks) löste eher Verwunderung aus. Es gab keine hochschulöffentliche Diskussion über Rechtschreibfragen - weder vor noch nach 1996.

Und weder Herr Augst noch Herr Schaeder waren ausgesprochene 68er. Beide sah man stets nur korrekt gekleidet, sie nahmen nicht an linken politischen Aktivitäten teil und erfreuten sich im übrigen großer Beliebtheit bei den Germanistikstudenten. Ihr gemeinsames Feld war das "Siegener Institut für Sprache im Beruf", das angesichts der geringer werdenden Berufsaussichten in ausgesprochen philologischen Berufen den Studierenden neue Berufsfelder erschließen sollte. Sowohl Herr Schaeder wie ein ebenfalls in den achtziger Jahren berufener Kollege in der Romanistik führten "Fachsprache" in ihrer Denomination. Freilich war die Gründung des SISIB auch der Versuch, gegenüber den erdrückenden Ansprüchen der Literaturwissenschaftler die Notwendigkeit des Ausbaus der Sprachwissenschaft zu demonstrieren. Herrn Augsts Rolle bei der Rechtschreibreform muß wohl auch so gesehen werden.

Natürlich gab es in Siegen auch eine linke Politisierung, aber die besorgten ein sehr junger Deutschdidaktiker und seine inzwischen in den Vorstand der GEW aufgerückte Mitarbeiterin. Der Didaktiker selbst machte 1975 Furore mit einer taktlosen Äußerung, mit der er auf einer Weiterbildungsveranstaltung die Frage einer älteren Lehrerin nach der künftigen Rolle der Rechtschreibung abtat: "Rechtschreibung - verehrte, gnädige Frau - ist doch heute scheißegal." Das entsprach immerhin dem Geist der Zeit, läßt sich aber schlecht Herrn Augst anlasten. Er ist übrigens Bauernsohn aus dem Kreis Altenkirchen im Westerwald und schreibt jetzt Mundartwörterbücher für seine Heimatgemeinden.

Völlig recht hat Frau Pfeiffer-Stolz allerdings mit ihrer Eingangsbehauptung. Von 1993 bis auf den heutigen Tag hatten die Ministerialräte der Arbeitsgruppe Rechtschreibung der KMK das eigentliche Sagen. Wie wir aus dem gerade von Herrn Ickler veröffentlichten "Verteiler" des RfdR wissen, werden die drei Hardliner dieser Gruppe (die Herren Funk, Krimm und Stillemunkes) auch jetzt über alle Vorgänge informiert. Angesichts der blamablen Inkompetenz der Cheffiguren auf den Ministersesseln haben sie es weiterhin in der Hand, wohin es mit der deutschen Rechtschreibung geht.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 28.03.2005 um 12.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#521

Ich denke, die Reformer selbst sollten heute nicht mehr als Haupt-Zielscheibe der Kritik dienen. Was zum fachlichen Unvermögen zu sagen war, ist wohl gesagt worden. Auch die tieferen Wurzeln des Reformeifers zu ergründen, mag zwar - z.B. für eine spätere Gesamtschau - interessant sein, ist aber dem Anliegen der Kritiker und Gegner im gegenwärtigen Stadium nicht mehr förderlich. Heute, auf der großen Abrißstelle der Bauruine namens "Rechtschreibreform", kommt es darauf an, die Nutznießer des Unternehmens im weitesten Sinne zu treffen und zu entlarven. Das sind vor allem die wirtschaftlich Interessierten und neben ein paar versprengten Ideologen die machtbesessenen Beamten in den Kultusministerien. Diese letzteren sind besonders schwer zu packen, weil sie die Reform nicht primär aus innerer Überzeugung verteidigen, sondern weil sie von dem unerschütterlichen Bewußtsein geleitet werden, der Staat könne keine Fehler machen.
(Sie würden gegebenenfalls auch das genaue Gegenteil der Reform mit der gleichen Unnachgiebigkeit durchzusetzen versuchen).


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 30.03.2005 um 13.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#524

[Gehört eigentlich in die "Diskussion", die mir aber leider den Zutritt verweigert.]

Nein, mit American Online hat der Lehrmittelverlag in Lichtenau nichts zu tun. Wundern muß man sich freilich, daß der Internetriese die Namensgleichheit duldet. Vielleicht versprechen sich beide so etwas wie einen Synergieeffekt. Des Rätels Lösung findet man auf dem Deutschen Bildungsserver, nämlich: "Institution Nr.1388: AOL Verlag - Frohmut Menze GmbH. AOL steht für: Arbeiten Organisieren Lernen. Verlagsschwerpunkt ist das selbstständige Lernen. Angeboten werden hierzu sowohl Selbstlernprogramme und Lernboxen als auch Arbeitsvorlagen, Projektvorschläge, Lernwerkstätten und Lernzirkelstationen. Sitz: Waldstraße 18, 77839 Lichtenau, DEUTSCHLAND"

Vor fünf Jahren hieß es bei AOL: "Frohmut ist Lehrer, Verleger, Soziologe, seit 1977 Mitglied der AOL, seit 1980 der Grünen, seit 1993 des Gesangvereins. Frohmut hat es nicht ertragen seine Lehrerkolleg/innen leiden zu sehen und nicht nur diese, (er leidet auch wenn sich Schüler/innen mit dem Lernen schwer tun) und deshalb hat er sich an Werk gemacht, um dies zu verändern. Heute stürzt er sich auf alle eingeschickten Manuskripte und dann plant er, telefoniert und überzeugt den Besuch, der sich bis an den Oberrhein gewagt hat. - Hertha steht ihm aufrecht zur Seite (und ist sogar ein kleines Stück größer als er). Gemeinsam sind sie unterwegs bei Verleger-Kolleg/innen oder auf den internationalen Messen - ein starkes Paar! Hertha ist neben ihrer Eigenschaft als Verlegerin aber vor allem auch Lektorin und Autorin, Spezialistin für Freiarbeit, offenen Unterricht & für die Ähnlichkeitshemmung."

Frohmut und Hertha haben übrigens die beste, nämlich faktenreichste Chronik der Rechtschreibreform zusammengestellt, die nun leider aus dem Internet verschwunden ist. Dort las man:

"April (1996): Die beiden Verlage AOL und Rowohlt schicken an alle 40.000 allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen das Taschenbuch: Die neue deutsche Rechtschreibung. Wörter und Regeln leicht gelernt (Rowohlt Sachbuch 60171, 9,90 DM). Durch diese Privatinitiative werden alle Schulen rechtzeitig über die neuen Schreibweisen und das geänderte Regelwerk informiert.

September (1996): In einer gemeinsamen Aktion von bbv [ = book-byte-vision, neuerdings zu lesen als "bringt Bildung voran" ebenfalls in Lichtenau, "Profit Center" von AOL] und Bertelsmann werden 40.000 Exemplare des neuen Wörterbuchs von Bertelsmann Lexikon: Die neue deutsche Rechtschreibung an alle allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen geschickt. In der Folge wird Bertelsmann neben Duden der zweite deutsche Wörterbuchverlag."

September (1997: In einer gemeinsamen Aktion überreichen die Verlage Shaker (Aachen) und AOL (Lichtenau.Baden) allen 672 Bundestagsabgeordneten die Chronik der Rechtschreibreform (Widerworte. "Lieber Herr Grass, Ihre Aufregung ist unbegründet!" Antworten an Gegner und Kritikder der Rechtschreibreform). Die Chronik wird eingeleitet durch den offenen Brief von Dr. Gerhard Schoebe an die Mitglieder des Deutschen Bundestages.

September (1997): In einer gemeinsamen Aktion von bbv und Bertelsmann werden 19.000 Exemplare des neuen Schüler-Bertelsmann an alle weiterführenden Schulen geschickt. Damit steht den Schülern das erste Werk zur Verfügung, das alle Wörter nur in der neuen Rechtschreibung enthält.

14. Juli 2005: Die internet-Adresse neue-rechtschreibung.de ist 7 Jahre alt. Altbundeskanzler Gerhard Schröder gratuliert in einem offenen Brief und bedankt sich für die unter dieser Adresse entstandene quasi "Zentrale Informationsstelle der deutschen Rechtschreibreform" bei Bettina Bauer, der jugendlichen Chefin des dynamischen Unternehmens book-byte-vision."

Und nun kommt der größte Witz: "Im Juli 1995 wird AOL Deutschland mit Sitz in Hamburg als Joint Jointure der Bertelsmann AG und AOL Europe gegründet", so die Unternehmensgeschichte des Internetgiganten, der außerhalb Amerikas ungern sein Kürzel auflöst. Man merke sich also: Wo immer man "AOL" liest - die Gütersloher sind dabei.

A propos: Wir beschäftigen uns zwei Monate zu spät mit AOL. Zum 1. Februar 2005 nämlich hätte dort jemand als Mitarbeiter/in für Akquisition und Organisation einsteigen können, und zwar für interessante Aufgaben: Das zum AOL Verlag gehörende Profit Center bbv (www.b-b-v.de) ist als Dienstleister im "Business-to-School-Marketing" tätig. Die Planung, Organisation und Durchführung von Omnibus-Werbung an Schulen ist Schwerpunkt dieses Geschäftsbereiches.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 30.03.2005 um 15.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#525

[Das folgende ebenfalls zum Diskussionfaden AOL - bislang fehlt auch mir die Möglichkeit, an der richtigen Stelle zu schreiben]

AOL, ursprünglich ein Kürzel für „Arbeitsgruppe Oberkirchener Lehrmittel“, war einer der ersten progressiv-pädagogischen Verlage, die durch das Reformgetöse der 70er Jahre groß geworden sind. Ich war damals noch selbst im Schuldienst und habe einmal bei AOL Lernhilfen bestellt – diese waren durch und durch ideologisiert, antikapitalistisch, antiamerikanisch, antichristlich, antiautoritär – anti in allen Variationen eben. Alles, aber auch alles an Kultur und Tradition wurde lächerlich gemacht. Die Lernhilfen selbst: Billigstprodukte, schlecht gesetzt, ja geradezu schlampig. Blätter im Schnelldruck, graphische Schmiererei - aber dafür umso progressiver.
Ich habe damals – Ende der 70er Jahre – die für einen seriösen Unterricht unbrauchbaren Unterlagen mit einer entsprechenden Begründung zurückgeschickt und postwendend einen bitterbösen Brief bekommen mit einer moralischen Standpauke. Die Kinder, die ich unterrichtete, seien arme Geschöpfe, und ich möge doch meinen Beruf lieber aufgeben als weiter Schüler zu quälen. Pfui und Schande über mich!

Kopf von AOL war damals noch der Lehrer Frohmut Menze zusammen mit seiner Ehegattin Hertha Beuschel-Menze (GEW-Mitglied) und Wilfried Stascheit, der später den "Verlag an der Ruhr" gegründet hat. Das Ehepaar Menze ist aus den frühen Tagen der Rechtschreibreform bekannt, so waren sie unter den Teilnehmern verschiedener konspirativer Zusammenkünfte. Es lockten wieder einmal kulturrevolutionäre Geschäfte. Frohmut Menze hat sich bei der Hau-Ruck-Umstellung seines bis dahin florierenden Verlags auf Neuschreibung aber doch etwas verhoben. Heute gehört AOL, was nichts mit „American Online“ zu tun hat, zur Klett-Gruppe. Das flotte Profil ist jedoch erhalten geblieben, wie man an den Veröffentlichungen sehen kann. Ohne AOL-Kärtchen geht nix beim Lernen der deutschen Rechtschreibung!

Übrigens: Das Buch „Die neue Rechtschreibung“ im rororo-Verlag (Hertha Beuschel-Menze und Frohmut Menze) ist im Februar 2004 in 8. Auflage erschienen. Beim Lesen muß man gleichzeitig weinen und lachen. Man bekommt dort Ratschläge wie folgt:
„Es ist sicherlich sinnvoll, wenn sich Unternehmen, Verlage, Redaktionen, Schulen und Verwaltungen hausintern auf eine einheitliche Schreibung einigen.“ Es lebe die Hausschreibung – auch für Schulen!
Frohmut Menze und seine Frau haben übrigens einen neuen Verlag gegründet unter dem Namen „mehrzu.de“. In einer „Wunschliste an Autorinnen und Autoren“, die 22 Punkte umfaßt, teilt das Ehepaar dem staunenden Aspiranten um Autorenschaft folgendes mit:

„Beachten Sie die Regeln der Rechtschreibung und Zeichensetzung. Beherrschen Sie diese nicht ausreichend und ist Ihr Rechtschreibprogramm veraltet, bitten Sie einen Menschen Ihres Vertrauens um Korrektur, bevor Sie uns das fertige Manuskript abliefern (Bei uns wird zwar immer noch einmal Korrektur gelesen – das ist aber nur dann erfolgreich, wenn das Manuskript so korrekt wie möglich ist). Wir verwenden die Variante 1 der neuen Rechtschreibung (wenn die Schreibweise freigestellt ist, arbeiten wir mit der Variante 1, das ist die, die dem Sinn der neuen Regeln näher kommt).“



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.03.2005 um 16.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#526

Die "Chronik" hat mir auch zu denken gegeben, als ich sie vor einigen Jahren entdeckte, nicht zuletzt wegen der Prophezeiung, daß Bundeskanzler Schröder am 14. Juli 2005 nicht mehr im Amt sein werde.
Wie ich an anderer Stelle bereits berichtet habe, vertrat die Rechtschreibunternehmerin Beusch-Menze bei der Mannheimer Anhörung ausgerechnet die GEW. Ihr Mann saß die ganze Zeit neben ihr, obwohl er nicht eingeladen war und der Versammlung nicht vorgestellt wurde, und ich hatte den Eindruck, daß die beiden ohnehin beim IDS aus und ein gingen. Eine von vielen Merkwürdigkeiten dieser Veranstaltung, die ja nicht ohne Grund in den Selbstdarstellungen der Reform meist verschwiegen wird.
Die Ranschburgsche Ähnlichkeitshemmung ist sozusagen die Geschäftsidee von Frau Beuschel-Menze. Ihr Mann hat mir mal einen Brief geschrieben, aus dem ich nicht zitieren möchte, auf den ich aber schlechterdings auch nicht antworten konnte.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 02.04.2005 um 13.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#532

Heute äußert sich Dieter E. Zimmer [Rechtschreibreformer der ZEIT] in der WELT zur Rechtschreibsituation - unbedingt lesen! Hier eine Leseprobe:

In dem Bedürfnis nach einheitlichen Rechtschreibregeln steckt immer ein sehr konservatives Element. Das ist gut so. Wir wollen, daß jedes Wort auf eine immer gleiche Weise geschrieben wird, weil wir es so am leichtesten lesen können. [...] Das System der Laut-Buchstaben-Beziehungen selbst muß nicht dauernd angepaßt werden. Die Regeln, nach denen wir uns schriftlich ausdrücken, ergeben sich nicht von selbst. Es muß eine Instanz da sein, die diese Regeln festlegt. Im Grunde sind sie willkürlich. Es gäbe ganz verschiedene Möglichkeiten, die Lautfolgen einer Sprache mit Schriftzeichen wiederzugeben. Dieser "Willkürakt" hat sich in jeder Sprache anders vollzogen.[...] Die Rechtschreibung war nie das Werk des Volkes, sondern immer das einiger Sprachwissenschaftler und Schulbürokraten. Sie entwickelten orthographische Regeln, die streng genommen nur in den Schulen galten, die aber die Allgemeinheit dann nicht ungern übernahm. Abgestimmt wurde da nie. Außerhalb der Schule durfte und darf ja auch jeder schreiben, wie er will. Wer sich nicht an die Regeln der Schulorthographie hält, bekommt dafür keinen Strafbefehl.

Ich halte diesen Zank um die Rechtschreibreform für maßlos überzogen, und auch für verlogen. Es geht im Grunde gar nicht um die Rechtschreibung selbst, für die sich sonst kaum jemand je interessiert hat.[...] An der Rechtschreibreform lassen viele ihren allgemeinen politischen Unmut aus. Die Gesundheitspolitik etwa mißfällt vielen, aber sie müßten leider einräumen, daß sie nichts davon verstehen. Von Rechtschreibung glaubt jeder etwas zu verstehen, sobald er einigermaßen richtig schreiben kann. Da hält er die "Katastrofe" für eine Katastrophe, auch wenn sie ihm gar nicht zugemutet wird.

Ich will nicht so klingen, als wäre ich ein großer Fan der neuen Rechtschreibung. Ich sitze zwischen den Stühlen ihrer Freunde und Feinde, und da sitze ich ganz gut.[...] Eine wirklich vereinfachte Orthographie wäre ein so enormer Traditionsbruch - und damit ein so großes Ärgernis -, daß sie politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Heute erst recht nicht. Eine konsequente Vereinfachung der Orthographie ist gar nicht wünschenswert. Insofern kann keine Reform mehr als Flickwerk sein. Das bedeutet aber nicht, daß man sämtliche Widersinnigkeiten hinzunehmen hätte, ob die der alten oder die der neuen Rechtschreibung. Darum besteht nach wie vor Nachbesserungsbedarf.

So spricht jemand, der seit 1995 nicht dazugelernt hat. Noch immer sind es die Schulbürokraten, deren willkürliche Festlegungen stets begierig übernommen wurden, geht es um "Regeln", die zu befolgen sind. Zum Glück hat die Diskussion während der letzten zehn Jahre die Wahrheit über Herkunft und Funktionieren der Rechtschreibung an den Tag gebracht. An einigen Zeitgenossen ist das alles spurlos vorübergegangen.


Kommentar von Red., verfaßt am 03.04.2005 um 10.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#536

Weitere Beiträge zum Zimmer-Interview in der Welt wurden hierher verschoben.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.01.2017 um 18.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=224#10742

Zur Diskussion um Sabine Mayrs "Prädikativ ist out":

Im Regelwerk von 1996 kam der Ausdruck "prädikativ" tatsächlich nicht vor, aber im Zuge der Revision tauchte er wieder auf.



nach oben


Als Schutz gegen automatisch erzeugte Einträge ist die Kommentareingabe auf dieser Seite nicht möglich. Gehen Sie bitte statt dessen auf folgende Seite:
www.sprachforschung.org/index.php?show=newsC&id=224#kommentareingabe
Kopieren Sie dazu bitte diese Angabe in das Adressenfeld Ihres Browsers. (Daß Sie diese Adresse von Hand kopieren müssen, ist ein wichtiger Teil des Spamschutzes.)
Statt dessen können Sie auch hier klicken und die Angabe bei „news“ von Hand im Adressenfeld ändern.


Zurück zur vorherigen Seite | zur Startseite


© 2004–2018: Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.

Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

Webhosting: ALL-INKL.COM