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25.07.2004
 

Reinhard Markner
Das nichts Sagendste
Eine Bilanz der Rechtschreibreform

Reinhard Markner, Vorsitzender der Forschungsgruppe Deutsche Sprache, hat in der SZ vom 24./25. Juli auf S. 13 unter dem Titel „Das nichts Sagendste“ eine sehr kritische Bilanz der Reform gezogen. Hier die ungekürzte Fassung des von der SZ aus Platzgründen leicht gekürzten Beitrages:

Die amtliche deutsche Rechtschreibung ist nicht konsensfähig. Das ist nicht ihr einziger Mangel, aber ihr bedeutendster. Sprache dient der Verständigung und beruht zugleich auf ihr. Die nötige Übereinkunft unter den Sprechenden ergibt sich gewöhnlich von allein. Gleiches gilt für die Schreibenden und ihre Konventionen. Orthographische Regeln müssen keineswegs auf Regierungskonferenzen festgelegt werden, um allgemeine Geltung zu erlangen. Ganz im Gegenteil, wie das Beispiel des 1996 in Wien von Vertretern mehrerer Staaten gutgeheißenen Regelwerks der deutschen Rechtschreibung zeigt.

Als das Bundesverfassungsgericht im Juli 1998 eine Klage gegen dessen Einführung an schleswig-holsteinischen Schulen abwies, vertraute es darauf, „daß nach der nicht zu beanstandenden Prognose der Kultusverwaltung die Rechtschreibreform die für eine Sprachgeltung notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde“. Tatsächlich aber hat sich die Akzeptanz der Reformrechtschreibung in der Bevölkerung seit ihrer Einführung an den Schulen, in den Behörden, in Betrieben und Medien nicht nennenswert verbessert. Das belegen regelmäßig wiederholte Umfragen des Allensbach-Instituts. Seit 1997 ist der Anteil derjenigen, welche die Reform befürworten, von 10 auf 13 Prozent angestiegen. Deutlich gewachsen ist nur die Zahl der Gleichgültigen. Deren Resignation ist nach Jahren der politischen Blockade nicht verwunderlich.

Andere Repräsentativumfragen zeigen ein ganz ähnliches Bild; größere Abweichungen gehen zumeist auf unterschiedliche Fragestellungen zurück. Vor zwei Jahren ergab eine Erhebung zum Sprachgebrauch von 18- bis 45jährigen Deutschen, daß ganze zwei Prozent der Befragten sich angesichts der Frage „Wenn Sie an die Umsetzung der neuen Rechtschreibung denken, was meinen Sie?“ für die Antwort entschieden: „Eine gute Sache. Vor allem die Kinder lernen vieles leichter.“

Die allgegenwärtige Verwendung von Reformschreibungen beruht also zum weit überwiegenden Teil nicht auf Überzeugung der Schreibenden, sondern auf Zwängen und Vorgaben – dienstlichen Anweisungen ebenso wie Voreinstellungen der gängigsten Textverarbeitungsprogramme. Dennoch manifestiert sich die Verweigerung noch im umgestellten Schreibgebrauch selbst, denn die im amtlichen Regelwerk lediglich zur Wahl gestellten Neuschreibungen führen ein klägliches Dasein. Spagetti und Krepps stehen nirgends auf dem Speiseplan, Kosmetikhersteller vertreiben keine Aftershavelotion, Tanzlehrer lehren keinen Twostepp. Die Sprachplaner haben ihre Neologismen am Bedarf vorbei produziert.

Seit 1996 sind die Lehrer gehalten, eine orthodoxe Auslegung der neuen Rechtschreibung zu unterrichten, die außerhalb der Schulen praktisch unbekannt ist. So weigerten sich die deutschsprachigen Presseagenturen, die veränderte Kommaregelung zu übernehmen. Sie beschlossen im Januar 1999, bei der bisherigen Zeichensetzung zu bleiben, „um die Lesbarkeit ihrer Nachrichten … zu gewährleisten“. In den meisten Schul- und Kinderbüchern hingegen wurden alle Kommas getilgt, die zu streichen das Regelwerk erlaubt. „Er traf sich mit meiner Schwester und deren Freundin war auch mitgekommen“, lautet einer seiner wunderlichen Beispielsätze. Der PISA-Studie zufolge haben deutsche Schulkinder Schwierigkeiten mit dem Erfassen und Verstehen von Texten. Die ihnen beigebrachte Zeichensetzung kann dieses Problem nur verschärfen.

Es bleibe „abzuwarten, inwieweit sich in den kommenden Jahren die neue Schreibweise auch bei den Eltern durchsetzen wird“, entschieden die Verfassungsrichter. Bei vielen ist die alte Schreibung mit neuer durchsetzt und umgekehrt. Aber das war mit Durchsetzung wohl nicht gemeint. Die Konturen der neuen Rechtschreibung sind etwas unscharf, in der Praxis ebenso wie in der Theorie. Die reine Lehre von 1996 steht noch in den Schulbüchern, ist aber längst verworfen. Damals galt zum Beispiel noch, daß es blutstillend heißen müsse, aber Blut saugend. Einige Jahre darauf wurde blutsaugend heimlich wieder in die Wörterbücher aufgenommen, draußen bleiben mußte unter anderem feuerspeiend. Jetzt sollen alle getilgten Wörter dieser Art – und manche anderen Schreibungen – wieder amtlich zugelassen werden.

So Leid es uns tut
„Die Kritik an der angeblichen ‚Wortvernichtung‘ erledigt sich damit“, ließen die Kultusminister ebenso barsch wie irreführend mitteilen. Denn diese Kritik wird einerseits durch die geplante Regeländerung glänzend bestätigt, andererseits aber noch lange nicht gegenstandslos, da andere Wörter – fertigstellen, Handvoll, kennenlernen, Zeitlang und viele mehr – weiterhin auf dem Index und nicht im Duden stehen.

Das von der Kultusministerkonferenz Anfang Juni beschlossene Update der Reform ist ein Patch, das kaum einen Programmierfehler wirklich behebt. Die Prognose, daß die Popularität der Reform auch weiterhin auf niedrigem Niveau stagnieren wird, dürfte daher kaum zu beanstanden sein. Niemand sehnt sich nach der amtlich verordneten Freiheit, künftig bei Weitem oder bei weitem, 8fach oder 8-fach, Leid tun oder leidtun schreiben zu dürfen. Die Minister sind den Empfehlungen der von ihnen eingesetzten Kommission gefolgt und haben zugleich deren Entlassung verkündet. Es gibt Möglichkeiten, Unzufriedenheit eindeutiger zu artikulieren, und viele Deutsche haben von ihnen Gebrauch gemacht, beim schleswig-holsteinischen Volksentscheid 1998 und seither in ungezählten Meinungsumfragen. Nach wie vor gilt die schlichte Feststellung von Günter Grass: „Eine Rückkehr zur alten Rechtschreibung entspräche dem wohlbegründeten Willen der Mehrheit der Bürger.“

Von einem „wohlbegründeten Willen“ kann die Rede sein, weil die reformierte Rechtschreibung der bewährten in vielfältiger Weise unterlegen ist. Der Letzte Wille der Rechtschreibkommission besagt, daß manche Getrenntschreibungen falsch werden (nebenher laufen, vornüber kippen usw.), viele nicht mehr obligatorisch sind (Rad fahrend neben radfahrend), andere es aber bleiben (heilig sprechen, Hand voll, Zeit lang usw.). An der grundsätzlichen Untauglichkeit dieses besonders ambitionierten Bereichs der Neuregelung ändert sich nichts. Auch von ihrer Silbentrennung haben sich die Reformer nicht trennen wollen. In ihrem letzten Bericht versuchten sie zu beweisen, daß vollenden „für viele Sprachteilhaber/innen“ nicht mehr als Zusammensetzung erkennbar sei und es deshalb zwingend bei der Trennung vol-lenden bleiben müsse. Auf der Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben (O-blate, Buche-cker usw.) bestanden sie ebenso wie auf dem schlechterdings barbarischen Zerhacken von Lehnwörtern (Demok-ratie, Ins-trument usw.). „Keinen Handlungsbedarf“ sah die Kommission auf dem Gebiet der ebenfalls nicht gesellschaftsfähigen Zeichensetzung. Und mit Blick auf Tipp, Tollpatsch und Tunfisch stellte sie formvollendet klar: „Die Kommission befürwortet im Bereich der Laut-Buchstaben-Zuordnungen eine Rücknahme neuer Schreibungen nicht.“

Viel Mühe ist auf die sprachwissenschaftliche Kritik der Reformvorschläge verwandt worden. Die dabei besonders herausgestellten regelgerechten Abnormitäten waren erschreckend genug: so Leid es mir tut, wie Recht du doch hast, noch tief schürfender, das nichts Sagendste usw. Weniger Aufmerksamkeit haben die kreativen Leistungen jener Schreibenden gefunden, die in ihren Texten mögliche Weiterungen der Reform vorführen. Aber Tripp, Pepp und Schnippsel (wegen Tipp und Stepp) sind ebenso bemerkenswerte Schöpfungen wie Aufwändung und auswändig (wegen aufwändig) oder Heilig Abend (wegen heute Abend). Daß die orthographische Verwirrung so allgemein wie konstant ist, bezeugen Formen wie zum Beispiel kurzer Hand, am Besten, Abends, zurück treten, hinterher gegangen und Blut leer. Nicht zu vergessen das Hauptmerkmal der Reform, die veränderte ss/ß-Schreibung, für die manche Verständniss haben, andere ausserdem auch viel Spass – jedenfalls solange die zahllosen Fehler in der Schule noch nicht notenrelevant sind. „Von der Rechtschreibreform sind Einige richtiggehend paralysiert worden, so dass sie ihren naturgegebenen Sprachsinn oft vorsichtshalber ausschalten, um ja nichts verkehrt zu machen“, hat Hermann Unterstöger einmal in dieser Zeitung geschrieben – und zur Bekräftigung seiner These „Einige“ mit einem großem E versehen. Aber die Ausschaltung des Sprachgefühls war geradezu Programm und jedenfalls notwendige Folge einer Reform, die sich in weiten Bereichen als ein System willkürlicher Festlegungen präsentiert: Hoch gelehrt, aber hocherfreut, bankrott sein, aber Bankrott gehen, zusammenfügen, aber aneinander fügen, zurande oder zu Rande, aber nur zu Ende und nur zurzeit.

Die Neuregelung sollte den Schülern ebenso wie erwachsenen Schreibern Erleichterungen bringen. Diesen Hauptzweck hat sie nachweislich verfehlt; nichts ist leichter, vieles dafür unerträglich geworden. Bezeichnenderweise ist die Rechtschreibkommission nicht imstande gewesen, wissenschaftliche Erhebungen vorzulegen, die eine Fehlerverminderung bewiesen hätten. Auch ihr langjähriger Vorsitzender Gerhard Augst mochte einen solchen Effekt zuletzt nur noch für eine unbestimmte Zukunft versprechen: „Die Leistungen wurden schlechter, jetzt sind sie wieder gleich; und sie werden besser werden.“ Das müßten sie aber, den ursprünglichen Prognosen zufolge, längst sein.

Traum verloren
Eine gute Rechtschreibung ist kulturelles Kapital, für den einzelnen und für alle. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts verfügte der deutsche Sprachraum über eine nahezu vollständig einheitliche Rechtschreibung. Wie wertvoll ein solcher Besitz ist, zeigt sich daran, daß das Nebeneinander konkurrierender orthographischer Systeme in den betroffenen Ländern als störend empfunden wird. So dienten die 1995 vorgenommenen Änderungen an den niederländischen Rechtschreibregeln nicht zuletzt der Wiederangleichung der belgischen und niederländischen Schreibgewohnheiten. Sollten die hiesigen Reformer je eine ähnliche Absicht verfolgt haben, so kamen sie zu keinem Ergebnis. Die einzige wesentliche Abweichung blieb bestehen, und die Tatsache allein, daß die Schweiz keine Wiedereinführung des ß wünschte, wäre Grund genug gewesen, es unbehelligt zu lassen. Aber die Reformer, deren Kleinschreibungstraum geplatzt war, mußten wenigstens einen auf jeder Seite spürbaren Eingriff in das gewohnte Schriftbild durchsetzen. Nur so konnte es gelingen, mehrere Milliarden Bücher zu Mängelexemplaren zu stempeln, fortan „überholt“ aufgrund der Wiederbelebung einer von einem schwäbischen Pastor schon im Jahre des Herrn 1777 propagierten ss-Schreibung. Bliebe es dabei, wäre damit nicht nur ein immaterieller Schaden verbunden.

Schwindelerregende Höhen erreichen mittlerweile die Schätzungen der Schulbuchverleger, was der anstehende „Rückbau“ (also Abriß) der Reformruine kosten wird. Andreas Baer, ihr Verbandssprecher, beziffert die Kosten auf 250 Millionen Euro. Schon vor acht Jahren rechnete er mit möglichen Verlusten von 200 Millionen Mark. Seitdem haben sich seine Überschlagsrechnungen immer weiter überschlagen. Sie seien „erkennbar aus der Luft gegriffen“, kommentierte die Zahlen jüngst ein Mitglied des Verbandes. Etwas bedenklich klingen auch die Einlassungen eines Verlagsleiters über die Jugendgefährlichkeit herkömmlicher Orthographie: „Unsere Bücher müssen sich jeden Tag in den Buchhandlungen zur Wahl stellen. Und dort kauft seit 1996 kein verantwortungsbewusster Erwachsener für seine Kinder noch Bücher in alter Rechtschreibung“, behauptet Ulrich Störiko-Blume, Chef des Hauses Beltz & Gelberg.

Die Sorgen der Branche muß man dennoch ernstnehmen, zumal sie, anders als manchmal unterstellt wird, nicht an der Reform verdient hat. Gleiches gilt für die Kinder- und Jugendbuchverlage. Eine Wiederholung der in den vergangenen Jahren mancherorts veranstalteten Säuberungsaktionen in Schul- und Stadtteilbibliotheken darf nicht stattfinden. Aus Sicht der Kultusminister und Ministerpräsidenten sollte allerdings die Verantwortung für die Schüler schwerer wiegen als die für die Schulbuchverleger. Von der Verantwortung für die Sprache zu schweigen.

Der Autor ist Vorsitzender der Forschungsgruppe Deutsche Sprache und arbeitet als Historiker in Halle und Berlin.


Quelle: Buchmarkt bzw. Süddeutsche Zeitung
Link: http://www.buchmarkt.de


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