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17.08.2004
Friedliche Koexistenz
Eine kleine Geschichte der chinesischen Schrift und ihrer Reformen
Am 31. Oktober 2000 verabschiedet der Ständige Ausschuß des Nationalen Volkskongresses von China das »Gesetz zu Sprache und Schrift«. Nach jahrzehntelangen Bemühungen, die chinesischen Schriftzeichen zu vereinfachen und ihre Zahl zu verringern, wird die Koexistenz mehrerer Schriftsysteme anerkannt und in den Bereichen Kunst und Wissenschaft der Gebrauch der alten Zeichen ausdrücklich zugelassen.
Die Wiener Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik beschreibt die für chinesische Verhältnisse bemerkenswert offene und öffentliche Kritik, die schließlich zum Stopp der Schriftreformen und neuerdings sogar zur Renaissance der alten, vermeintlich zu komplizierten Schriftzeichen führte.
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Kommentar von F.A.Z., verfaßt am 19.10.2005 um 19.46 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=77#2117
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»Zeichenschrift für Chinesen wichtig
Zum Artikel "Zurück zum Bewährten - Chinas Schriftreform" von Weigelin-Schwiedrzik (F.A.Z. vom 18. August):
Das "Große Schriftzeichenlexikon der Chinesischen Sprache" (Hanyu Da Zidian) verzeichnet über 56 000 Zeichen. Die 495 verkürzten Zeichen und Zeichenelemente, die in den 2236 Kurzzeichen der Schriftreform von 1964 enthalten sind, gehen bis auf ein einziges Zeichen alle auf Kurzformen zurück, die auch schon früher im handschriftlichen Gebrauch oder im Druck vorhanden, wenn auch nicht immer üblich waren. Die Umstellung von den traditionellen Langzeichen zu den Kurzzeichen fällt leicht (nicht umgekehrt). Die wieder zurückgenommenen 183 Kurzzeichen von 1977 waren nicht alle glücklich gewählt - doch schon vor 1977 fand man zum Beispiel in handgeschriebenen Speisekarten viele solcher Zeichen, die auch heute noch zuweilen vorkommen, weil sie doch ganz praktisch sind. Die Kurzzeichen sind gewiß ein Segen für Schulkinder und Halbanalphabeten; Untersuchungen haben ergeben, daß die Schriftbeherrschung bei Schulkindern der VR China deutlich höher ist als in Japan oder Singapur. Bis Anfang der achtziger Jahre gab es Überlegungen, die Schriftzeichen überhaupt durch Lateinschrift zu ersetzen; ein chinesisches Kind verbringt insgesamt drei bis vier Lernjahre mehr mit dem Schreibenlernen als ein europäisches (was auf Kosten des anderen Unterrichts geht), und die Verständlichkeit eines in Umschrift geschriebenen Textes (natürlich mit diakritischen Zeichen für die vier Töne) ist nicht geringer als die der gesprochenen Sprache.
Freilich liest man Zeichen infolge ihres höheren Informationsgehaltes schneller als Buchstaben, was jeder bemerkt, der auf einer chinesischen Autostraße die Wegweiser blitzschnell lesen muß; und vor allem: chinesische Intellektuelle verspüren einen traditionellen Widerwillen gegen die Lateinschrift und haben wenig Interesse, diese korrekt zu erlernen. Die Abschaffung der Zeichenschrift wäre für die chinesische kulturelle Tradition noch verhängnisvoller, als es die Abschaffung des Lateinunterrichts in Europa ist. Seit es gute Computerprogramme gibt, spricht niemand mehr von Lateinschrift. Doch ist der Computer nicht nur segensreich. Da man das richtige Zeichen leicht im Menü heraussuchen kann, wird die passive Beherrschung mehr gefördert als die aktive; Schreibfähigkeit und feinmotorische Übung der Hand (die den Geist ebenso fördert, wie es das Klavierspielen tut) nehmen ab.
Professor Dr. iur. Ulrich Manthe, Passau«
( F.A.Z./Briefe an die Herausgeber, 18.09.2004, Nr. 218 / Seite 19 )
»Ich lese, also schreibe ich
Wie Chinesen lernen, Texte zu entziffern: Die Handbewegung zählt
Das Lesen einer alphabetischen Sprache lernt man eher durch Zuhören als durch Schreiben. Die Zuordnung von Laut und Buchstabe gilt als grundlegende Voraussetzung zum Lesen. Im Chinesischen scheint das genau umgekehrt zu sein. Dort scheint man das Lesen eher durch Schreiben als durch Zuhören zu lernen. Der manuelle Akt des Schreibens und die Aufmerksamkeit für das Schriftbild sind für das Lesen chinesischer Schriften offensichtlich wichtiger als das Erkennen von Lauten und Silben. Damit fällt ein zentrales Dogma der Spracherwerbsforschung, das besagt, daß ein geschriebenes Wort über die Verknüpfung mit der gesprochenen Sprache erkannt wird.
Das Dogma scheint demnach nur für die alphabetischen Sprachen zu gelten, nicht für die Symbolsprachen. Zu dieser Erkenntnis sind Wai Ting Siok und seine Kollegen von den Universitäten in Hongkong und Washington gelangt. Ihre Untersuchungen sind in den "Proceedings" der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften (Bd.102, S.8775) nachzulesen.
Nahezu alle Untersuchungen zum Erwerb der Lesefähigkeit sind bisher mit den alphabetischen Sprachen vorgenommen worden. Bei diesen Sprachen besitzt jedes Wort einen eindeutigen Sinninhalt, und jedes Wort läßt sich durch die Buchstabenfolge eindeutig bestimmen. Im Chinesischen ist die Situation anders. Die chinesische Sprache besteht aus vielen Homonymen. Das sind Wörter, die gleich lauten, aber eine andere Bedeutung haben. Beim Sprechen erkennt man die Bedeutungen an der Tonhöhe, beim Lesen am Zusammenhang. Der Laut "shi" etwa steht für zehn verschiedene Schriftzeichen, die wiederum einige Dutzend Bedeutungen haben können.
Die chinesische Schrift hat noch eine weitere Besonderheit, und zwar die Art, wie sie geschrieben wird. Die Schriftzeichen sind ein dichtgepacktes Quadrat aus Strichen und Schwüngen. Dieses Quadrat besitzt enorme visuelle Komplexität. Es wird in einer hochgeordneten Bewegung niedergeschrieben, in der die Strichführung genau festgelegt ist. Wer Chinesisch lesen will, muß also eher auf die Integration von komplexer Orthographie, Bedeutung und Aussprache zurückgreifen können als auf die Koppelung zwischen Laut und Buchstabe.
Welche Fähigkeiten für das Lesen der chinesischen Schrift im einzelnen gebraucht werden, haben Wai Ting Siok und seine Kollegen jetzt mit zwei Experimenten untersucht. Beim ersten Experiment wurde geprüft, welchen Einfluß korrektes Schreiben, Lautbewußtsein und die Fähigkeit der schnellen Worterkennung auf die Lesefähigkeit haben. Allen drei Fähigkeiten wird eine hohe Bedeutung beim Lesen einer alphabetischen Sprache nachgesagt. Beim zweiten Experiment wurde geprüft, welchen Einfluß korrektes Schreiben und Zeichnen auf die Lesefähigkeit haben. Zeichnerische Fähigkeiten gelten für das Lesen einer alphabetischen Sprache als bedeutungslos.
Getestet wurden 131 Schulkinder aus einer Schule in Peking. Alle sprachen den gleichen Dialekt, der in der Schule auch unterrichtet wurde. Die Hälfte der Schulkinder waren Leseanfänger im Alter zwischen sieben und acht Jahren. Die andere Hälfte besaß einige Erfahrung mit dem Lesen und war neun bis zehn Jahre alt.
Beim ersten Experiment mußten die Kinder chinesische Schriftzeichen so schnell und so exakt wie möglich nachschreiben. Sie mußten in einer Folge von vier Lauten den Laut erkennen, der nicht zu dem vorgegebenen Muster paßte. Sie mußten aus einem dreisilbigen Wort eine Silbe entfernen und das aus zwei Silben bestehende Wort nachsprechen. Und sie mußten Dinge zügig beim Namen nennen. Diese Fähigkeiten wurden dann mit der Lesefähigkeit der Kinder in Beziehung gesetzt. Dabei bestand ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Lesefähigkeit und dem genauen Schreiben der Schriftzeichen sowie zwischen der Lesefähigkeit und der schnellen Wortfindung. Es bestand kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Lesefähigkeit und dem Lautbewußtsein. Das galt für geübte und ungeübte Leser der chinesischen Schrift gleichermaßen.
Daß das Schreiben eine hohe Bedeutung für die Lesefähigkeit hat, konnten Wai Ting Siok und seine Kollegen im zweiten Experiment bestätigen. Die Aufgabe, die es dabei zu lösen galt, bestand darin, frei erfundene und den Kindern unbekannte Schriftzeichen richtig und schnell nachzuschreiben sowie gängige, aber mit den Schriftzeichen nicht in Beziehung stehende Symbole nachzuzeichnen. Bei diesem Experiment zeigte sich eine hohe Korrelation zwischen der Lesefähigkeit und der Fähigkeit, Phantasiezeichen schnell und richtig nachzuschreiben. Die allgemeinen Zeichenkünste hatten keinen Einfluß auf die Lesefähigkeit. Wai Ting Siok und seine Kollegen schließen aus diesen Ergebnissen zweierlei: Beim Lesen der chinesischen Schrift scheint es zum einen auf eine feste Fixierung der für das Schreiben notwendigen Handbewegung im Gehirn anzukommen. Die Schriftzeichen werden also offensichtlich auch über die Schreibbewegung gespeichert und sind über diese Information beim Lesen abrufbar. Zum anderen scheint eine hohe Aufmerksamkeit für das korrekte Schriftbild notwendig zu sein.
Die Wissenschaftler betonen, daß ihre Ergebnisse zunächst nur für das Lesen der chinesischen Sprache gelten, vermutlich aber auch auf andere Symbolsprachen übertragbar sind. Für das Lesen generell gilt, daß es verschiedene Wege des Erwerbs geben muß und daß die dafür notwendigen Fähigkeiten nicht für alle Sprachen gleich sein müssen. HILDEGARD KAULEN«
( F.A.Z., 13.06.2005, Nr. 134 / Seite 30 )
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Kommentar von F.A.Z., 15.03.2006, Nr. 63 / Seite 41, verfaßt am 14.03.2006 um 18.36 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=77#3528
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Wörterbuchkampf
Ein linguistischer Kohlhaas hat vor einem Schanghaier Gerichtshof Klage gegen ein Bücherkaufhaus erhoben, weil es ein seiner Auffassung nach gravierend irrtümliches Wörterbuch verkauft. Wie chinesische Medien berichten, will der sechsundfünfzig Jahre alte Chen Dingxiang in der zehnten Ausgabe des "Xinhua Wörterbuchs" mehr als viertausend falsche oder ungenaue Angaben bei Wortdefinitionen und Anwendungen gefunden haben. Diese Qualitätsmängel verletzten nicht bloß die Rechte der Verbraucher, sondern fügten auch ihrem Wissen schweren Schaden zu, gab Chens Anwalt zu Protokoll. An der Zuverlässigkeit des Buchs zweifelt Chen seit 1998, als seine Tochter ihn nach einem Wort fragte und er bei einem Substantiv und einem Adjektiv, wie er meinte, unzutreffende Anwendungsvarianten fand. In der Presse wurde das Wörterbuch hingegen allgemein als untadelig gepriesen. Empört gab Chen seine Arbeit als stellvertretender Generalmanager auf, um sich ganz der linguistischen Recherche zu widmen. Im Internet ist Chens Klage umstritten; manche werfen ihm Geltungssucht und einen Mißbrauch des Rechtssystems vor. Chen verklagt das Kaufhaus auf doppelte Erstattung des Einkaufspreises, eine öffentliche Entschuldigung und zwanzigtausend Yuan (umgerechnet etwa zweitausend Euro) Schmerzensgeld. Si.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2011 um 11.41 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=77#8789
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Falls sich übrigens jemand für das Chinesische interessiert, kann ich einen Anfängerkurs im Internet empfehlen: Growing up with Chinese. Am besten, man steigt über Wikipedia ein, da kann man gleich die Lektion anklicken, die einen interessiert. Die Chinesen sprechen normal schnell, aber die amerikanische "Lehrerin" (die auch die Hauptfigur in einem der verbreitetsten Chinesischkurse mit Buch, DVD usw. ist) spricht sehr deutlich und macht ihre Sache überhaupt sehr gut. Am Anfang fühlt man sich vielleicht überfordert, aber durch ständige Wiederholung hört man sich ein.
Auf derselben Seite des chinesischen Fernsehens gibt es noch weitere Kurse, auch für Fortgeschrittene, die alle sehr gut gemacht sind. Was für phantastische Möglichkeiten es heute gibt! Man müßte noch mal jung sein ...
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.07.2018 um 05.06 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=77#10957
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In den fünfziger Jahren fand in China eine Rechtschreibreform statt, die die Schriftzeichen vereinfachte. Die mit der neuen Schrift aufgewachsene Generation kennt die alten Symbole nicht mehr und liest die Klassiker in westlichen Übersetzungen. Sie kann mit Glücksplätzchen mehr anfangen als mit der Weisheit des Yi Jing. (Rez. zu Lutz Geldsetzer/Hong Han-ding: Grundlagen der chinesischen Philosophie. Stuttgart 1998, in FAZ 9.2.99)
Tatsächlich kann man die chinesische Schriftreform als Rechtschreibreform bezeichnen. Dagegen ist die Umstellung auf lateinische Alphabetschrift eine Schriftreform.
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Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 29.07.2018 um 10.47 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=77#10958
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Als ich meiner hübschen ersten Chinesisch-Lehrerin die Geschichte in klassischem Chinesisch, bestehend nur aus 53mal der Silbe „yi“, in meiner 26bändigen Collier‘s Encyclopedia zeigte (das einzige, was ich in 45 Jahren des öfteren dort nachschlug), sagte sie, das bedeute nichts. Als sie dann die alten Zeichen analysierte, die ja meist Teile der neuen enthalten sollen, mußte sie zugeben: „Ja, ja, ja doch ...“ Aber heute seien die Wörter doch meist zu zweisilbigen erweitert.
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