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08.12.2010
 

Stefan Stirnemann
Diktat von oben
Die Schweizer Rechtschreibräte – Herren der Rechtschreibung

In der Schweizer „Weltwoche“ legt Stefan Stirnemann dar, woran die Reform der Rechtschreibreform gescheitert ist: Es liegt an der Verstrickung von Gremien und Verlagen.

Im Dezember des Jahres 2004 wurde der Rat für deutsche Rechtschreibung eingesetzt, um die Fehler der Rechtschreibreform zu korrigieren. Unter politischem Druck konnte er seine Arbeit nur halb tun, und unsere Rechtschreibung ist in Kernbereichen nach wie vor weder einheitlich noch sprachrichtig. Jetzt endet die erste Amtsperiode des Rates, und es sollte in öffentlicher Debatte geprüft werden, wie der Rat als Ganzes und wie seine Schweizer Mitglieder gearbeitet haben.

Für falsch halte ich, dass das Amt der beiden Schweizer Mitarbeiter Peter Gallmann und Thomas Lindauer verlängert wird; sie tragen als Reformer Mitverantwortung am Debakel und müssen von den Korrekturarbeiten ausgeschlossen werden. Dass diese Reform ein Debakel ist, braucht nicht langfädig bewiesen zu werden. Das Urteil ihrer Auftraggeber, der deutschen Kultusminister, genügt: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ Dies sagte Johanna Wanka, Präsidentin der Kultusministerkonferenz.

Für falsch halte ich auch, dass Schweizer Ratsmitglieder Geschäfte mit der Rechtschreibung machen, indem sie Lehrmittel verfassen oder herausgeben. Öffentliches Amt und Geschäft sind zu trennen. Es kommt dazu, dass diese Lehrmittel fehlerhaft sind und dass ihre Autoren immer noch rückwärts schauen und auch an solchen Grundsätzen der verunglückten Reform festhalten, welche der Rat für Rechtschreibung ausser Kraft gesetzt hat.

Als im ersten Jahr der Reform Duden und Bertelsmann um Marktanteile kämpften, wandten sich die Schweizer Reformer Horst Sitta und Peter Gallmann an ihren Duzfreund Christian Schmid, einen Mitarbeiter der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Als Autoren des Dudenverlags verteidigten Sitta und Gallmann den Duden gegen ihren Reformkollegen Hermann Zabel, der Bertelsmann vertrat und den Duden anfocht. Sitta und Gallmann schrieben in ihrer Stellungnahme: „Aus unserer Sicht bleibt es voll und ganz gerechtfertigt, den Duden in der Schweiz als Referenzwerk zu gebrauchen. Mit Dank für Eure Unterstützung und mit herzlichem Gruss.“

Gruppe ohne Verantwortungsgefühl

Der Brief trägt Früchte – für unsere Schulen ist der Schweizer Schülerduden verbindlich. Herausgegeben wurde er von Gallmann und Lindauer; seine zahlreichen Fehler habe ich in zwei Besprechungen nachgewiesen (Weltwoche Nr. 47/06 und Nr. 50/06). Der Grundfehler: Gallmann und seine Mitarbeiter verpflichten die Schweizer Schulen auf eine Sonderorthografie, in der viele Schreibweisen nicht vorkommen, welche gemäss dem Rat für Rechtschreibung richtig sind. Damit besteht die Gefahr, dass den Schülern zu Unrecht Fehler angestrichen werden. Für „beratende Mitarbeit“ zeichnet ein weiteres Schweizer Ratsmitglied, Peter Feller; er vertritt die Schulbuchverlage. Der Schülerduden erschien erstmals 2006, und zwar im Zürcher Lehrmittelverlag, dessen Leiter Feller damals war.

Auch aus dem Zustand weiterer Lehrmittel schliesse ich, dass hier eine kleine Gruppe ohne Verantwortungsgefühl tut, was sie will. Thomas Lindauer und seine Ratskollegin Claudia Schmellentin veröffentlichten 2007 das Handbuch „Die wichtigen Rechtschreibregeln“. Ein Jahr später gaben sie das fehlerhafte Werk mit kleinen Anpassungen unter dem Titel „Studienbuch Rechtschreibdidaktik“ für den deutschen Markt heraus. Wer Pech hat, kauft es doppelt.

Deutsche Staatsräson

Das Lehrmittel „Welt der Wörter“ (2008) lehrt Schreibweisen, die 1996 und 2004 galten, heute aber überholt sind. Fachberater ist Gallmann. Auch in seinem Buch „Richtiges Deutsch“ (2010) lehrt er eine veraltete Doktrin. Gallmann hat 1995 die reformierten Regeln in die endgültige Form gebracht; es widerstrebt ihm offenbar, von ihnen Abstand zu nehmen. Die Leidtragenden in diesem Durcheinander sind Schüler und Lehrer. Ein Beispiel: Gemäss Rat für Rechtschreibung darf die Wendung „binnen kurzem“ auch grossgeschrieben werden: „binnen Kurzem“. Gemäss Schülerduden gibt es nur „binnen Kurzem“. In Gallmanns „Richtigem Deutsch“ aber müssen die Schüler „binnen Kurzem“ als falsch erkennen und in „binnen kurzem“ verbessern.

Die Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) hat die Reform und ihre Fehler aufgearbeitet und Lösungen bereitgestellt. Eine Kurzfassung ihrer Empfehlungen liegt nun im „Wegweiser zu einer einheitlichen und sprachrichtigen deutschen Rechtschreibung“ vor (www.sok.ch).

Die SOK fordert einen Sitz im Rat für Rechtschreibung und will von der EDK angehört werden. Die selbstverständliche Forderung wird von einigen Erziehungsdirektoren unterstützt. Der Generalsekretär der EDK, Hans Ambühl, hat sie in einer ersten Reaktion abgelehnt. Das ist hoffentlich nicht das letzte Wort. Der Schaden dieser Reform kann leicht behoben werden, wenn man für die Korrektur nur unabhängige Fachleute beizieht. Ein wenig Selbstbewusstsein gegenüber deutscher Staatsräson würde nicht schaden. Oder sind wir Sprachknechte von Rechtschreibherren?

Stefan Stirnemann ist Lehrer am Gymnasium Friedberg in Gossau SG und Mitglied der Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK).

(Erschienen in der Weltwoche Nr. 49/2010, S. 70; PDF-Datei)



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Kommentare zu »Diktat von oben«
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Kommentar von Leserbrief vom 15. Dezember 2010, verfaßt am 20.01.2011 um 19.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=661#8479

Weltwoche, Nr. 50, 15. Dezember 2010
Zu: Diktat von oben, Stefan Stirnemann, Weltwoche, Nr. 49, 8. Dezember 2010


Gebt endlich Ruhe

Stefan Stirnemann ist ein glühender Gegner der Rechtschreibreform, auch in ihrer durch den Rat für deutsche Rechtschreibung revidierten Fassung. Und er kann Peter Gallmann nicht ausstehen. Das ist sein gutes Recht, und er mag seinem Unmut so oft und so laut wie möglich Luft verschaffen. Aber er soll dabei bitte bei der Wahrheit bleiben. Was Stirnemann über Gallmanns „Richtiges Deutsch“ (besser bekannt als „Heuer“) schreibt, ist Unsinn. Da steht nämlich klipp und klar, bei Wendungen mit blosser Präposition und dekliniertem Adjektiv – ohne weiteres, von neuem, binnen kurzem, seit langem usw. – seien sowohl Gross- als auch Kleinschreibung möglich. Genau so stand es auch in der vorherigen Ausgabe. Ausserdem kann der grosse „Heuer“ die Schüler in Rechtschreibfragen gar nicht verunsichern, da sie ihn, seien wir ehrlich, kaum zu Rate ziehen. Dieses endlose Genöle über die gescheiterte Reform und das renitente Herbeisehnen der Rechtschreibung von vor 1996 grenzt an Obsession. Der ehemalige Weltwoche-Chefkorrektor Max Wey hatte es doch so schön auf den Punkt gebracht: Gebt endlich Ruhe.

Victor Ullate, Wettingen


Erwiderung (noch nicht erschienen):

Nichts als die Wahrheit

Victor Ullate wirft mir vor, in meinem Beitrag zur Rechtschreibung „Diktat von oben“ (Nr. 49/10) nicht bei der Wahrheit geblieben zu sein, da in Gallmanns Buch „Richtiges Deutsch“ klipp und klar stehe, bei Wendungen wie binnen kurzem sei sowohl Gross- als auch Kleinschreibung möglich. Herr Ullate übersieht, dass ich den Übungsteil des Buches kritisiere. In Übung 38 (Seite 318) steht als Korrekturaufgabe binnen Kurzem, und die Lösung lautet binnen kurzem (Seite 562). Dass sich Theorie und Praxis widersprechen, ist nur einer der Mängel des Buches.

Weder ich noch die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) sehnen irgendeine alte Rechtschreibung herbei. Die SOK geht von der Arbeit des Rates für Rechtschreibung aus und empfiehlt eine sprachrichtige und einheitliche Rechtschreibung. Ihre Empfehlungen werden von der Konferenz der Chefredaktoren und dem Vorstand des Verbandes Schweizer Presse unterstützt.

Stefan Stirnemann, St. Gallen

Stirnemann_Weltwoche_08dez10_Diktat_von_oben_Leserbriefe.pdf


Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.01.2011 um 12.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=661#8480

"Gebt endlich Ruhe" war ein sehr prägender Satz in meiner Kindheit und Jugend nach dem Weltkrieg. Er wurde sehr häufig ausgesprochen und zwar immer von Leuten, die Angst vor der Aufdeckung ihrer Tätigkeiten während der Nazizeit hatten.



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