Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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17.11.2010
Konrad Hummler
Voll geil
Ein „Seitenblick“ der NZZ – unter anderem auf die SOK
Erst stiess ich mich daran, wenn im Tram und auf Plätzen aus jugendlichen Mündern lautstark von voll-, mega- und obergeil die Rede war. Denn just bei diesem Wort sitzt die bisherige Begrifflichkeit aus naheliegenden Gründen ziemlich tief.
Nun ertappte ich mich vor kurzem dabei, das Wort selber gebraucht zu haben. Als ich vom Abschluss der Vereinbarung zwischen Deutschland und der Schweiz über eine geplante Abgeltungssteuer erfuhr, entwich mir ein erleichtertes „Voll geil!“.
Mode ist, was Fromme nachher tragen. Mittlerweile freue ich mich über die neue Wortschöpfung beziehungsweise über den Bedeutungswandel des Wortes „geil“. Denn wenn man etymologisch ein wenig nachforscht, erfährt man, dass der Ausdruck bis zum Ende des Mittelalters ähnlich verwendet wurde, nämlich um einen positiven, freudvollen Zustand zu bezeichnen. Erst dann bekam er die eingeschränkte Bedeutung mit dem geschlechtlichen Bezug. Und nun, das heisst seit ein paar Jahren, hat unsere Jugend zum mittelalterlichen Inhalt zurückgefunden.
Was ist so bemerkenswert daran? Dass die Sprache offenbar nach wie vor äusserst lebendig geblie-ben ist, dass von niemandem geplante und kontrollierte Veränderungen erfolgen, dass Sprachentwicklung offensichtlich laufend zu einer neuen spontanen Ordnung führt, wie sie Friedrich August von Hayek für gesellschaftliche Verhältnisse erdacht und gefordert hat. Gerade die heutige Zeit scheint von einer Welle besonderer Kreativität geprägt zu sein, wenn man an die vielen landauf, landab stattfindenden Dichterwettbewerbe in Form der „Poetry-Slams“ denkt.
Sprache als spontane Ordnung – das hätte man bedenken müssen, als man vor bald 15 Jahren daranging, mit staatlichen Ordnungsvorstellungen in die bisher leidlich funktionierende Entwicklung der deutschen Rechtschreibung einzugreifen und behördlich das sogenannt Richtige zu dekretieren. Nicht nur die „behände, gräuliche Gämse“ hat dieser Eingriff hinterlassen, sondern vor allem ein unsägliches Durcheinander in Schul- und Redaktionsstuben, wie man es in der Zeit vor der Rechtschreibreform nicht kannte. In Deutschland waren es die Kultusminister (die sich heute öffentlich zum Irrtum bekennen), in der Schweiz das Konkordat der Erziehungsdirektoren, die EDK, welche der Sprache Gewalt antaten und staatlichen Zwang in einen gesellschaftlichen Bereich ausdehnten, der sich der Planung, Kontrolle und Korrektur inhärent entzieht. Ungefragt, selbsternannt, unverfroren und oft auch sprachignorant vergriffen sich die Politiker mit ihren Befehlsstrukturen am vitalen Leib der Sprache.
Es wäre nun Zeit, wenn nicht zum Rückzug zu blasen, dann sich wenigstens klammheimlich aus der Peinlichkeit des Versagens zurückzuziehen und die weitere Entwicklung der privaten Seite zurückzugeben. Die dafür geeigneten Strukturen gibt es bereits; in der Schweiz ist es die rührige Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), ein Zusammenschluss von berufenen Sprachexperten. Der Verzicht auf Staatstätigkeit in Bereichen, wo Staatsversagen zwingend die Konsequenz ist, hätte durchaus Vorbildcharakter. Die Geschichte der gescheiterten Rechtschreibereform lädt zum Weiterdenken ein.
Es gibt nämlich durchaus viele weitere Bereiche der menschlichen Interaktion, die besser der spontanen Ordnungsbildung überlassen würden. So zum Beispiel die jüngst von den Staats- und Regierungschefs der G-20 aufgeworfene Frage, wie viel von den Menschen in den jeweiligen Ländern produziert, gespart, konsumiert und investiert werden soll. Ginge es nach den Amerikanern, dann würde die demokratisch wenig bis gar nicht legitimierte Weltregierung Obergrenzen festlegen. Das wäre noch abwegiger, als wenn man eine gegen Gefühl und Logik verstossende Sprachregulierung aufzwingen wollte. Planwirtschaft – um nichts anderes handelt es sich beim amerikanischen Vorschlag – funktioniert nicht und endet zwingend im Totalitarismus. Oder, wie meine sprachgewaltigen Kinder es ausdrücken würden: im totalen Absturz. Das allerdings wäre dann wenig geil.
Dr. Konrad Hummler ist unbeschränkt haftender Teilhaber von Wegelin & Co. Privatbanquiers, St. Gallen, und Verwaltungsrat der AG für die Neue Zürcher Zeitung.
(http://www.sok.ch/files/Hummler_NZZ_17nov10_Voll_geil.pdf)
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Kommentar von NZZ-Leserbrief, verfaßt am 12.12.2010 um 18.18 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=660#8384
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Ein Beispiel für kopflose Reformen
In der NZZ vom 17. 11. 10 zeigt Konrad Hummler am Beispiel der verunglückten Orthographiereform die verheerenden Folgen politischer Arroganz und Ignoranz (hier der EDK). Mit beträchtlichen Kosten wurde die Sprache beschädigt und ein unglaubliches Durcheinander angerichtet. Ähnliches gilt für die Mehrheit der kopflosen Schulreformen. Nebenbei gesagt, hatte das Wort „geil“ nicht nur im Mittelalter eine unverfängliche Bedeutung. Im Kapitel „Mynher Peeperkorn“ (Schluss) des „Zauberbergs“ schreibt Thomas Mann: „Dem Walde ging es nicht gut, er krankte an dieser geilen Flechte, sie drohte ihn zu ersticken (...).“
Urs Oswald, Zürich
(erschienen im November 2010; http://www.sok.ch/files/Hummler_NZZ_17nov10_Voll_geil_Leserbriefe.pdf)
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