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07.04.2010
 

„Heine lesen – und es ihm nachmachen“
Interview mit dem Sprachkritiker Wolf Schneider

„Die Rechtschreibreform war und ist so wahnsinnig überflüssig.“

Am 7. Mai feiert der streitbare Journalist, Autor, Sprachkritiker, Talkshowmoderator und Journalisten-Ausbilder seinen 85. Geburtstag. Im März ist sein neues Buch erschienen: „Deutsch für junge Profis“. Untertitel: „Wie man gut und lebendig schreibt“. Es kann hinzugefügt werden: „Wie man unterhaltsam und faszinierend über die deutsche Sprache informiert“. Es animiert zur Nachahmung – und es zeigt mit anschaulichen, verständlichen Beispielen, was gutes Deutsch sein kann – und was nicht.

Lesen Sie das Interview mit Wolf Schneider hier.



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Kommentare zu »„Heine lesen – und es ihm nachmachen“«
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 10.04.2010 um 12.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8158

Daraus läßt sich die umkehrbare Aussage ableiten, daß die Politiker sich über Überflüssiges ganz schnell eing sind, aber über Notwendiges ewig streiten. Die schnelle Einigkeit der Politiker bei der Rechtschreibreform ist daher höchst verdächtig.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 10.04.2010 um 15.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8159

Zugleich ist es "höchst verdächtig" (Germanist) zu sehen, wie brav Wolf Schneider seine Bücher der doch so "wahnsinnig überflüssig[en]" Reformschreibung angepaßt hat.

Wie ernst darf man daher seine Kritik an der Reform nehmen? Schließlich zwingt ihn niemand zur Gleichschaltung, auch bei Rowohlt kann man seine Bücher in der Orthographie des 20. Jahrhunderts drucken lassen. Kehlmann, der noch keine 85 Jahre alt ist, macht es vor. Das macht nun die Bücher von Kehlmann noch nicht unbedingt besser, aber allemal lesbarer im Sinne des Wortes.


Kommentar von Talkshowmoderator-Verdrossener, verfaßt am 10.04.2010 um 17.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8161

In dem Interview wieder das Typische, man solle mit "Ironie, Bosheit, Wortwitz" schreiben, als Garant für Erfolg. Das soll uns berühren?!

(Und lässig ironisch natürlich über die Rechtschreibreform lästern, aber nicht Gewisses, Verbindliches; erinnert mich irgendwie an Eisenbergs Wechselbäder. Und natürlich sind das keine Täter. Niemand, selbst die G'scheitesten der 68er Elite nicht; das intellektuelle Gewissen Deutschlands, Alexander Kluge, auch nur die typische skurrile Satire auf dctp.tv, nun, wenigstens mit wirklichem Humor.)

Lassen wir die Langeweiler mal kurz links stehen, und wenden uns – sozusagen in Überlappung – dem vorherigen Tagebucheintrag zu, ein unstatthafter Vergleich, aber vielleicht etwas erhellend.

Gegenbeispiel (aus: Der Lyrik-TÜV, Kapitel "Adel und Untergang", Steffen Jacobs, Eichborn 2007)

[Joseph Weinheber]

An meinem Gartentor vorbei
führt aus dem Dorf ein schmaler Pfad
weiter in den Wald:
gehe ich diesen Weg,
dann scheint es angemessen, anzuhalten
und einen Blick zu tun durch den Zaun
deines Gartens, in dem sie dich (unter
den damaligen Umständen blieb ihnen keine andere Wahl)
begruben wie einen geliebten
alten Haushund

Erklärte Feinde vor zwanzig Jahren,
jetzt Nachbarn Tür an Tür, wären wir
vielleicht gute Freunde geworden,
mit einem gemeinsamen Umfeld
und einer gemeinsamen Liebe zum Wort,
hätten über einem goldenen Kremser
vielleicht manches lange Gespräch
über Syntax, Kommasetzung
und Versbau geführt.

[...]

Doch nahmen sie dich für lange
in Beschlag, wo du doch auf Goebbels'
Kulturangebot
erwidertest 'In Ruah lossen'?
Aber Hinz und Kunz
haben Skandale lieber, und die Jungen
brechen, ohne dich zu lesen, über dich den Stab.

[...]

Hugh Auden

*

[Heimat]

Der Vater nimmt mich auf seine Knie und schaut
mich lange an und lächelt. Seine Blicke
sind seltsam weither, tief und unvertraut.

Bisweilen bricht ins träge Uhrgeticke
sein wildes Singen aus. Der heiße Klang
verbebt, indes ich schwebend mich entzücke.

Dann ist der Vater wieder fort, im weiten
verblaßnen Haus ist Stille wie nur je.
Der Garten schläft, die Abendschatten gleiten;

die Trauer und die Strenge sind ein Schnee,
der stetig fällt und Schlaf ist – ohne Frieren:
Ein süß- und sanftes, blutsvertrautes Weh.

[- oder über sein Kirchstetteners Landleben (wo später Auden wohnen wird) -]

Fühlst du nicht, wie das Lähmende hier
sich ins Feld legt, als wär es ein Tier
mit geduldigem, gähnendem Lauern?
Oder nicht, wie da mählich die Kraft
des Gesteins sich ins Göttliche rafft,
um zu sein, zu beruhen, zu dauern?

Joseph Weinheber

Man bedenke, ein Mann aus niedrigsten Verhältnissen schreibt das. Albert Berger geht in seiner Arbeit, "Leben und Werk – Leben im Werk" [ein wunderbarer Titel] (Otto Müller Verlag, 1999), eingehend auf die Schattenjahre ein, sehr lesenswert.

Die zwei Dichter leben in ihrem Schreiben, so unterschiedlich sie sein mögen, sie eint das Nahbare, die Suche in der näheren Umgebung, das Finden der Wörter am Küchentisch. Mahlzeit!

Mit Verlaub, das ist mehr als nur interessant Schreiben, um Erfolg zu haben. Mir gruselt’s vor solchen Erfolgsmanagern wie Herrn Wolf Schneider. Ist für letztere das Ziel der Weg, ist für die ersteren der Weg das Ziel.

So werden unsere Kinder in der Schule wohl nicht in die Stimmung dieser höchst eingängigen Korrespondenz geraten (Danke für den Hinweis, Herr Arno Pielenz! [vorheriger Tagebucheintrag]). Wohl eher werden sie in Schneiders Pflicht-Büchern nacheifern, kurze Sätze ohne Eigenschaftswörter und Eigenschaft schlagzeilenmäßig aufzutischen. Karge Kost. Schreiben im Zeitalter der Kurznachrichten und des technischen Schreibens: Leben als strategischer Berichtserstattungsstil.


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 11.04.2010 um 04.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8162

Lieber Herr Höher,
man kann die Reform – wie vermutlich die Mehrheit der Bevölkerung – für "wahnsinnig überflüssig" halten, ohne sie zugleich für abgrundtief schlecht zu halten. Ich vermute, daß es den meisten Menschen ziemlich gleichgültig ist, ob sie ß oder ss, Stengel oder Stängel schreiben. Worüber sie sich ärgern, ist daß sie sich überhaupt umgewöhnen müssen, ohne darin irgend einen nennenswerten Vorteil zu erkennen, und daß das ganze (für neue Schulbücher usw.) auch noch eine ganze Menge Geld gekostet hat.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2010 um 09.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8163

Wolf Schneider hätte es sich in der Tat leisten können, seine neuen Bücher in derselben guten Orthographie drucken zu lassen wie die früheren. Ich weiß nicht, warum er nicht darauf bestanden hat, vielleicht war es ihm in seinem Alter nicht mehr wichtig genug. Sein Hauptinteresse galt ja über die Jahrzehnte nicht der Rechtschreibung, sondern Satzbau und Wortwahl.
Ich möchte aber doch deutlich sagen, wie sehr ich seine Beiträge zur Sprachpflege schätze. Er gehört zu den wenigen, die sich in Lehre und Praxis für das Abspecken deutscher Ausdrucksgewohnheiten eingesetzt haben, und er hat sicher auch Erfolg gehabt. Man ahnt ja kaum, wie stark er in der Journalistenausbildung gewirkt hat.
Was er an Wissenswertem über die Sprache mitteilt (z. B. schon in "Wörter machen Leute"), ist sorgfältig erarbeitet und im allgemeinen zuverlässig, im Gegensatz zu Sick beispielsweise. Dieter Zimmer steht ungefähr dazwischen, eher näher an Schneider.
Schneider plädiert (wie früher Tucholsky) für Hauptsätze, aber er selbst schreibt keineswegs kurzatmig. Sein wichtigstes Angriffsziel ist die Imponiersprache, und davon sind seine Schriften frei. Wenn das kein Verdienst ist ...
Wie schon einmal berichtet, war Sick zwei Jahre lang Pflichtlektüre in Abiturklassen eines Bundeslandes (vielleicht noch anderswo). Eine grausige Vorstellung! Bei Schneider hätte ich keine Bedenken.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 11.04.2010 um 10.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8164

Lieber Herr Achenbach,

als weitgehend anonymer Teil der Bevölkerung kann man die Reformschreibung für überflüssig halten, ohne sich weiter darum zu kümmern. Oder zu glauben sich darum zu kümmern, denn sobald man in der eigenen Schreibweise ß zu ss verändert, kümmert man sich ja eigentlich doch wieder darum. Aber lassen wir das. Wichtiger scheint mir zu sein, daß ein Journalist, noch dazu einer, der andere Journalisten ausgebildet hat, nicht zu diesem Teil der Bevölkerung gehört. Er muß einfach wissen, daß die Qualität seines Werkzeugs zunächst sicherstellt, daß die Leser ohne große Probleme erfassen können, was er ihnen mitteilen möchte. (Ich kaufe mir ja auch kein Hörbuch, bei dem der Sprecher kein Gefühl für Intonation, Satzbau und Rhythmik hat. Eine angenehme Stimme allein reicht nicht aus, was leider gerade viele Schauspieler denken.) Sollte Wolf Schneider tatsächlich nicht mitbekommen haben, daß sein Werkzeug sich gegenüber früheren Publikationen deutlich verschlechtert hat?


Lieber Herr Ickler,

die Verdienste von Wolf Schneider habe ich keineswegs geschmälert. Sie stehen – wie Sie zu Recht hervorhoben – für sich. Aber die mehr oder weniger gehirnlose Anpassung an Moden gehört zum Themenkomplex der Imponiersprache. Imponieren kann ich nur, wenn ich mich der Floskeln des jeweils herrschenden Zeitgeistes bediene. Auch die sprachliche Verpackung gehört dazu. Die Heysesche s-Schreibung signalisiert geradezu ein Auf-der-Höhe-der-Zeit-Sein (ich wollte auch mal so ein durchgekoppeltes Monstrum konstruieren!), das zeigt, daß der Sprecher auf vielen Bühnen auftritt. Bei allzu vielen Bühnen verliert man jedoch leicht den Überblick und merkt womöglich nicht, daß so manche Vorstellung schon nach den ersten Akt ausgepfiffen wurde. Der Hinweis allein, daß die Rechtschreibreform eigentlich genau zu diesen Vorstellungen gehört, reicht da nicht. Schneider muß deshalb die Rechtschreibung nun keineswegs gleich zu seinem Thema machen, aber er sollte souverän über sprachlichen Moden stehen und damit auch sprachliche Mogelverpackungen ablehnen. Zumindest in meinen Augen haben durch dieses Versäumnis auch frühere Verdienste einen blinden Fleck bekommen.


Kommentar von Allgemein Verdrossener, verfaßt am 11.04.2010 um 13.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8165

Ein Lob der Tanten beim Kaffeekränzchen

Die "Verdienste" von Wolf Schneider oder Dieter Zimmer erkenne ich schon, nur möchte ich sie dennoch etwas "geschmälert" wissen.

Auch Dieter Zimmer – ich werfe beide oft in einen Topf – gehört für mich zur "Genuß-Fraktion". Entschuldigen Sie den Ausdruck, aber immer dieses: "Ein höchst vergnügliches und anregendes Buch." Natürlich liest sich das alles leicht, regt zum Nachdenken an und ist höchst informativ. Und weiter?

Was mir nur aufstößt: diese Formelhaftigkeit – die immer einhergeht mit diesem Witzig und Spritzig. Mir scheint heutzutage alles davon durchdrungen zu sein. Selbst bei den vielen Lesungen, die ich über die Jahre moderierte, mußte ich beobachten, wie diejenigen Autoren, die langatmig und vielleicht etwas unbeholfen (es handelte sich hier ja nicht um Profis) etwas auszubreiten wagten, beim Publikum durchfielen. Da wurde schon mal – was eigentlich jedem zu Herzen ging – bitter ausgequatscht und gnadenlos belehrt. Soweit sind wir schon.

Wer liest denn nicht gerne so, wie wir täglich sprechen, wie wir tatsächlich etwas erleben: mit Windungen, Unverstandenem und Unverdautem, sprich mit allem Paradoxem der Wirklichkeit? Wo wird da das Organische gepriesen, wo lassen sich Umwege und Irrwege finden, die immer auch nachgegangen werden können, wo die Suche selbst, der Sucher aufscheint?

Bei den Einsendungen von Manuskripten fiel mir das zudem über die Jahre auf. Nahezu alle schreiben jetzt nach dem Kriterienkatalog, alles ist sauber formuliert und in knappe Sätze gegossen, korrekt ausgedrückt, kommt immer salopp, witzig und leicht daher, kurz und prägnant. Das ist unpersönlich und austauschbar geworden, einförmig und langweilig. Irgendwie streberhaft. Und auch etwas Verächtliches und Überlegenes klingt da vom Grundton her allzu oft mit an.

Wir sind umgeben von kleinlichstem Höchststand: allergescheiteste Kunst ist allgegenwärtig. Daneben hat nichts mehr Platz. Akademismus allenthalben. Welcher Schriftsteller ist heute noch nicht promoviert? Wo bleibt da das menschliche Maß? Wo die "Einfalt"? Darf man sich noch Fehler leisten? Kein Wunder, daß Hegemanns Buch wie eine Bombe einschlug. Es wurde als Befreiung empfunden, fern jeder kalkulierten Starrheit. Es hat deswegen so großen Erfolg, weil die Leute das glauben wollen, daß das jetzt die befreite Schreibart einer Jugendlichen sei, Iris Raddisch allen voran. Oder umgekehrt, den Akademismus auf die Spitze getrieben – warum hatte ein Durs Grünbein so einen überbordenden Erfolg? Weil er sich nicht fassen läßt in seinem schwülstigen, hochtrabenden Ton. Fernab jeder Scheiblehrwerke. Und das gerade bei Akademikern.

Also bleibt neben dem kalkulierten Berichtstil nichts, außer man zieht das Narrenkostüm über und vermarktet sich eben entsprechend. (Dieter Bohlen schafft locker 6 Millionen Zuschauer, ernstere Musik gibt es ja auch nur noch in den olympischen Einspielungen, der Tod jedes Orchesters vor Ort.) Das ist meine traurige Bilanz. Deswegen verwechsle ich Schneider mit Zimmer und all den anderen (meist 68ern) allzu leicht.

Ich bezweifle demnach, daß Journalisten solch einen Stil befolgen müssen, um sich Gehör zu verschaffen. Die Wirklichkeit zeitigt andere Gesetze (und sei es die Bild-Zeitung). Deswegen stellte ich kühn Weinheber und Auden dagegen.

Zimmers (oder war es doch Schneiders?) letztes Buch war in so grausamer Rechtschreibung, daß ich es nicht gekauft habe. Da stimmt der Inhalt mit der Form nicht mehr überein. Da kann man sich über diese Diskrepanz nur doch lustig machen – und da wären wir schon wieder bei meinem Thema: immer witzig spötteln, nicht festlegen, mitmachen. Da sind mir meine Kaffeetanten noch lieber, da wurde der Kuchen noch mit Herz gebacken und nebst Stimmengewirr vertilgt, da wurde selbst den Schnöseln warm ums Herz!


Lieber Herr Oliver Höher,

dieses Auf-der-Höhe-der-Zeit-Sein bemerke ich besonders bei den Gebildeten, den Kunst-Kennern. Ausstellungskataloge sind, was die Rechtschreibung anbelangt, ultramodern. Beim Durchblättern gestern im Museum Brandhorst fiel mir auf, daß fast alle nicht mal mehr ein Eszett mehr schreiben (nicht nur Schweizer Verlage). Dazu diese modernen, dünnen Schriften, oft grau abgeschwächt aufgerastert, mit überlangen Zeilen auf quietschbunten Abbildungen, wiederum auf leuchtendem (stinkendem) Papier. Lesen scheint mir bei den beieindruckenden, wuchtigen Dingern Nebensache zu sein, obwohl auch hier die Sprache so etwas von abgehoben ist, daß mich das (Post-)Potpourri in seiner Diskrepanz vollends verstört. (Jetzt noch von Karl Heinrich Waggerls schönen Blumensilhouetten zu sprechen, nun ja, ich will mich nicht langsam lächerlich machen, aber die gehen mit dem Inhalt und der Frakturschrift zusammen so was von einer Einheit ein…)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2010 um 16.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8166

Es lag mir fern, einen der Genannten in den Himmel zu heben. Außerdem muß ich immer wieder sagen, daß ich keinen aus dem Fernsehen kenne, weil ich daran nicht teilnehme.
Schneider habe ich hier schon zweimal zu Hilfe gerufen (hier und hier). Sein Buch "Wörter machen Leute" ist eine bessere Einführung in die Sprachwissenschaft als fast alles, was die Germanisten in den letzten Jahre auf den Markt gebracht haben (und was ich zum Teil hier schon kommentiert habe). Es ist gut recherchiert – Schneider ist ja kein Sprachwissenschaftler –, hat ein Quellenverzeichnis, ein Glossar usw. und ist auch nicht einfach "vergnüglich zu lesen" oder so. Es fördert tatsächlich das Wissen und die Einsicht. Welcher Sprachwissenschaftler hat Vergleichbares geschafft und geschaffen? Vielleicht Mario Wandruszka.


Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 11.04.2010 um 17.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8167

Ich habe Wolf Schneiders Bücher mit so großem Gewinn gelesen, daß ich mich schwertue, ihn zu kritisieren. Das vorweg. (Den Ausführungen des Allgemein Verdrossenen kann ich zwar einiges abgewinnen, Wolf Schneider scheint mir darin aber weniger gut getroffen.)

Es stimmt, daß er es sich hätte leisten können, auf der herkömmlichen Rechtschreibung zu bestehen. Man kann es aber auch anders sehen: Er hat so viel Bedenkenswertes zu sagen, daß er es sich leisten kann, die Frage der Rechtschreibung nicht so wichtig zu nehmen.

Dennoch verstehe ich die Enttäuschung von Herrn Höher. Spritzig oder nicht, kaum jemand versteht es so gut wie Schneider, »sprachliche Mogelpackungen« als solche zu enttarnen. Wie schön wäre es da, wenn er sich mit mehr Konsequenz auch gegen die Mogelpackung »Rechtschreibreform« einsetzte. Es ist aber sein gutes Recht, seine Kräfte auf das zu konzentrieren, was ihm immer am wichtigsten war. Vielleicht möchte er auch nur nicht davon ablenken.

Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Schneiders Beißhemmung in puncto Reformschreibung könnte auch mit seinem Verständnis von der Setzung sprachlicher Normen zu tun haben.

Man darf nicht vergessen, daß Wolf Schneider mit der deskriptiven Sprachwissenschaft nichts am Hut hat. So bedauert er, daß der Duden, wie er in Speak German! – Warum Deutsch manchmal besser ist schreibt, seit 1971 nicht mehr Grammatik und Stilistik normiert. Als Ursache vermutet er den antiautoritären Geist von 1968. Unter der Überschrift »Wie ‹die große Hure Duden› sie steuert«* schreibt er: »Das traf sich mit der Denkrichtung, die in der akademischen Linguistik seit mehreren Jahrzehnten ohnehin dominiert: Sie will nicht präskriptiv (vorschreibend) agieren, sondern deskriptiv (beschreibend); jede Art von ‹Sprachpflege› wird als ‹unwissenschaftlich› abqualifiziert. (Also wäre auch der Rang der Lutherbibel wissenschaftlich nicht zu würdigen – und das spräche sehr für die Lutherbibel.)«
Nicht nur aus diesen Zeilen spricht Enttäuschung über den Duden. Auch im Kampf gegen häßliche und überflüssige Sprachimporte aus England und Amerika fühlt Schneider sich vom Duden allein gelassen. Die massenhafte Aufnahme von Anglizismen in den Duden veranlaßt ihn zu dem Schluß: »Auch wer bei den Anglizismen nur die Übertreibung, den Unfug bekämpft, hat also in der Duden-Redaktion keinen Verbündeten. Sie hat sich vom Vorbild zum bloßen Spiegelbild gemausert.« (Den von ihm als unsinnig abgelehnten Ausdruck »sich zu etwas mausern« verwendet er hier in ironischer Absicht.)

Der Duden gebe zwar vor, nur beschreiben zu wollen, setze de facto aber nach wie vor die Norm, und zwar in unguter Weise: »Indem nun der Duden in Grammatik und Stilistik jede Normierung verweigert, setzt er eine Abwärtsspirale in Gang: Denn seine Benutzer suchen wie eh und je die Norm in ihm – sie nehmen also das registrierte Übliche als das Richtige wahr, selbst wenn es falsch, dubios oder bescheuert ist.«

Ich denke, daß Schneider den Einfluß des Dudens in dieser Hinsicht maßlos überschätzt. Seine Ausführungen dazu lesen sich wie ein verzweifelter Hilferuf. Ein Fall von enttäuschter Liebe? Möchte Schneider gern dem Duden folgen, ihn als Autorität anerkennen, kann es aber schlechterdings nicht, wenn es um Sprachmoden und Anglizismen geht? Will er ihm wenigstens die (formal ja gar nicht mehr existierende) Rechtschreibhoheit lassen, wenn er auch den neuen Vorgaben nur zähneknirschend folgt?

Oder hat er die Reformschreibung als unabänderliche Tatsache akzeptiert? Dann wäre der Kampf dagegen tatsächlich sinnlos.


* Schneider zitiert damit die ZEIT, die, wie er später ausführt, 1985 schrieb: »Wenn etwas nur lange genug unkorrekt gebraucht wird, ist unsere große Hure Duden zur Stelle und kassiert es als korrekt.«


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 11.04.2010 um 18.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8168

»Er hat so viel Bedenkenswertes zu sagen, daß er es sich leisten kann, die Frage der Rechtschreibung nicht so wichtig zu nehmen.«

Ich stimme Ihnen zu, lieber Herr Metz, daß Schneider durchaus viel Bedenkenswertes zu sagen hat. Nun sind aber Lorbeeren kein so ganz von allein nachwachsender Rohstoff. Sie wollen gehegt und gepflegt werden, damit sie nicht eingehen. Und da es nach La Rochefoucauld lobenden Tadel und tadelndes Lob gibt, darf ich mit diesem Autor daran erinnern, daß auch der Ruhm großer Menschen immer an den Mitteln gemessen werden muß, mit denen sie ihn erworben haben. Das Mittel der Sprachkritik ist nun einmal Sprache. (»La gloire des grands hommes se doit toujours mesurer aux moyens dont ils se sont servis pour l'acquérir.« Maximen, endgültige Ausgabe von 1678, Nr. 157)


Kommentar von Trotzdem Verdrossener, verfaßt am 12.04.2010 um 13.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8169

Lieber Herr Theodor Ickler,

ich bezog mit mich auf das Buch "Deutsch für Kenner", Pardon, ich bin kein Sprachwissenschaftler. Und eben genau dies Buch steht neben Zimmers Büchern bei mir im Regalbrett "Lehrwerke". Das Buch beginnt mit einem "Problem", im Kapitel "Kampf der Blähungen" das von mir zitierte "Adjektive: Wörter ohne Eigenschaften", es beginnt mit "Schwatzen freut die meisten – mehr als Zuhören." Deswegen betitelte ich meinen Kommentar mit den "Kaffeetanten". Und das Kapitel "manbrif in sachen ortografi" hat er ja geschrieben (als "aktuelles Problem").
Ich weiß ja nicht, ob das Buch heute noch aufgelegt wird, aber in neuer Rechtschreibung wäre das, nun, das wäre tatsächlich mal ein "Witz". Ich weiß nicht mehr, mit welchem Erkenntnisgewinn ich das Buch las, es ist eines von so vielen der Art. Süskinds "Vom ABC zum Sprachkunstwerk" liegt mir da näher. Und wenn schon "Probleme" oder sprachwissenschaftlich, da habe ich den Porzig, "Das Wunder der Sprache" (der Titel!) von 1950 liebgewonnen. Auch das "Grammatische Variete" von Judith Macheiner habe ich gerne gelesen.
Letztlich fehlt mir heute so jemand wie Edith Hallwass mit "Mehr Erfolg mit gutem Deutsch" (1976), da ist zwar schon wieder dieser "Erfolg" im Titel, aber dort läßt sich reichlich Fundiertes bestens aufbereitet finden, auch "Wert und Unwert des Eigenschaftswortes – Wunderliche und wirtschaftswunderliche Wörter" Lobpreisungen.


Kommentar von Main-Post, 20. 4. 2010, verfaßt am 22.04.2010 um 15.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8179

Wo die Deutschlehrer aufhören
Sprachkritiker Wolf Schneider über zunehmende Geschwätzigkeit und Faustregeln für attraktives Deutsch

[...]

Von 1979 bis 1995 waren Sie Leiter der Hamburger Journalistenschule. Haben Sie Veränderungen im Sprach- und Schreibstil Ihrer Schüler beobachtet?

Schneider: Ja, und nicht nur dann. Ich bin ja weiter an Journalistenschulen tätig. Ich kann also seit 31 Jahren überblicken, was mit der deutschen Sprache geschieht. Eindeutig ist: Die Kenntnis der Grammatik lässt nach, zum Beispiel die Benutzung korrekter Konjunktive, die korrekte Zeichensetzung lässt nach, und die neue Rechtschreibung produziert genauso viele Fehler wie die alte. Außerdem gibt es eine gewisse Verarmung des Deutschen, indem nämlich auch Journalisten Unterscheidungen nicht mehr vornehmen. So liest man häufig schon in der Zeitung das Wort „wähnen“ als Synonym für „glauben“. Ich finde das schrecklich. „Wähnen“ heißt ja „fälschlich glauben“, „sich einer Wahnvorstellung hingeben“. Die Passagiere der Titanic wähnten sich in Sicherheit – was für ein schönes, kraftvolles Wort. Stattdessen liest man es einfach als Austauschwort für „glauben“.

[...]

(www.mainpost.de)


Kommentar von planet-interview.de, 7. 5. 2010, verfaßt am 10.05.2010 um 09.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8199

Ich lasse mir nichts durchgehen

(Unter diesem Titel ist die Langfassung des von der Main-Post veröffentlichten Interviews hier zu finden.)


Kommentar von Süddeutsche Zeitung, 7. 5. 2010, verfaßt am 11.05.2010 um 18.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8204

Wolf Schneider zum 85.
Ein Leben für den starken Satz

Von Hans-Jürgen Jakobs

Wenn es um Sprache geht, kommt in Deutschland keiner an ihm vorbei: Wolf Schneider, der Konservator, wird 85.

Siehe www.sueddeutsche.de.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.05.2010 um 19.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8205

Weil der Duden sich weigert, bedeutungsunterscheidende Getrennt- oder Zusammen- und Groß- oder Kleinschreibungen als solche zu erläutern und sie als angebliche "Varianten" der Beliebigkeit überläßt, hilft nur, sie mittels Stil-Empfehlungen zu erläutern, am besten in einem vom Duden unabhängigen Stilkundebuch, welches aufzeigt, was gutes Deutsch ist und was schlechtes.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.05.2011 um 13.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#8615

Über Wolf Schneider schrieb neulich jemand:
"So wundert es nicht, dass Wolf Schneider noch heute besessen scheint von allem, was sich ums Formulierte dreht. Dass er sich festbeißt in der Kritik an der Rechtschreibreform ..."
Wieso denn? Seine neuen Bücher erscheinen in ganz braver Reformschreibung. Er läßt sogar zu, daß jemand die Großschreibung nach Doppelpunkt übergeneralisiert:
Was Sie schreiben, ist Ihre Sache – aber wie Sie es formulieren sollten, damit es die Chance hat, beachtet zu werden, zu wirken, vielleicht sogar Sympathie zu stiften: Das lässt sich lernen. (Wolf Schneider: Deutsch für junge Profis. Reinbek 2010)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.05.2012 um 18.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=648#9010

"Wie Sie besser schreiben – Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen“ (ZEIT-Beilage zum 10.5.2012, verfaßt von Wolf Schneider, mit Beiträgen von Uwe Timm u.a.)

Die 20 Lektionen sind sehr konventionell, als Stilmuster werden praktisch nur deutsche Klassiker angeführt, von denen sieben auch in eigenen Kapiteln vorgestellt werden: Goethe, Schiller, Kleist, Heine, Nietzsche, Kafka, Thomas Mann. An ihrem Können besteht kein Zweifel, aber sie sind allesamt nicht unmittelbar als Muster heutiger deutscher Sachprosa zu gebrauchen. Was soll denn das Beispiel von Goethe zeigen:

Wenn der Äther, Wolken tragend,
Mit den klaren Tagen streitet
Und ein Ostwind, sie verjagend,
Blaue Sonnenbahn bereitet ...
?

Und das ist nicht willkürlich herausgepickt, sondern eines von unzähligen ähnlichen Beispielen aus deutscher Dichtung.

Schneider lobt das „kraftvolle“ Verb, nicht nur hierin auf der Linie von Ludwig Reiners. Er warnt vor überflüssigen Adjektiven, Modewörtern, krampfhaft zusammengesuchten Synonymen, unnötigen Passivformen usw. und plädiert für Konkreta und „Bilder“. Sätze mit einem anderen Satzglied als dem Subjekt im Vorfeld zeigen nach Schneider „Inversion“, als wenn das im Deutschen ein sinnvoller Begriff wäre. Die Verbklammer solle nicht mehr als 6 bis 7 Wörter umfassen, weil dann die „Speicherkapazität des Kurzzeitgedächtnisses“ ende. Das geht auf eine bekannte These von George A. Miller zurück (The Magical Number Seven, Plus or Minus Two - Some Limits on Our Capacity for Processing Information. Psychological Review 101, No. 2:343-352), die aber stark umstritten ist, weil die „Chunks“, auf die sich die magische Zahl bezieht, nicht definiert sind.

Zwischendurch die üblichen Übertreibungen; daß niemand mehr verstehen, begreifen, erkennen, einsehen, kapieren, nachfühlen, nachempfinden usw. sage, sondern alle nur noch nachvollziehen. Da dies offensichtlich nicht stimmt, braucht sich auch niemand betroffen zu fühlen, und man lernt nichts daraus. Der Nachweis, daß Aktivität keinen Plural zulasse, geht auch ins Leere.

Das meiste ist nicht falsch, aber man glaubt es schon hundertmal gelesen zu haben, bei Schneider selbst und allen anderen Stillehrern.

Die Rechtschreibreform wird nicht erwähnt, auch Schneider hat offenbar seinen Frieden mit ihr gemacht, sonst könnte er ja auch nicht in reformierten Zeitungen wie der ZEIT auftreten. Nur die Redakteurin Anna von Münchhausen zitiert eine Kollegin: „'Nach zwei bis drei Rechtschreibreformen setzt man sicherheitshalber in dieser Hinsicht bei jüngeren Autoren nicht mehr allzu viel voraus', erklärt die Redakteurin.“ Gibt es wirklich nicht mehr dazu zu sagen?



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