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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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20.06.2008
 

Stefan Stirnemann
«Er schmirbt myn Grind mit Anken»
«Notfalls […] muss die korrekte Rechtschreibung hinter der Rechtssicherheit zurückstehen.»

Nun hat die zunehmende Unsicherheit um die Dauer-Baustelle Rechtschreibreform auch jene Bereiche erfasst, denen sie durch Vereinfachung nützen wollte: der Schule und der öffentlichen Verwaltung. Die permanente «Reform der Reform» überfordert auch die anfangs gutwilligen Lehrkräfte – und gefährdet in Einzelfällen sogar die Rechtssicherheit.

Deutschland lacht ab und zu über die Deutschschweiz. Beim Fussball steckt man's (manchmal) ein, aber wenn es um die Sprache geht? Wie das wundervolle Lexikon des Schweizerdeutschen, das Idiotikon, berichtet, wurden im 17. Jahrhundert ein Zürcher und ein Basler in Nürnberg gefoppt, die groben Schweizer beteten Psalm 23 so: «Er schmirbt mir myn Grind mit Anken.» Der Nürnberger Witz ist gewiss nicht schlecht. Zwingli freilich übersetzte: «du machst min houbt feisst mit öl», und das ist doch genauso gut wie Luthers «Du salbest mein Heubt mit oele».

«Aus Gründen der Staatsräson»

Seit zwölf Jahren foppt Deutschland alle, die Deutsch sprechen und schreiben, mit einem Unternehmen, das sich Rechtschreibreform nennt. An der Ausarbeitung waren zwar einige Schweizer massgeblich beteiligt, aber dass die sogenannte neue Rechtschreibung ungeprüft eingeführt, nur zögernd verbessert und bis heute in wesentlichen Bereichen im Zustand der Fehlerhaftigkeit belassen wurde, das verdanken wir deutschen Politikern, welchen die Staatsräson, das heisst ihr eigenes Ansehen, über alles geht. So sprach die Präsidentin der Kultusminister: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.»

Der Rat für Rechtschreibung verbesserte manches, er schaffte etwa das reformierte es tut mir Leid wieder ab. Dann aber fügte er sich der deutschen Innenpolitik und stellte die Arbeit ein. Das Regelwerk, das er vor zwei Jahren vorlegte, ist ein Regelwerk der falschen Varianten. Hatten zum Beispiel die Reformer das alte Wort wohlbekannt vernichtet, indem sie es in seine Teile wohl und bekannt auflösten, so anerkennt der Rat die Zusammensetzung wieder, aber nur als Variante: Der wohl bekannte Schriftsteller soll dasselbe sein wie der wohlbekannte Schriftsteller. Das ist falsch.

Was hat demgegenüber die Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) zu bieten? Mit ihren Empfehlungen (siehe www.sok.ch) setzt sie die Verbesserungen des Rates um, klärt den Irrtum mit den Varianten auf und führt in einigen Bereichen weitere Verbesserungen durch.

Um zu zeigen, dass diese Empfehlungen notwendig sind, beleuchte ich die Lage der öffentlichen Verwaltung und der Schule. Abgrund, tue dich ruhig auf! Die SOK hält Rettungsseile bereit.

Rechtsunsichere Bundeskanzlei

Unsere Bundeskanzlei folgt dem Rat für Rechtschreibung in den Sumpf der Varianten und Unklarheiten. Gemäss dem Leitfaden zur Rechtschreibung, der soeben neu erschien, schreibt Bern nun vieles, was bis vor kurzem getrennt war, wieder zusammen, vieles aber sowohl getrennt als auch zusammen: kostendeckend aber Kosten sparend oder kostensparend, selbstgenutzt aber selbst bestimmt / selbstbestimmt, asylsuchend aber Arbeit suchend / arbeitsuchend. Folge: Unter Umständen werden zentrale Begriffe unterschiedlich geschrieben, und das führt zu Auslegungsproblemen. Erlaubt man Frau Meier, sich auch Mair, Mayer oder Meyer zu schreiben, weiss man nicht, wer gemeint ist.

Was tun? Die Kanzlei will von Fall zu Fall «kreative» Lösungen finden; «kreativ» setzt sie selber in Anführungszeichen. Sie wird Rücksprache mit dem federführenden Amt und der parlamentarischen Redaktionskommission nehmen. Nun muss ich zitieren: «Notfalls – wenn gar kein Weg gangbar erscheint – muss die korrekte Rechtschreibung hinter der Rechtssicherheit zurückstehen.» Was heisst das? Die Bundeskanzlei hat eine Rechtschreibung gewählt, welche ihren Zweck nicht erfüllt und die Rechtssicherheit gefährdet.

Falsches Prinzip

Beim Sprechen und Schreiben gibt es ein Prinzip, das alle anderen schlägt: «Drücke dich klar und unzweideutig aus!» Wer vielversprechend meint, schreibt nicht viel versprechend, und wer seinen Satz sinnvoll gliedern will, lässt ein Komma nicht einfach weg. Die Sprache entwickelt sich; Zwingli und Luther brauchten sie anders als wir. Aufgabe der Grammatiker und Wörterbuchmacher ist es, das zu erfassen und darzustellen, was zur Zeit gebräuchlich ist. Der Grundfehler der Reformer besteht darin, dass sie das Gebräuchliche und Verständliche ihren angeblichen Vereinfachungen opfern.

Schule im Abseits

Ist im folgenden Satz das doppelte Komma nötig: Olga hat die Idee, schnell ein Bier zu trinken, stets behagt? Der Rat für Rechtschreibung sagt ja, nein sagen Claudia Schmellentin und Thomas Lindauer in ihrem Buch «Die wichtigen Rechtschreibregeln» (2007). Die beiden müssten es besser wissen, sie sind Mitglieder des Rates. Alle Schweizer Lehrmittel werden von ein und derselben Gruppe betreut. Es sind die Professoren Horst Sitta und Peter Gallmann, Reformer der ersten Stunde, und ihre akademischen Schüler. Sie führen die Schule dreifach ins Abseits, erstens, indem sie das weitergeben, was der Rat für Rechtschreibung nicht verbessert hat, zweitens, indem sie nicht weitergeben, was der Rat verbessert hat, drittens mit eigenen Fehlern.

Im Schweizer Schülerduden (2006) gilt immer noch der Grundsatz, möglichst viel getrennt zu schreiben; das alte Wort wiedersehen gibt es nicht. Klassisch ist der Satz, mit dem Schmellentin und Lindauer den Reformfehler es tut mir Leid zurücknehmen: «Ein Sonderfall bildet leid bzw. Leid.» Verbindlich für Lehrkräfte ist das «Handbuch Rechtschreiben» von Gallmann und Sitta. Wer es heute kauft, bekommt die unveränderte erste Auflage (1998), in der Seite um Seite Regeln begründet werden, die es längst nicht mehr gibt. Die Reformer nehmen die Schule nicht ernst. Oft wird gefragt, ob man nicht deswegen reformiert schreiben müsse, weil die Schule es muss. Die Antwort ist nein. Die Schüler brauchen nicht Erwachsene, die aus Solidarität ihre Fehler mitschreiben, sie brauchen verantwortungsbewusste Anleitung.

Untertan und Obrigkeit

Schlagen wir nochmals die Bibel auf. Im Römerbrief heisst es: «Jedermann sei den vorgesetzten Obrigkeiten untertan.» Der Satz ist gefährlich, und mir gefällt ein anderer aus dem Epheserbrief besser: «Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn!» In unserem Zusammenhang bedeutet das: «Ihr Amtsträgerinnen und Amtsträger, regelt nur das, wofür ihr zuständig seid!»

Nach zwölf Jahren der Reform ist das Durcheinander grösser als je und die Einheit der Rechtschreibung weit weg. Der Weg zur Einheit führt über die Sprachrichtigkeit. Die SOK weist diesen Weg, und auch die öffentliche Verwaltung und die Schule werden ihn gehen, sofern man sie rücksichtsvoll anleitet.

Die Empfehlungen der SOK verdienen Vertrauen.

Stefan Stirnemann


Stefan Stirnemann ist Gründungsmitglied der Schweizerischen Orthographischen Konferenz (SOK) und Mitglied des Sprachkreises Deutsch. Er unterrichtet Latein am Gymnasium Friedberg in Gossau.



Die SOK und die Schule

Nachfolgend eine Stellungnahme aus dem Dachverband Schweizer Lehrkräfte (LCH). Anton Strittmatter, Mitglied der Geschäftsleitung, schreibt: «Ich finde es gut, wenn die Leitmedien Standards setzen. Denn ihnen ist als tägliches Brot die pragmatische, verständliche Kommunikation für ein breites Volk aufgegeben. Die können sich weder eine Rechtschreibverluderung noch einen dünkelhaft-germanistischen Volksbelehrungsstil leisten. Sonst werden sie einfach nicht mehr gekauft. Ich misstraue in dieser Sache allen Berufs-Korrekten: Den Sprachwissenschaftern im universitären Eitelkeitsturm (die ja bei jeder Reform ein mieses, zerstrittenes Bild abgeben) ebenso wie auch der Sorte Lehrer, welche einzig den eindeutigen Rotstiftgebrauch suchen. Die vernünftige Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer dürfte sich letztlich an der Schreibweise der seriösen Leitmedien orientieren – und kämpft überdies, zumindest auf Volksschulstufe, mit ganz anderen Problemen.»

(Link)


Die neue Rechtschreibung im Test

Der Rat für Rechtschreibung rät – raten Sie mit!

1) Bombay setzt im Kampf gegen Menschen jagende Leoparden auf Schweine. So titelte eine deutsche Agentur. Gemeint sind menschenjagende Leoparden, wie man sich zurechtreimen kann.

2) Der St. Galler Stiftsbibliothekar und seine Mitarbeiter sind nach harter Arbeit «verschwitzt, gräulich verstaubt, ausser Atem» (Thomas Hürlimann, «Fräulein Stark»). Der Rat für Rechtschreibung will, dass nicht nur gräulich (ein wenig grau), sondern auch greulich (entsetzlich) mit ä geschrieben wird. Hürlimann meint die Farbe des Staubes, aber das muss man nun erraten.

3) Einige individuelle Interventionen sind wohl bekannt geworden (Saul Friedländer, Historiker). Aber er war sich ihres Ranges wohl bewusst (Reiner Kunze über den Lyriker Huchel und seine Gedichte). Was ist gemeint, wenn wohl bekannt eine Variante zu wohlbekannt ist? Man rate!

4) Das 19. Jahrhundert schrieb gross: Jeder, die Beiden, vor Allem, Nichts. Kennzeichen der modernen Rechtschreibung ist der kleine Buchstabe. Der Rat für Rechtschreibung will, dass wir uns die klobigen Zylinder des 19. Jahrhunderts wieder aufsetzen, allerdings nur einige. Welche? Da muss man raten: am besten, auf das Freundlichste / freundlichste, nicht im Geringsten, nicht im Mindesten / mindesten, im Allgemeinen, bei Weitem / weitem, des Weiteren, vor allem, zum einen, zum Ersten, ein paar Mal / paarmal, jedes Mal, dieser, Letzterer, die beiden, die Ersten. (St.)


Quelle: St. Galler Tagblatt
Link: http://www.tagblatt.ch/magazin/tb-ws/art124,237752


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Kommentare zu »«Er schmirbt myn Grind mit Anken»«
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Kommentar von Hinweis zur Bundeskanzlei, verfaßt am 20.06.2008 um 14.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=591#6802

Die Schweizerische Bundeskanzlei ist die Stab[s]stelle des Bundesrates und untersteht seit 1. Januar 2008 Bundeskanzlerin Corina Casanova (http://www.bk.admin.ch/org/index.html?lang=de). Die Schweizerische Bundeskanzlei ist die älteste eidgenössische Behördeninstitution – 45 Jahre älter als der Bundesstaat Schweiz selbst. Vor dessen Gründung waren der eidgenössische Kanzler und der Staatsschreiber beinahe die einzigen festangestellten Personen der Eidgenossenschaft. Mit dem Bundesstaat verlor die Kanzlei zuerst an Bedeutung: Sie wurde zur Geschäftsstelle des Bundesrates und des Parlaments und protokollierte die Sitzungen. Daneben gab sie die Gesetzestexte und das Bundesblatt heraus. Mit den in den 1960er Jahren eingeleiteten Verwaltungsreformen entwickelte sich die Bundeskanzlei zur Stabsstelle der Schweizer Regierung (http://www.bk.admin.ch/org/00841/00843/index.html?lang=de).


Kommentar von St. Galler Tagblatt, 24. Juni 2008, verfaßt am 24.06.2008 um 11.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=591#6841

Leserbrief zu «Die SOK und die Schule», 20. 6. 08

Weiterdelegieren?

Gemäss Anton Strittmatter vom Dachverband Schweizer Lehrkräfte sollen die Leitmedien die – gerade auch für Schülerinnen und Schüler geltenden – sprachlichen Standards setzen: «Denn ihnen ist als tägliches Brot die pragmatische, verständliche Kommunikation für ein breites Volk aufgegeben.» Dies mag den von Strittmatter im übrigen nicht näher definierten «Leitmedien» schmeicheln. Aus Pädagogenmund ist eine solche Haltung des Weiterdelegierens letztlich nichts anderes als die geistige Bankrotterklärung. In Strittmatters verschrobenem Kommunikations-Universum erhalten die Journalistinnen und Redaktoren ihre sprachlichen Fähigkeiten vermutlich per geistiger Eingabe aus dem blauen Himmel.

Marcel Müller, St. Gallen



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