Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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05.08.2006
SDA
Kein Sprachfriede in Sicht
Dossier zur Rechtschreibreform
Rechtzeitig zum ersten August hat die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) ein ausführliches Themenpaket zur neuen Rechtschreibung verschickt.
Die SDA ist zur Zeit die in dieser Frage sachkundigste Agentur; ihre Kunden sind die bestunterrichteten. Wir drucken im gebührenden zeitlichen Abstand die publizierten Texte ab. Eine ausführlichere Fassung finden Sie hier.
Am 1. August tritt die revidierte Rechtschreibreform in Kraft
Kein Sprachfriede in Sicht
Bern (sda) Am 1. August 2006 tritt die neue Rechtschreibung in ihrer dritten Version in den Schulen der deutschsprachigen Länder in Kraft. Verbunden damit ist die Hoffnung, in der bisweilen erbittert geführten Auseinandersetzung möge Ruhe einkehren.
Sie dürfte sich kaum erfüllen: zum einen hat der Rat für deutsche Rechtschreibung angekündigt, er werde weitere Korrekturen prüfen, und zum andern sind wichtige Nutzer der Rechtschreibung, allen voran die Schriftsteller, mit der Reform weiterhin höchst unzufrieden.
Führende Sprachwissenschafter weisen zudem darauf hin, dass zahlreiche neue - obligatorische oder fakultative - Schreibweisen "ungrammatisch", also schlicht falsch, seien (morgen Früh, Recht haben, Fleisch fressend).
Zu viele Köche
Allzu viele Interessen mussten unter einen Hut gebracht werden: die Altreformer wollten möglichst viele ihrer "stringenten", aber von der Mehrheit der Sprachbenutzer abgelehnten formalistischen Regeln retten, die Schulbuchverleger wollten aus Kostengründen möglichst gar nichts mehr ändern.
Schriftsteller und Sprachwissenschafter wollten möglichst weit zurück zu den herkömmlichen Regeln, Journalisten und Nachrichtenagenturen und auch der Vorsitzende des Rats für deutsche Rechtschreibung wollten "pragmatisch" die "unsinnigsten neuen Regeln glätten".
Die Behörden, die nach einem überraschenden Eingeständnis der ehemaligen Vorsitzenden der deutschen Kultusministerkonferenz, Johanna Wanka, "längst wissen, dass die Rechtschreibreform falsch war", sie sei aber "aus Gründen der Staatsräson nicht zurückgenommen worden" (Spiegel vom Januar 2006), wollen vor allem eines: endlich Ruhe.
Fatale "Hilfe" der Wörterbücher
Das Resultat ist statt der versprochenen Vereinfachung eine Flut von teilweise sich widersprechenden Varianten. Trotzdem wird die revidierte Rechtschreibung von den Behörden und den Wörterbüchern zum "vernünftigen Kompromiss" schöngeredet.
Die führenden Wörterbücher, Duden und Wahrig, beschränken sich nicht darauf, die Varianten aufzuführen. Wahrig gibt in rund 50 Fällen eine Empfehlung ab, Duden grundsätzlich bei allen rund 3000 Varianten.
Die Empfehlungen von Wahrig und Duden widersprechen sich in zahlreichen Fällen (Wahrig: engbefreundet, Duden: eng befreundet), diejenigen Dudens sind auch in sich unstimmig (Strom sparend - energiesparend).
Insbesondere die Empfehlungen des Dudens düpieren den Rat für deutsche Rechtschreibung, indem sie zahlreiche von diesem zurückgeholte herkömmliche Zusammenschreibungen (sitzenbleiben, selbsternannt) nicht empfehlen.
Sie sind auch keineswegs im Sinne des Bundesrates, der in einer Antwort auf das nationalrätliche Postulat Riklin die Notwendigkeit hervorhob, mit der Getrennt-/Zusammenschreibung auch weiterhin Bedeutungsdifferenzierungen ausdrücken zu können.
Selbsthilfe
Den professionell Schreibenden - Verlagen, Zeitungen, Nachrichtenagenturen - bleibt nichts anderes übrig, als eigene Hausorthographien zu entwickeln. Die SDA entschied sich früh für den Grundsatz "Bei Varianten die herkömmliche". Die übrigen deutschsprachigen Nachrichtenagenturen übernahmen den Grundsatz inzwischen ebenfalls.
Die Erziehungsdirektorenkonferenz, die die Reform der Reform nach einigem Zögern akzeptiert hat, hat für den Herbst eine Handreichung für die Lehrer angekündigt. Die wird nötig sein; die Wörterbücher sind für die Übergangsfrist nur bedingt tauglich, da sie die zwischen 1996 und heute geltenden abweichenden Varianten ausblenden (Leid tun, zu Eigen machen).
Open End
Die Fortsetzung der unendlichen Geschichte ist offen. Die einen rechnen damit, die Rechtschreibung repariere sich selbst, da sich langfristig das Bessere sowieso durchsetze.
Andere hoffen darauf, dass der Rechtschreibrat die Energie aufbringt, wie versprochen weitere Korrekturen vorzunehmen. Eines scheint sicher: das Thema bleibt auf der Traktandenliste.
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Kommentar von GL, verfaßt am 13.08.2006 um 10.25 Uhr
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"Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt."
Schiller, Wilhelm Tell (IV, 3)
Hätten sich die Reformer vorab seriös mit der deutschen Sprache und ihrer Literatur auseinandergesetzt, bräuchten sie aus Gründen der Staatsräson heute auch nicht mehr nach "Ruhe" zu schreien!
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 13.08.2006 um 17.56 Uhr
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So bezeugen diese "Reform" und ihre weithinnigen Annahmen eben nicht nur sinnleeren Aktivismus, sondern den Kulturstand aller dafür Verantwortlichen. Das sollte man nicht der Bildung des Bildungsbürgertums zur Last legen; und wenn man es doch wollte, dann ist es eben gerade das Negative an dieser Idee, der diese Leutchen, KulturministerInnen, Halbwissenstudierte in ihren Ämtern, Aufstrebende in allen möglichen Mediensparten, anhängen und ja anhängen müssen; denn sie wollen auch mal mitreden und haben ja auch die Macht dazu, — koste es, was es wolle, auch wenn sie das nicht so gern so recht zu überschauen vermöchten. Wer in sich nicht mal Staatsraison mit wissenschaftlicher Wahrheit ins klare bringen kann, dem mangelt eben die persönliche Kultur, die nun mal Grundlage zur Führung eines ruhigen Zusammenlebens der Gemeinschaft ist.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 13.08.2006 um 19.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4728
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Die Unterordnung der wissensachaftlichen Wahrheit unter die Staaatsraison war bisher das Kennzeichen totalitärer Staaten. Aus einem solchen stammen eben einige der Rechtschreibreformer.
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Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 14.08.2006 um 08.50 Uhr
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Das wirklich Erschreckende aber bleibt, daß diese Tatsachen kaum mit Empörung wahr-, sondern weithin, wenn überhaupt zur Kenntnis, dann abwinkend hingenommen werden. Zwar meinte Brecht, wer A sagt, müsse nicht B sagen, sondern könne auch erkennen, daß A falsch war. Soweit sind wir aber im politischen Raum noch nicht, und nicht nur dort.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 14.08.2006 um 12.13 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4731
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Die Hetze gegen Günter Grass wegen einer Jugendsünde im Alter von 17 Jahren beweist, daß tatsächlich niemand zugeben darf, jemals einen Fehler begangen zu haben.
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 14.08.2006 um 18.15 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4734
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Mein Vorschlag: Lassen wir mal die Grass-Sache hier heraus. Literatur ist eine künstlich geschaffene Wirklichkeit, und große Literatur ist eine künstlerisch geschaffene Wirklichkeit, der wir uns gern aussetzen. Aber alle Kunst geht nach Brot, und so dient auch diese Neuigkeit um Grass der Werbung für ein neues Kulturprodukt. Sie sehen, ich meine eben nicht, daß Künstler und Sportler und anderweitig "Führende" uns großartige Vorbilder sein sollten; diese Funktion überlasse ich in unserer Kultur Heiligen, selbst wenn sie es wie der St. Nikolaus nur 3. Grades sind, also wahrscheinlich nur menschlicher Imagination entsprungen sind.
Dagegen haben sich Wissenschaftler ethisch an die wissenschaftliche Wahrheit gebunden. So teile ich Eversbergs Erschrecken darüber, daß eben auf Kosten der Gemeinschaft von politisch Verantwortlichen hier auch auf Anraten einiger "Wissenschaftler" Brücken gebaut werden, deren Konstruktion ganz bewußt nicht einfachsten Einsichten der Brückenarchitektur entspricht, die aber laut Verordnung zu benutzen sind; denn im Notfall könne ja nachgebessert werden.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 15.08.2006 um 10.13 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4736
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Vielleicht noch diese kurze Bemerkung zu Grass: An seinem "Fall" kann man gut studieren, wie man zu einer "moralischen Instanz" wird. Man muß einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben und sich fortan zu allem und jedem moralisierend äußern. Der Bedarf an Leitfiguren ist immer vorhanden, da nimmt man, was sich gerade anbietet. (Habe mal wieder in die "Blechtrommel" geschaut - wie langweilig!)
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Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 15.08.2006 um 12.16 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4737
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Das Naserümpfen über selbst ernannte oder selbsternannte oder vielleicht auch unfreiwillige Päpste und Moralisten gehört aber auch zum Zeremoniell. Ich erinnere mich, in den 50er Jahren die Blechtrommel gelesen zu haben. Damals war ich begeistert, vielleicht ist der Roman durchs viele Gelesenwerden inzwischen irgendwie ausgewrungen und dadurch saftlos und fad geworden.
Immer, wenn es ernst wird im öffentlichen Leben, fragt man, warum denn die Schriftsteller dazu nichts sagen oder warum sie dieses sagen und nicht etwas anderes. Wenn sie nichts sagen, sind sie Feiglinge. Und wenn sie was sagen, sind sie Päpste oder Moralisten. Wer möchte da noch Schriftsteller sein!
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 15.08.2006 um 19.34 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4738
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Franz Kafka und Vaclav Havel sind immer noch einsame Vorbilder.
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Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 16.08.2006 um 15.03 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4742
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In Spiegel-Online kann man Auszüge aus Grass' Buch lesen, in der von dort gewohnten grauenvollen Rechtschreibung ("zwei Mal"). Hoffen wir, daß wenigstens das Buch selbst in der von Grass (s. nachrichtenbrett.de) propagierten Rechtschreibung gesetzt ist.
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Kommentar von R. M., verfaßt am 16.08.2006 um 15.42 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4743
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Da können Sie sicher sein.
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Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 17.08.2006 um 09.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4746
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Wer sich ganz sicher ist, in vergleichbarer Situation ganz anders gehandelt zu haben, mag mit Fingern auf Grass zeigen. (Seine Werke muß man unabhängig von seiner Person sehen, jeder hat da die Freiheit der eigenen Bewertung - wie immer bei Kunst.) Wer aber den alten Grass nicht in Ruhe lassen mag, weil der nicht gegen Unrecht aufstand - solches aber später stets von anderen einforderte - oder weil er das Eingeständnis allzu lange aufschob, der soll sich auch fragen lassen, warum er nicht aufsteht gegen Unfug, der heute staatlich verordnet und aufgezwungen wird, oder warum er den längst erkannten und dokumentierten Unsinn stillschweigend duldet und nicht offen so nennt und sich davon lossagt. Gefahr für Leib und Leben besteht dabei nicht, den Verlust eines Nobelpreises gibt es auch nicht zu befürchten.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 17.08.2006 um 09.26 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4747
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Wie schon ein anderer Teilnehmer dieses Forums vorgeschlagen hat, sollten wir hier keine endlose Grass-Debatte führen. Für mich persönlich ziehe ich aus der Angelegenheit den Schluß, daß ein Schuß Skepsis in Sachen Heldenverehrung nie schaden kann.
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Kommentar von Mika Sander, verfaßt am 17.08.2006 um 10.59 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=500#4748
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Das S-Wort
Eine ENTHÜLLUNG von Jens Mühling
Nach der Selbstoffenbarung des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass sehen Deutschlands Intellektuelle immer mehr scheinbare Gewissheiten in Zweifel gezogen. So erklärte gestern ein anonymer Germanist, auch Grass’ vehemente Ablehnung der Rechtschreibreform müsse im Lichte seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft neu bewertet werden. Der Wissenschaftler wies schlüssig nach, Grass habe die Reform des Regelwerks vor allem deshalb zu verhindern getrachtet, weil die weitgehende Ersetzung des Buchstabens ß durch den Doppelkonsonanten ss ein „biografisches Trauma des Schriftstellers berührt“ habe. Aus demselben Grund habe Grass seine Enthüllung auch in der „FAZ“ publik gemacht, weil diese, so der Germanist, „bis heute sz schreibt, wo die SZ ss schreibt“.
In diesem Zusammenhang wies der Germanist auf einen am Tag der Enthüllung veröffentlichten Kommentar des „FAZ“-Herausgebers Frank Schirrmacher hin, in dem dieser erklärt hatte, Grass sei entgegen der üblichen Waffen-SS-Gepflogenheiten zwar nicht mehr tätowiert worden, weil dafür die Zeit gefehlt habe, dennoch trage er bis heute „das Mal“ der SS an sich. Der Literaturwissenschaftler bezichtigte Schirrmacher in diesem Zusammenhang der „Verbreitung gefährlichen Halbwissens“. Er verwies auf die Tatsache, dass Günter Grass 1927 in Danzig unter dem Namen Günter Graß geboren wurde. Nachforschungen des Germanisten zufolge kam es dann 1944 an der Ostfront zu folgendem Wortwechsel zwischen Grass (zu diesem Zeitpunkt noch Graß) und Heinz Harmel, dem Kommandeur der SS-Panzer-Division Frundsberg:
Harmel: „Panzerschütze Graß, Sie haben die Wahl: Tätowierung – oder Namensänderung!“
Graß: „Keine Tätowierung, Herr Gruppenführer! Gegen Tinte bin ich allergisch!“
Unter massivem Druck, erklärte der Germanist, habe sich „SZ-Graß dann in SS-Grass umbenannt“. Die Enthüllung löste unter Intellektuellen im In- und Ausland kontroverse Reaktionen aus. Frank Schirrmacher schrieb in einem neuerlichen „FAZ“-Kommentar, er nehme „mit Verdruß zur Kenntniß“, dass Grass „nunmehr auch in linguistischer Hinsicht nicht mehr das Gewißen dieser Nation“ sei. „SZ“-Chefredakteur Hans Werner Kilz entgegnete, auch für ihn sei die Affäre „eine grosze Enttäuschung“. Der Rat für deutsche Rechtschreibung erklärte, die Enthüllung werde „mitnichten zu einer Rücknahme der Reform“ führen.
Dies hatte zuvor der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski gefordert, der zudem die Umbennung von Günter Grass’ Geburtsstadt Danzig (polnisch: Gdansk) in „Aouiea“ (deutsch: Stadt ohne Konsonanten) ankündigte. Als „Zugeständnis an die internationale Gemütslage“ erklärte der Rat für deutsche Rechtschreibung: „Verhandelbar ist eine Umbenennung der Waffen-SS in Waffen-ß.“ Ein namhafter deutscher Osteuropaforscher kündigte unterdessen weitere Enthüllungen über Grass in einer „großangelegten Studie über kaschubische Zischlaute“ an. Des Weiteren stellte ein Berliner Journalist die Frage: „Darf man über so was eigentlich Gloßen schreiben?“
http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/16.08.2006/2716606.asp
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