Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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21.07.2006
Christian Meier
Erster August
Der erste August, einstmals im Gedächtnis der Deutschen als Beginn des Ersten Weltkriegs, ist seit 1998 ein Datum, an dem die Rechtschreib„reform“ sei es an der Schule eingeführt (1998), sei es von Zeitungen übernommen (1999), sei es von Zeitungen verabschiedet (2000) wird.
2005 wurden die meisten der neuen Schreibungen für die Schulen verbindlich gemacht. Jetzt geschieht dies mit dem Rest. Und auch der Springerverlag stellt wieder einmal um.
Die Bilanz der "Reform" ist niederschmetternd. Geht man in eine Buchhandlung und treibt sich dort nicht gerade unter Schul- oder Kochbüchern herum, sondern unter Schriftstellern und Gelehrten, so findet man nach wie vor überwiegend die bewährte Schreibung, und es ist nicht abzusehen, daß sich daran so bald etwas ändert.
Eigentlich sollte die "Reform" inzwischen weniger anstößig geworden sein. So hatte es sich jedenfalls der Vorsitzende des Rats für Rechtschreibung, Hans Zehetmair, vorgenommen. Einiges, so die Getrennt- und Zusammenschreibung, hat er ja auch verändert. Anderes, so die Groß- und Kleinschreibung, steht noch aus. Und zweifellos harren noch haarsträubende Mißgriffe wie die Drei-Konsonanten-Regelung (Flussschifffahrt, Schlammmassen etc.), die vor 150 Jahren dank Jacob Grimm schon einmal abgeschafft wurden, sowie die "belämmerten" Volksetymologien ihrer Revision. Man hätte darauf warten können. Denn der Beschluß der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 30. November/ 1.Dezember 1995 sieht ausdrücklich vor: "Sollte sich herausstellen, daß die Übergangsfrist zu großzügig oder zu eng bemessen ist, wird eine Veränderung der Frist durch die KMK in Aussicht genommen."
Rückblickend wird deutlich, welch raffiniertes Manöver da über die Bühne gegangen ist. Man ersetzt die bisherige Kommission durch eine neue, wobei zahlreiche Mitglieder der alten auch in der neuen sitzen. Man trifft Vorsorge, daß die Mehrheit aus Reformanhängern besteht. Um deren Position noch besser abzusichern, müssen Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Um gelten zu können, müssen sie dann noch von der KMK gebilligt werden.
So können einige besonders anstößige Gravamina behoben werden - als erster Schritt zur Reform der Reform. Der Ratsvorsitzende läßt sich auf einen weiteren Trick ein. Es wird verfügt, Anfang März müsse klar sein, was nun gilt; strittig sei nur die Getrennt- und Zusammenschreibung, und die ist geregelt. (Womit die Minister gut demokratisch nicht nur darüber "verfügen", was gilt, sondern auch darüber, was strittig ist.)
So wird die unvollständige "Reform der Reform" zum Ganzen gemacht. Der Ratsvorsitzende und etwa die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, auf die er sich unwidersprochen in aller Öffentlichkeit beruft, merken gar nicht, daß der erste schon der letzte Schritt sein soll, soweit es nach den Ministern geht. Und sie wissen natürlich auch nicht, daß die beschlossenen Änderungen im jetzt erscheinenden Duden zum Teil schon wieder zurückgenommen werden.
[Angeblich dient das der Staatsräson. Doch ist beim besten Willen nicht auszumachen, wie es dem Staate dienen soll, eine derart mißlungene „Reform“ mit solchem Ingrimm zu verteidigen. Er macht sich dadurch eher lächerlich. Beim derzeitigen Bildungsstand sollte man also vermuten, daß Räson in diesem Zusammenhang nur ein falsch verstandenes Fremdwort ist. Fremdwörter sind Glückssache. Und mit fortune ist die KMK ja wahrhaftig nicht gesegnet.]
Der Ratsvorsitzende, der offenbar doch weniger ein reuiger Sünder als ein, wie landesüblich, wenig couragierter Politiker ist, kann erklären, was er will. Die Zeichen sind eindeutig: Soweit es nach den Ministern geht, soll die Schreibung so, wie sie jetzt ist, bleiben. Gleichwohl entblödet er sich nicht, überall herumzuschreiben und herumzutelefonieren, damit alle Zeitungen und alle Schriftsteller sich künftig darauf einlassen. [Anderes vollzieht sich auf dem kurzen Dienstweg zwischen dem Platz der Republik und der Kochstraße in Berlin.]
Die Akademie versucht Schadensbegrenzung, beschließt am 11. Mai eine kurze Resolution: "Die inzwischen erfolgte Reform der Rechtschreib,reform' ist zwar zu begrüßen. Doch enthält die neue Schreibung noch so viele gravierende Mängel, daß auf ihrer Basis die Wiederherstellung einer überwiegend einheitlichen Schreibung nicht gelingen kann. Es empfiehlt sich daher keineswegs, diese durchaus unbefriedigende Lösung als die längerfristig gültige anzusehen. Es würden dadurch die notwendigen weiteren Reformen sehr erschwert." [Doch das wird kaum zur Kenntnis genommen.]
Da nun aber die vorliegende Version der "Reform" die endgültige sein soll, besteht gar keine Aussicht darauf, daß die Einheitlichkeit der deutschen Schreibung in absehbarer Zeit sich wieder einstellen wird. Weithin werden die alten und, wie deren Erklärung zeigt, die wichtigsten jungen Schriftsteller wie die meisten Wissenschaftler an der bewährten Schreibung festhalten. Und ohnehin werden noch lange 99 Prozent der deutschen Literatur ihren Lesern in dieser Schreibung erscheinen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Begründung seiner, gelinde gesagt: nicht unproblematischen Entscheidung zur "Reform" 1998 erklärt, "nach derzeitigem Kenntnisstand" sei die ministerielle "Prognose, daß die Rechtschreibreform die notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde", nicht zu beanstanden. Was immer es für Kenntnisse hatte: An prognostischer Kapazität hat es offenkundig gehapert. Aber eben wegen der fortgesetzten Beratungsresistenz und Unbelehrbarkeit der Minister ist ganz ausgeschlossen, daß diese Schreibung, so wie sie ist, sich durchsetzen wird. Der Rat für Rechtschreibung muß, auch wenn es nicht genehm ist, seine Arbeit wiederaufnehmen oder durch einen anderen Rat ersetzt werden. Ganz an der Wissenschaft und ganz an Schriftstellern, Gelehrten und der Mehrheit der Schreiber kann man solche Schreibung auf die Dauer nicht behaupten. Es wird also immer wieder neue Umstellungen geben, immer wieder neue völlig überflüssige Kosten und Arbeit - bis am Ende vielleicht doch eine Schreibung sich herausstellt, die Zukunft hat.
Der Verfasser ist Althistoriker und ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Um die in eckigen Klammern stehenden Passagen gekürzt erschienen in der F.A.Z. vom 21. 7. 2006.
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Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 18.08.2006 um 16.26 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4755
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Klar darf mann. Mann muß nur, wenn mann Schüler oder Beamter ist. So mann denn kann. Wenn mann Zeitungsschreiber ist, sollte mann. Das macht einfach einen besseren Eindruck.
("mann" mit zwei n im Original).
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Kommentar von Mika Sander, verfaßt am 18.08.2006 um 09.52 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4754
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Wormser Zeitung:
Wie denn nun? Stillsitzen oder still sitzen?
Die Rechtschreibreform ist wieder einmal abgeschlossen / Kaum ein Mensch blickt noch durch / "Keine Lust mehr"
Vom 18.08.2006
reb. LAMPERTHEIM Was ist denn nun die richtige Schreibweise? "Hierzulande lebt man sehr energiesparend" oder "Hier zu Lande lebt man sehr Energie sparend"? Geht es nach der neuen Rechtschreibreform, sind beide Sätze korrekt. Seit dem ersten August 2006 gilt die neue Rechtschreibung. Die endgültige, wie es heißt. Die Rechtschreibreform gilt offiziell als abgeschlossen. Passend dazu erschien vor einigen Wochen der neue Duden. Darin ist die neue Rechtschreibung in roten Lettern zu finden. Zusätzlich gibt der Duden Empfehlungen, die mit gelber Farbe gekennzeichnet sind. "Wer sich an diese Duden-Empfehlungen hält, stellt eine einheitliche Rechtschreibung sicher, die auch anderen leicht zu vermitteln ist", schreibt Dr. Matthias Wermke, Leiter der Dudenredaktion, im Grußwort des neuen Nachschlagewerks zur deutschen Rechtschreibung. Wirklich? Warum empfiehlt dann aber die gelbe Fibel Ein-Euro-Job und gleichzeitig Eineurostück? Und warum wird Furcht einflößend aber furchterregend von der Dudenredaktion empfohlen? Wo ist da die Einheitlichkeit geblieben. Der neuen Reform zufolge könnte man aber auch furchteinflößend und Furcht erregend schreiben.
Die Schüler haben wieder ein Jahr Zeit, sich an die neuen Regeln zu gewöhnen. Lehrer sollen zwar die Fehler markieren, aber nicht bewerten. Doch wer blickt bei diesem ganzen Wirrwarr überhaupt noch durch? "Man weiß gar nicht mehr , was man noch schreiben soll", erzählt der 17-jährige Kevin, der gerade sein Abi macht. Beim Satz "Hierzulande..." kommt er zweimal ins Stocken. Am Ende kommt ein "Hier zu Lande lebt man sehr Energie sparend" heraus. Falsch wäre das nicht. Verkehrt machen kann man kaum noch etwas. "Eigentlich kann man jetzt alles schreiben" meint eine junge Frau, die gerade ihr Abitur gemacht hat.
Der neue Duden ist für ca. 20 Euro im Handel zu erwerben. Für viele Käufer ein Ärgernis. Denn es ist gerade einmal ein Jahr her, dass der Vorgänger auf dem Markt erschien. "Klar regen sich manche Leute auf", erzählt Klaus Metz von der Buchhandlung Pegasos, "doch sie kaufen ihn, weil sie ihn brauchen." Nichtsdestotrotz boomt das Geschäft mit dem Nachschlagewerk. In der Bestsellerliste der Sachbücher schoss er gleich auf die Pole-Position (auch Poleposition möglich). Auch im zweiten Lampertheimer Buchladen, dem Bücherschiff, erzählt die Verkäuferin: "Er läuft recht gut." Hauptsächlich Mütter würden ihn für ihre Kinder kaufen, so die Verkäuferin. Wovon viele nichts wissen: Beim Kauf eines neuen Duden gibt es vier Euro Ermäßigung, wenn man eine ältere Version zurückgibt. Immerhin etwas. Doch von diesem Angebot macht nur etwa die Hälfte der Lampertheimer Gebrauch, wie die beiden Buchhändler übereinstimmend berichten.
Eine 42-jährige Spargelstädterin ist sehr erzürnt über die Rechtschreibreform. "Ich habe bald keine Lust mehr ständig neue Duden zu kaufen", erzählt die Mutter einer neunjährigen (auch 9-jährigen möglich) Tochter und eines 15-jährigen Sohnes. Ein Sportstudent aus Lampertheim geht sogar noch einen Schritt weiter: "Die deutsche Sprache ist eine Farce. Die Reform hat sie verkompliziert statt vereinfacht."
Ein anderer Student muss lange überlegen, wie er die Wörter stillstehen und still sitzen schreiben soll. Schließlich schreibt er beides zusammen. Doch Achtung. Stillsitzen darf mann nach der Rechtschreibreform auch auseinander, also still sitzen schreiben. Stillstehen geht dagegen nur zusammen.
Wer soll da noch durchblicken? Die Rechtschreibreform hat also versagt und nichts als Verwirrung gestiftet. Auch der Duden und das Alternativnachschlagewerk Wahrig tragen ihren Teil dazu bei. Die Empfehlungen des Duden sollten doch eigentlich Sinn ergeben. Aber: Wo ist er geblieben, wenn man einerseits energiesparend und auf der anderen Seite Strom sparend empfiehlt. Wäre das im Sinne von Konrad Duden gewesen?
http://www.main-rheiner.de/region/objekt.php3?artikel_id=2490996
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Kommentar von Badische Zeitung vom Dienstag, 1. August 2006 , verfaßt am 17.08.2006 um 14.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4753
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Manifest der Hilflosigkeit
Der neue Duden offenbart, wohin die heute in Kraft tretende Rechtschreibreform führt
Heute tritt die nach den Empfehlungen des Rechtschreibrates revidierte Rechtschreibreform an den deutschen Schulen in Kraft. Darf man aufatmen? Ist der Streit um die richtige Orthografie der deutschen Sprache geschlichtet, der Rechtschreibfrieden wieder hergestellt? Ein Blick in den zum Stichdatum erschienenen neuen Duden macht offenbar: Die Verunsicherung ist größer denn je.
An Umfang hat das "Standardwerk" (Dudenredaktion) der deutschen Rechtschreibung in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Die 24. "völlig neu bearbeitete und erweiterte" Auflage ist geschlagene 1216 Seiten stark. Schon die Handreichung, die dem Werk als Einlegzettel beigegeben ist, macht stutzig. Es wird behauptet, "die Sicherheit in Fragen der Orthografie" sei jetzt wieder hergestellt. Den nächsten Satz liest man dann aber mit Erstaunen: "Aus den letzten Regeländerungen ergeben sich jedoch zahlreiche neue Fälle, in denen es den Schreibenden selbst überlassen bleibt, zwischen zwei zulässigen Schreibungen zu wählen. Solche Schreibvarianten werden im Alltag da zum Problem, wo Wert gelegt wird auf eine einheitliche Rechtschreibung." Und, weiter: "Wer nicht wissen will, wie er schreiben kann, sondern wie er schreiben soll, dem hilft das amtliche Regelwerk allein nicht weiter."
Man hatte eigentlich gedacht, genau dies sei Ziel der Reform gewesen: Einheitlichkeit durch Vereinfachung von Regeln und Schreibweisen. Dass das Gegenteil eingetreten ist, gibt jetzt sogar der Duden selbst zu. Das seit der Einführung des Duden vor mehr als 100 Jahren ad acta gelegte Phänomen einer "Hausorthografie" wird wieder beschworen. Der Duden, seit je auf der Seite des vermeintlichen Fortschritts, verspricht, eine Schneise in den Dschungel zu schlagen: mit mehr als 3000 (!) nicht verbindlichen (!) "Empfehlungen" für die erschreckend zahlreichen Fälle, in denen nach dem vom Rat für Deutsche Rechtschreibung ausgehandelten Kompromiss ab sofort zwei Schreibweisen gleichberechtigt nebeneinander zugelassen sind: "polyfon" und "polyphon" , "Fantasie" und "Phantasie" , "Phonetik" und "Fonetik" , der "Nicht Berufstätige" und der "Nichtberufstätige" , der "anders Denkende" und der "Andersdenkende" , die "allein Erziehende" und die "Alleinerziehende" , "allgemein verständlich" und "allgemeinverständlich" . Man kann sich in den Varianten verlieren. Eine Logik im Empfehlungswesen des Duden ist nicht zu erkennen. Wieso schlägt der Duden vor, "fertig machen" und "fertig bekommen" auseinander-, "fertigbringen" und "fertigstellen" aber zusammenzuschreiben? Worin könnte der Unterschied zwischen den empfohlenen Schreibweisen "fernliegend" und "nahe liegend" , "wohlriechend" und "übel riechend" , "zeitsparend" und "Raum sparend" liegen? Es gibt keinen. Man muss zu dem deprimierenden Ergebnis kommen: Gerade auf den umkämpften Gebieten der Getrennt- und Zusammen- sowie der Groß- und Kleinschreibung kann der Duden kein Jota zur Klärung beitragen.
Optisch macht sich die verworrene Lage in der Einführung des Vierfarbendrucks bemerkbar. Die reformierte Schreibweise wird in Rot angezeigt, die herkömmliche in Schwarz, komplizierte Fälle werden in Kästen blau unterlegt, die um eine Normierung ringenden "Empfehlungen" sind in Signalgelb hervorgehoben. Auf vielen Seiten bietet sich so ein fröhlich buntes Bild, das symbolisch nur für eins steht: das Ende der deutschen Einheitsorthografie. Dem hat auch der Duden nichts entgegenzusetzen, auch weil er die Ergebnisse der Beratungen im Rechtschreibrat in vielen Fällen, wie der Tübinger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler, der profundeste Kritiker der Reform, in Detailanalysen nachweist (FAZ vom 21. Juli), leise zu unterlaufen versucht.
Wenn man heute Deutschlehrer fragt, ob sie noch wissen, wie man korrekt Deutsch schreibt, erntet man ein Achselzucken. Der neue Duden ist ein Manifest der orthografischen (oder orthographischen) Hilflosigkeit. Er liefert den endgültigen Beleg dafür, was die vermeintliche Reform der deutschen Rechtschreibung angerichtet hat: ein Chaos aus ideologisch verblendeter Regulierungswut und eine Verwirrung in der Sprachgemeinschaft, mit der diese wohl oder übel wird leben müssen. Bettina Schulte
(Link)
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Kommentar von Badische Zeitung, 16. August 2006 (Leserbriefe), verfaßt am 17.08.2006 um 14.03 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4752
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Die Welt lacht, verhöhnt und bedauert uns
Per Erlaß und ohne jede gesetzliche Grundlage werden künftig Schulkinder, Lehrer und Beamte mittels einer vermeintlichen Reform der deutschen Rechtschreibung gezwungen, Schwachsinn zu lernen, zu lehren und auch anzuwenden.
Eltern-Kind-Beziehungen werden damit gestört oder gar zerstört. Der Bürger kann die tollpatschige Mitteilung der Behörde nicht mehr richtig lesen und verstehen. Aber die überwiegende Mehrheit der Menschen im Land der Dichter und Denker schreibt trotzdem weiter wie gehabt.
Die einst angestrebte Einheit der deutschen Sprache ist zerstört worden! Das ist eben so in einer Demokratie wie der unsrigen. Der Versuchsballon namens "außerdemokratischer Dirigismus" hat seinen Probeflug mit Erfolg bestanden! Das Experiment ist gelungen. Daher können und werden nun weitere derartige Aufstiege folgen. Ist das soweit klar?
Wie sagte doch einst Heinrich Heine? "Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht" . Heute sage ich "Gute Nacht Deutschland" !
Übrigens ist dieser Schreiberlaß eine Weltneuheit. Die Welt lacht, verhöhnt und bedauert uns deshalb. Zu Recht, meine ich. Und schäme mich für mein Land. Hans-Friedrich Tschamler, Schopfheim
Man hätte die Reform dem Duden überlassen sollen
Das Ganze könnte als satirische Burleske abgetan werden, aber zwei Aspekte ärgern mich doch sehr: Wie viele Millionen oder gar Milliarden hat das jahrelange Gezerre gekostet und kostet die Umstellung, angefangen von den damit befassten Beamten bei Bund und Ländern über Professorengehälter, Honorare, Gutachten und Gegengutachten, Podiumsdiskussionen etc. bis hin zur Schulung von Lehrkräften und dem Druck neuer Schulbücher?
Hätte man die Reform — wie in den vergangenen hundertzwanzig Jahren — einfach dem Duden überlassen, wäre das Ergebnis garantiert besser und hätte den Steuerzahler nur einen Bruchteil gekostet. Die eingesparten Mittel hätte unser krankes Bildungssystem anderweitig dringend gebrauchen können!
Ein Großteil meiner Enkel wächst im frankophonen Europa auf. Natürlich ist es mein Bestreben, ihnen möglichst viel von deutscher Sprache und Kultur zu vermitteln. Dass dies bei unserer komplizierten Grammatik und Rechtschreibung mit den vielen Ausnahmen auch bisher nicht einfach war, wissen alle, die mit Ausländern zu tun haben. Die verkorkste Rechtschreibreform wird ein weiterer, selbst verschuldeter Schritt dazu sein, die deutsche Sprache europa- und weltweit noch mehr als bisher aus dem Zentrum der anerkannten und angewandten Sprachen zu verdrängen. Arno Grozinger, Neuenburg
Ein Dokument der Sprachverhunzung
Es ist noch nicht lange her, daß der Duden in Deutschland als eine über jeden Zweifel erhabene Institution galt. Heute ist er mindestens ein "Manifest der Hilflosigkeit" , man könnte auch deutlicher formulieren: ein Dokument der Sprachverhunzung und Ergebnis einer kulturpolitischen Katastrophe. Bettina Schulte läßt mit Recht kein gutes Haar an der sogenannten Rechtschreibreform. Ihrem Fazit — "ein Chaos aus ideologisch verblendeter Regulierungswut und eine Verwirrung der Sprachgemeinschaft" — kann man nur zustimmen. Unverständlich bleibt allerdings ihre Schlußfolgerung, daß die genannte Sprachgemeinschaft mit diesem Murks "wohl oder übel wird leben müssen" . Die "Rechtschreibreform" ist ein in Hinterzimmern ausbaldowertes Schurkenstück ohne demokratische Legitimation. Daran ändern auch die halbherzig nachgeschobenen Parlamentsbeschlüsse nichts. Eine hervorragend funktionierende Rechtschreibung steht nach wie vor zur Verfügung — die alte. Es bedarf nur einer Winzigkeit an Zivilcourage, sich weiter an sie zu halten (wie der Autor dieses Briefes, Anm. der Redaktion) statt den chaotischen Ideologen hinterherzulaufen. Zsolt Pekker, Heitersheim
Fazit: Man muss die Getrennt- und Zusammenschreibung zu vergessen suchen
Was tun? Zunächst muss man — soll ich sagen: leider? — die Getrennt- und Zusammenschreibung zu vergessen suchen. Der kluge Konrad Duden hat sich damals 1901 an diesen Wildwuchs, der kaum in stimmige Regeln zu pressen ist, nicht herangewagt.
Etwa 95 Prozent aller Kritik bezieht sich auf diesen Teilbereich der Reform. Dabei sind einige Überlegungen durchaus nachvollziehbar. Ich greife Beispiele aus den Beiträgen auf.
Man glaubte, den Schreibenden die Möglichkeit geben zu müssen, dass sie unterscheiden zwischen wohlriechend und wohl riechend, d. h. überhaupt Geruch verströmend, statt gar nicht zu riechen; ähnlich wie wohlverdient gegenüber wohl verdient, erkennend, dass das Adverb wohl mehrere unterschiedliche Bedeutungen haben kann.
Ebenso glaubte man anscheinend, die Schreibung anders Denkende offen halten zu sollen für Leute, die bei Andersdenken den Akzent auf Denkende verlagern wollen. Wie so häufig beim Versuch, Bedeutungsnuancen durch Schreibvarianten wiederzugeben, gerät man dabei unversehens in Bereiche weit hergeholter und oft verkrampfter Denkweisen.
Gegen die neue Groß- und Kleinschreibung bestehen solche Bedenken nicht — im Gegensatz zu dem, was Bettina Schulte uns glauben machen will. Als wäre alles ein Einheitsbrei, lehnt sie die Getrennt- und Zusammenschreibung in der reformierten Form gleichermaßen ab. Der letztere Bereich ist jedoch zur Zufriedenheit aller verantwortungsbewussten Lehrenden bestens und sehr einfach geregelt: Alle Substantive und Substantivierungen schreibt man durchweg groß.
Gleiches gilt übrigens für die endlich gefundene simple Regelung bei ß und ss. Man hätte dieses deutsche Sonderzeichen, wie in der Schweiz, ganz abschaffen können. Wollte man es beibehalten, musste zwangsläufig eine klare Festlegung her, die foolproof (also narrensicher) ist:
ß nach langen Vokalen und Doppelvokalen, sonst ss. Dem stimmten in der Expertenkommission die Schweizer Vertreter zu. Bei der ph-Schreibung hat man sich schließlich darauf geeinigt, die drei Silben fon, graf, fot mit f zu schreiben, sofern sie nicht im Wortanlaut stehen. Man kann aber auch weiterhin ph schreiben und warten, bis die f-Schreibung gängige Praxis geworden ist, wie bei Telefon und Fotografie. Ich persönlich ziehe bei Fremdwörtern meist das Abwarten dem Eingreifen vor.
Vielleicht kann das hier Dargelegte ein wenig hilfreich sein. Geben wir den kommenden Generationen, auch den Kindern mit Migrationshintergrund, die Chance, die vereinfachte Rechtschreibung als beherrschbare Kulturtechnik zu meistern und damit ihre Berufsaussichten zu verbessern.
Prof. Dr. Andreas Digeser, Schopfheim
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Kommentar von Blick Online, verfaßt am 29.07.2006 um 09.29 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4661
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Orthografisches Tohuwabohu
28.07.2006 | 20:20:01
FRANKFURT (D) – Ab 1. August gelten – wieder – neue Rechtschreib-Regeln. Nun scheint noch weniger klar, wie nun Zweifelsfälle geschrieben werden.
Am 1. August ist es soweit: Es gibt neue Rechtschreibe-Regeln (Blick Online berichtete). Das hatten wir doch schon mal? Ja, denn nach der ersten Rechtschreibreform und der überarbeiten Regelung müssen wir uns nun schon wieder an neue Schreibweisen gewöhnen. Beziehungsweise an noch mehr zulässige Varianten eines Wortes.
Im Wirrwarr der erlaubten Schreibformen ist nun (fast) alles erlaubt. Keine Änderungen gibt bei der Schreibweise mit Bindestrich.
Hingegen wurden bei folgenden Bereichen Änderungen vorgenommen:
# Getrennt- und Zusammenschreibung: Man schreibt nun «abwärtsfahren» und «eislaufen» statt bisher «abwärts fahren» und «Eis laufen». Aber: «krankmachen» und «kennenlernen» ist genauso möglich wie «krank machen» und «kennen lernen».
# Gross- und Kleinschreibung: Man schreibt jetzt «Blauer Brief» statt «blauer Brief». Die Anreden in Briefen können anstatt «du» und «ihr» wieder «Du» und «Ihr» heissen. Und neu ist die Rede von «bankrottgehen», nicht mehr «Bankrott gehen».
# Zeichensetzung: Werden Nebensätze zum Beispiel mit «und», «oder», «entweder – oder» verbunden sind, kann man kein Komma mehr setzen. Obligatorisch wird das Komma bei Infinitivsätzen, die abhängig sind von einem Substantiv. Also: «Sie öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen».
# Worttrennung am Zeilenende: Einzelvokale am Wortanfang oder – ende sollten nicht getrennt werden. Also heisst es nicht «E-sel», «Feiera-bend» oder «Bi-omüll».
Sie verstehen gar nichts mehr? Macht nichts. Denn auch die rechtschreiberischen Macher scheinen sich die Logik des Ganzen nicht so ganz überlegt zu haben. Freuen wir uns auf die nächste Reform…
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Kommentar von Leseviel, verfaßt am 24.07.2006 um 15.35 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4580
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Werter Herr Metz, Freude am Lesen ist etwas weithin Individuelles. Ich lasse meinem Kollegen seinen Spaß. Ich habe ihn ja auch nicht angewiesen, fortan das Lesen einzustellen, sondern ich wollte mir von ihm nicht den Inhalt zusammenfassen lassen. Er hätte nicht das herausgestellt, was mir wichtig ist. Im übrigen hat er mir den Titel genannt, ich habe mir in der Buchhandlung selbst ein Bild davon gemacht und das Buch dann auch gekauft.
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Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 24.07.2006 um 13.45 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4579
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Leseviel: Ich fragte ihn, ob es in neuer oder alter Rechtschreibung gehalten sei. Er wußte es nicht! Er habe "nicht darauf geachtet"! Unnötig zu erwähnen, daß sich dadurch meine Frage nach einer Inhaltsangabe erübrigt hatte.
Den Zusammenhang verstehe ich nicht. Wird ein Zeitgenosse, in diesem Fall sogar ein Kollege, der einem von einem Buch vorschwärmt, als Gesprächspartner schlagartig uninteressant, wenn er bekennt, daß er auf dessen Rechtschreibung nicht geachtet hat? Oder kann der Inhalt eines Buches, das von „so einem“ gelesen wird, nicht mehr interessant sein? Oder ist es gar so, daß der Kollege angesichts seines orthographischen Desinteresses unmöglich in der Lage sein kann, den Inhalt des Buches richtig zu erfassen bzw. wiederzugeben, und daß sich die Frage nach dem Inhalt deshalb erübrigt?
Ich selbst lese viel zu genau und bin viel zu sehr an den sprachlichen Feinheiten interessiert, als daß es mir entgehen könnte, in welcher Rechtschreibung ein Buch gehalten ist. Aber ich weiß auch, daß andere anders lesen und daß sie mir dank ihrer relativen Unbekümmertheit und Unbefangenheit in der Erfassung des Inhalts schriftlicher Äußerungen teilweise durchaus überlegen sind. Ihr Interesse gilt so sehr dem Inhalt, daß sie manche sprachliche Unebenheit, über die ich womöglich straucheln würde, nicht einmal wahrnehmen. Wenn ich mich darüber beklage, daß – nicht nur, aber auch – durch die Rechtschreibreform manche Differenzierungsmöglichkeiten verlorengegangen seien, so ist mir klar, daß ich damit nicht in ihrem Namen spreche.
Ich habe mich einmal mit einem guten Freund über ein Buch unterhalten, das wir beide gelesen hatten. Als ich mitbekam, wie „oberflächlich“ er offensichtlich die Lektüre absolviert hatte, hielt ich ihm vor, er hätte eigentlich nicht das Recht[,] zu behaupten, das Buch „gelesen“ zu haben. Daraufhin warf er mir Arroganz vor. Im nachhinein finde ich: er hatte recht. Er muß nicht zu jeder orthographischen oder stilistischen Einzelfrage eine Meinung haben, um über das Buch mitreden zu können. Sein Urteil sollte mir auch dann wertvoll sein, wenn er nicht, wie ich, stundenlang über die Rechtschreibreform philosophieren kann. Er hat sich nicht dadurch disqualifiziert, daß er auf bestimmte Dinge nicht so peinlich achtet wie ich.
Gewiß, was einem da in Sachen Rechtschreibung fast täglich von den Verantwortlichen zugemutet wird, ist oft nur schwer zu ertragen, und nicht selten fühlt man sich in seiner Intelligenz beleidigt. Aber etwas mehr Gelassenheit kann vielen von uns sicher nicht schaden. Man kann versuchen, in dieser Hinsicht von anderen zu lernen, ohne daß man auch nur eine einzige Forderung im Streit um die bessere Rechtschreibung aufgeben müßte. Vielleicht sollten Sie, Leseviel, Ihren Kollegen doch noch mal nach dem Inhalt des Buches fragen. Womöglich entgeht Ihnen sonst etwas – ohne daß irgend jemandem damit gedient wäre.
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Kommentar von Leseviel, verfaßt am 24.07.2006 um 11.10 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4575
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Wir sind als Leser, die sich um die Orthographie sorgen, keineswegs in der Mehrheit. Es stimmt auch nicht, daß Vielleser die bewährte Rechtschreibung bevorzugen.
Ich boykottiere Bücher in Neuschrieb. Mir ist jede Mark Geld zu schade, die ich dafür ausgeben müßte. Neulich hielt ein Kollege von mir, der das Lesen zu seinen Hobbies zählt und zahllose Bücher gelesen hat, eine Lobrede auf ein Buch, das er im Augenblick lese, und empfahl es mir dringend. Ich fragte ihn, ob es in neuer oder alter Rechtschreibung gehalten sei. Er wußte es nicht! Er habe "nicht darauf geachtet"! Unnötig zu erwähnen, daß sich dadurch meine Frage nach einer Inhaltsangabe erübrigt hatte.
Auch viele gestandene Akademiker in meinem Bekanntenkreis, deren Handwerkszeug die deutsche Sprache ist, merken vielfach nicht, ob sie neue oder alte Orthographie vor sich haben.
Diese Leute folgen dem Gebot zur neuen Rechtschreibung, weil das ja so beschlossen sei und nunmehr eben amtlich vorgegeben sei. Daß das nicht stimmt, daß man sachlich Kritik am Neuschrieb üben kann, kommt denen nicht in den Sinn. Vollends grotesk wir die Sache allerdings dadurch, daß sie lediglich die neue S-Regel selbst anwenden und sonst alles unverändert lassen, dann aber steif und fest behaupten, sie schrieben nach der neuen Rechtschreibung!
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Kommentar von wdr.de / Kultur, verfaßt am 23.07.2006 um 23.28 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4565
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Von Carln, Augusten und Duden
Zehn Jahre Rechtschreibreform
Schiller und sein Freund Goethe konnten sich 1796 nicht einmal auf die Schreibweise ihrer Kinder einigen. Genau 200 Jahre später einigte eine neue Rechtschreibung die Deutschsprachigen von Sylt bis Wien. Wenn das kein Fortschritt ist!
Damals bei den Dichterfürsten: Schillers Frau erwartet ihr zweites Kind und Goethe bietet dem Mitfürsten am 9. Juli 1796 an, er könne doch "in dem Falle daß sich die Familie vermehrt, für die erste Zeit Carln herüberschicken, so würde er Augusten sehr willkommen sein." Aber Schiller braucht die Goethes nicht zum Kinderhüten, wie er schon zwei Tage später zurück schreibt: "Für Ihr freundschaftliches Anerbieten, den Karl zu sich zu nehmen, danken wir Ihnen herzlich. Er ist uns nicht zur Last." Welch innige Freundschaft, welch große Geister - aber was für eine krause Rechtschreibung! Heißt Schillers Junge nun Carl oder Karl und bildet man den Akkusativ oder Dativ eines Namens mit "n" (Carln) oder mit "en" (Augusten)? Welch Verwirrung mag Karl/Carl damals in der Schule erlebt haben, wo schon Papa und Onkel Dichterfürst ständig anders schrieben? Kein Wunder, dass die deutsche Klassik nicht lange währte. Sie kam zu früh. Konrad Duden wurde erst 1829 geboren.
Wiener Klassik von 1996
Heute geht es uns besser. Wir blicken auf zehn Jahre Rechtschreibreform zurück. Ganz wohl ist mir, historisch gesehen, mit der Feier dieses Stichtags allerdings nicht. Denn wann begann die Zeitrechnung der Reform tatsächlich? Gewiss, nach jahrelanger Arbeit von Experten und Kultusministerkonferenz wurde zunächst in die Fanfare gestoßen: Am 1. Juli 1996 unterzeichneten in Wien Vertreter aller deutschsprachigen Staaten den Reformplan ihrer Rechtschreibung. Es war, als sei das heilige römische Reich deutscher Nation habsburger Krone wieder auferstanden. Auch wenn sich Ostfriesen, Tiroler und Schwyzer weiterhin mündlich kaum verständigen können: Sie wollen gleich schreiben, und zwar neu.
Progressive, Konservative und Mixer
Allerdings nicht sofort, sondern erst ab dem 1. August 1998. Und auch nicht ganz, denn bis zum 1. August 2005 wird zwar neu gelernt, aber alt gilt noch. Die Duden-Software erlaubt es dem User, die Rechtschreibkontrolle auf "konservativ" oder auf "progressiv" einzustellen. Erst wollen alle natürlich progressiv sein. Aber als die FAZ im Juli 2000 bekannt gibt, sie schreibe ab jetzt wieder konservativ (tat sie das nicht schon immer?), jubelten die Dichter ( z.B. Günter Grass - oder Graß?) und Bild und Spiegel machten gleich mit. Die Süddeutsche dagegen entschied sich für einen "Mix". Damit lag sie im Trend, denn ab jetzt wurde es immer gemixter. Die neue Unübersichtlichkeit zeigt sich in so kniffeligen (nicht erfundenen!) Überschriften wie: " NRW will bei neuer Rechtschreibung bleiben" oder "Der Spiegel tritt von der Rückkehr zur alten Rechtschreibung zurück." Progressiv war also jetzt wieder konservativ - oder umgekehrt?
Im Land der Dichter und Denker bricht der Kulturkampf aus. Das schafft kein Hartz IV, keine Rentenreform, nicht mal 10 Euro Praxisgebühr: Es gibt gegen die Rechtschreibreform drei Volksbegehren, eine Volksabstimmung, einen Prozess vor dem Bundesverwaltungsgericht, eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Was die Deutschen wirklich auf die Palme bringt sind nicht Soldaten im Kongo oder die 40-Stunden-Woche, sondern das kleine "d" in "Ich liebe dich". Da sage noch mal einer, das Abendland ginge unter!
Schluss mit Schluß!
Aber am 1. August 2005 (immer in den großen Ferien, damit Schüler und Lehrer es nicht merken!) geht es dann doch unter: Die neue Rechtschreibung wird verbindlich, keine Ausnahmen mehr, Schluss mit Schluß. Außer dass/daß Bayern und NRW bei der Verbindlichkeit nicht mitmachen. Das erlaubt die Flucht ins innerdeutsche Exil aus orthografischen (oder orthographischen) Gewissensgründen. Allerdings nur bis zum 1. August (s.o.!) 2006. Denn dann ereignet sich die wahre deutsche Wiedervereinigung. Ein historischer Kompromiss macht sie möglich: Die Reform ist inzwischen wieder ein wenig zurückreformiert worden, progressiv ist wieder ein wenig konservativer - man ist zwar Eisschnellläufer (progressiv), kann aber eislaufen (konservativ). Das erlaubt es Bayern und NRW, dem Geltungsbereich der Reform beizutreten.
Nun ist es also vollendet, das großdeutsche Reich einheitlicher Schreibweise. Nur dass sie keiner kann außer dem Duden. Deshalb gibt es ein Jahr Übergangsfrist, in der notorische Altrechtschreibler in der Schule nicht mit schlechteren Noten bestraft werden dürfen. Aber am 1. August (s.o.!) 2007 wird dieses Kapitel deutscher Geistesgeschichte endgültig zugeschlagen - voraussichtlich. Dann bleiben wir alle sitzen.
Quelle:
http://www.wdr.de/themen/kultur/
bildung_und_erziehung/rechtschreibung/060701.jhtml?rubrikenstyle=wissen
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 23.07.2006 um 19.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4561
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Zehetmair hat das Wichtigste vergessen: den Aufruf zur Zivilcourage vor den Dudenempfehlungen. Sie können niemanden zwingen und nur Nicht-selbst-Denker beeindrucken. Minister lassen bekanntlich denken.
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Kommentar von Schwäbische Zeitung, verfaßt am 23.07.2006 um 00.40 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4554
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Wenn der Gärtner zum Bock wird,
blökt er.
Das öffentliche Schweigen bzw. – anläßlich seiner unbeholfenen "endgültigen" Kodifizierungsversuche – beflissene Räsonnieren über diesen ganzen Schwachsinn, der inklusive ebendieser Diskussionen das Zeug zu einer Kasperliade von weltliterarischem Rang hätte, ist geradezu unheimlich.
Die Betreiber der havarierten Rechtschreibreform gefallen sich nunmehr in der Rolle der Verhinderer ihrer unvermeidlichen Folgen.
[Siehe dazu auch die Kommentare im Anschluß an diesen Eintrag – Red.]
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Kommentar von jms, verfaßt am 22.07.2006 um 13.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4542
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Der 1. August ist der 1. April der Rechtschreibung, in den wir seit 1996 Jahr für Jahr geschickt werden. Warten wir also ab, ob man sich anläßlich des 10jährigen Jubiläums der Reformreformreform außer Duden und Wahrig noch andere Augustscherze einfallen läßt. Wie wär's mit einem öffentlichen TV-Rechtschreibdiktat aller Ministerpräsidenten, Kultusminister und Chefredakteure bei Günter Jauch?
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Kommentar von R. M., verfaßt am 22.07.2006 um 11.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4540
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Bei der Südseuche gibt es genügend Redakteure, die nicht gedenken, ihrem Chefredakteur in dieser Frage zu folgen. Was auch immer er zum Thema Rechtschreibung äußert, illustriert nur seine Führungsschwäche.
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 22.07.2006 um 09.52 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4539
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Ob sich die Vernunft wirklich durchsetzt, wenn sich die Änderungen immer brav innerhalb des von der amtlichen Regelung gesteckten Rahmens halten, wage ich zu bezweifeln. Es reicht nicht, daß die Richtung stimmt, wenn offensichtlicher Unfug wie „heute Früh“ oder „im Voraus“ verschont bleibt.
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Kommentar von Karl Martell, verfaßt am 22.07.2006 um 09.37 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4538
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SZ v. 21.07.06, Hans Werner Kilz, Chefredakteur:
...Die SZ gedenkt, wo immer möglich, zu bewährten, weil sprachlich sinnvollen Zusammenschreibungen zurückzukehren, wird also dem Duden bei Vorschlägen wie Feuer speiend nicht folgen, sondern feuerspeiend bevorzugen. [Zitatende]
Heute muß man bei der Lektüre zwar noch einmal über einen "nicht wieder gut zu machenden Eingriff" stolpern. Aber letztlich wird sich die Vernunft doch durchsetzen.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.07.2006 um 23.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4531
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Eigentlich gibt es neben der Wahrig- und der Duden- als dritte noch die Schweizer Rechtschreibung, die sich bei bedeutungsgleichen Varianten grundsätzlich nach der bewährten Schreibweise richten will. Es wird Zeit für ein Schweizer Rechtschreibwörterbuch. Dort gibt es dafür hervorragende Fachleute.
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Kommentar von n-tv.de, 21. 7. 2006, verfaßt am 21.07.2006 um 17.27 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=493#4530
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»Reform der Reform
Duden gegen Wahrig
Am 22. Juli kommt der neue Duden in seiner 24. Auflage und im wohlbekannten satten Gelb auf den Markt. Das "Auflaufkind" und auch der weibliche Libero, die "Libera" sind drin, während das öffentliche Fußballgucken "Public Viewing" noch nicht die begehrte Aufnahme in den Olymp der Rechtschreibung geschafft hat.
Doch der Duden, der in seiner 24. Auflage angibt, "das umfassende Standardwerk" zu sein, hat Konkurrenz bekommen. Bereits seit Mitte Juni ist der neue Wahrig, ein gemeinsames Produkt der Verlage Bertelsmann und Cornelsen, auf dem Markt. Mehr und mehr hat sich das Wörterbuch, das der Lexikograph Gerhard Wahrig 1966 zum ersten Mal herausgebracht hat, zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für den Duden entwickelt und ihm schließlich seinen Alleinvertretungsanspruch in Sachen richtiger Rechtschreibung streitig gemacht. Nach dem Wirrwarr um die umstrittene Rechtschreibreform wollen nun beide Wörterbücher wieder für mehr Klarheit beim Schreiben sorgen - und über Stolpersteine bei den Regelungen hinweghelfen, die vom 1. August an in allen Bundesländern verbindlich sind.
Die größten Stolpersteine legen sie sich jedoch selbst in den Weg. Wer gedacht hat, jetzt seien alle Plagen mit der Groß- und Klein-, Getrennt- und Zusammenschreibung, kurz, mit all den Freiheiten, die die neue Rechtschreibreform uns zugesteht, vorbei, der irrt gewaltig. Ein Vergleich zwischen den beiden großen Wörterbüchern zeigt, dass beide in vielen Punkten stark von einander abweichen und auch in sich nicht immer stimmig sind.
Der Duden ist nicht nur außen Gelb, sondern auch beim Durchblättern stößt der Leser auf zahlreiche gelb markierte Wörter. Erstmals gibt die Redaktion - gelb hinterlegte - Empfehlungen bei Wörtern, für die künftig verschiedene Schreibweisen zulässig sind. So wird etwa zu "Delfin" statt "Delphin" geraten, zu "aufwendig" statt "aufwändig" und zu "Joghurt " statt "Jogurt". Ausschlaggebend bei der Wahl der Empfehlungen waren der tatsächliche Sprachgebrauch, ein optimales Textverständnis und das Bedürfnis nach einer möglichst einfachen Handhabung der Rechtschreibung. Der Leiter der Duden Redaktion, Matthias Wermke, ist überzeugt, damit den "Nerv der Schreibgemeinde und gerade auch der Schulen" getroffen zu haben.
Die Neuerung ist jedoch nicht unumstritten: Kritiker bemängeln, dass der Duden damit Entscheidungen des "Rates für deutsche Rechtschreibung" vorwegnimmt. Dieser hat im Dezember 2004 seine Arbeit aufgenommen und fungiert seitdem als Sprachwächter. Selbstbewusst stellt der Duden aber seine eigenen Regeln zur "Rechtschreibung und Zeichensetzung" an den Anfang des Buches, während die "Amtlichen Regeln der deutschen Rechtschreibung" nur einen Platz auf den letzten Seiten zugewiesen bekommen haben. In der Tat, es scheint, als haben viele der ausgesprochenen Empfehlungen einen recht willkürlichen Charakter und so wundert man sich, warum es "Strom sparend", aber "energiesparend", oder "wohlriechend", aber "übel riechend" heißt.
Der Wahrig dagegen, der damit wirbt, "endlich Sicherheit" zu geben, spricht nur vereinzelt Empfehlungen aus. "Wir wollen der Arbeit des Rates nicht vorgreifen", sagt eine Bertelsmann-Sprecherin. Schließlich soll die von den Kultusministern eingesetzte Einrichtung die Schreibentwicklung gerade auch bei den möglichen Varianten beobachten. Die Wahrig-Redaktion unterstreicht vielmehr den Übergangscharakter der jetzigen Regelung und auch die Sprachberatung spricht stets von den "derzeit gültigen Regeln". Alle zwei Jahre soll es daher eine neue Ausgabe geben. Der Duden will alle fünf bis sechs Jahre seinen Wortschatz aktualisieren. Im August wird Wahrig allerdings eine "Hausorthografie von A bis Z" mit Empfehlungen für eine Schreibvariante heraus, um etwa Unternehmen eine einheitliche Rechtschreibung anzubieten. Im Januar folgt dann eine Neuauflage des ähnlich angelegten Bandes "Was Duden empfiehlt". Dass die Zeit der Hausorthographien bereits um 1900 mit der Einführung einer einheitlichen Rechtschreibung vorbei war, wird nicht weiter thematisiert. Künftig wird man also nicht mehr beurteilen, ob der Verfasser des Textes Anhänger der alten oder der neuen Rechtschreibung ist, sondern es wird zwischen einem Wahrig- und Duden-Anhänger unterschieden werden – sofern er nicht gleich beide Büchern auf dem Tisch liegen hat.
Von einer einheitlichen Rechtschreibung kann also keine Rede sein. Schon gar nicht, wenn man sieht, wie unterschiedlich die Empfehlungen der Rechtschreibfibeln sein können. Dies betrifft vor allem die Großschreibung von Eigennamen, aber auch die leidige Getrennt- und Zusammenschreibung besonders bei Zusammensetzungen mit Verben. Während Wahrig einen "Blauen Brief" nach Hause schickt, bekommt man vom Duden nur einen "blauen Brief". Ähnlich verhält es sich mit dem "Runden Tisch" bzw. dem "runden Tisch". Im Wahrig ist man "engbefreundet", im Duden "eng befreundet". Auch der Supersommer hat uns im Wahrig "braungebrannt", im Duden hingegen "braun gebrannt".
In Größe, Gewicht und Schriftbild dagegen sind sich die beiden Rechtschreibfibeln sehr ähnlich. Auch bei der Zahl der Stichwörter geben sich die Bände kaum etwas: Der Duden listet rund 130.000 Einträge auf, der Wahrig 125.000. Beide geben einen Überblick über die Rechtschreibregeln sowie das neue amtliche Regelwerk, beide bieten ihr Wörterbuch auch als CD-ROM an, und beide bilden die Vorgaben des Rates zuverlässig ab, wie dessen Geschäftsführerin Kerstin Güthert lobt.
Der neue Duden ist vierfarbig und damit bunter als der Wahrig, kostet aber mit 20,00 Euro genau 5,05 Euro mehr als der Konkurrent. Während der Duden die Schreibweisen vor der Reform 1996 mit dem aktuellen Stand vergleicht, stellt der Wahrig die Schreibungen von 2004 dem neuen Stand gegenüber. Eine Liste mit den Wörtern und Unwörtern des Jahres findet sich zusätzlich im Duden, der Wahrig wiederum wartet mit einem beispielhaften Lebenslauf und einem Bewerbungsschreiben sowie einem Kapitel zur Geschichte der Rechtschreibung auf.
Bei aller Babylonischer oder babylonischer Sprachverwirrung ist nur eins klar: Der Duden hat seine uneingeschränkte Vorreiterrolle in punkto richtiger Rechtschreibung verloren. Dies sieht man nicht zuletzt daran, dass das Vorwort im Duden mit "Die Dudenredaktion" unterzeichnet ist, während für den Wahrig der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU), das Geleitwort geschrieben hat. Für Schüler und Lehrer sind aber beide Werke kein zuverlässiges Nachschlagewerk. Der Dauerstreit um die Rechtschreibreform wird auch mit dem 1. August nicht zu Ende sein.
Von Esther Siepe mit Material von dpa.«
(n-tv.de, 21. Juli 2006)
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