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18.06.2006
Stefan Stirnemann
Und wo die herkömmliche Variante fehlt?
Referat vor der Schweizer Orthographischen Konferenz
Lesen Sie hier das Referat von Stefan Stirnemann, das er am 1. Juni 2006 in Zürich gehalten hat.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich rede als Angehöriger einer kleinen, aber weltweiten Gemeinschaft zu Ihnen, derjenigen der Wörterbuchmacher. Ich war einst in München Mitarbeiter des Thesaurus linguae Latinae (Schatzhaus der lateinischen Sprache); das ist das umfassendste Wörterbuch einer Sprache – wenn auch der Sprache Roms, einer Sprache, die keine lebendige Entwicklung mehr hat. Aber das Handwerk ist überall dasselbe, ob beim Thesaurus, beim Deutschen Wörterbuch oder beim Schweizer Idiotikon. Zur Familie gehören auch die Leute des Dudens, zur Zeit freilich als mindere Brüder und Schwestern. In München habe ich vor allem eines gelernt: Vorsicht beim Umgang mit Wörtern! Meine Ausführungen stelle ich unter einen Satz Walter Heuers: „Wo der Amtsschimmel als Sprachschöpfer auftritt, kommt es selten gut heraus.“ Walter Heuer war lange für die Sprache der NZZ verantwortlich und ist mit Recht bis heute unvergessen.
Ich führe Ihnen einige Fälle vor, in denen der Rat für Rechtschreibung noch keine herkömmliche Variante anbietet. Dazu nehme ich Fälle, in denen die herkömmliche Variante tatsächlich keine Variante ist, sondern eine eigene Bedeutung bezeichnet. Ich füge ein paar grundsätzliche Überlegungen ein und schließe mit einer Empfehlung.
Am Anfang steht ein Rätsel: Was bedeutet dieses Wort: Begacxel? Das Rätsel ist unlösbar.
Eine deutsche Pfarrerin hat berichtet, daß ein Konfirmand aus dem Ruhrgebiet so seinen Berufswunsch festgehalten habe. Eine ausgesprochen eigensinnige Rechtschreibung: Bäckergeselle. Schreiben lernen heißt, sich vertrauensvoll einem gemeinsamen Sinn und Brauch anzuschließen. Wie entwickelt er sich? Wie entwickelt sich die Sprache? Beides ist schwer zu fassen. Wörter und Schreibweisen kommen auf den freien Markt, haben Erfolg oder verschwinden wieder. Zwei Beispiele: Die Schreibweise disputieren, halbieren ist ziemlich jung. Lange schrieb man ohne ie: disputiren, halbiren. 1804 berichtete der Dichter Jean Paul, daß er nach dem Vorbild Wielands in solchen Verben das ie setze. Ein zeitgenössischer Grammatiker erhob Einspruch: „So ist es gar nicht zu billigen, daß einige Schriftsteller jetzt anfangen, die Endung iren mit einem ie zu schreiben.“ Und doch hat sich diese Schreibweise durchgesetzt: Konrad Duden hat sie 1880 in sein „Orthographisches Wörterbuch“ aufgenommen. Zweites Beispiel, ein Wort: Mozart trug seiner Frau Konstanze auf, einem Bekannten „einen Arsch voll Complimente“ auszurichten. Warum ist Handvoll ein Wort geworden (Mundart: Hampfle, Hämpfeli), Arschvoll bisher nicht? (Mundart: Ärschfeli.) Es ist einfach so. Die Sprache hat es so gewollt, d. h. die Gemeinschaft der Sprechenden hat das Wort gebildet oder nicht gebildet. Echte Sprachwissenschaft nimmt solche Entwicklungen zur Kenntnis, freut sich an ihnen oder verwundert sich über sie. Die Reformer der Rechtschreibung haben in die lebendige Sprache eingegriffen, z. B. indem sie das Wort Handvoll in seine Teile auflösten. Der Rat für Rechtschreibung läßt das Wort nur als Variante gelten. Das ist abzulehnen.
Besonders amtsschimmlige Sprachschöpfungen sind die falschen Herleitungen der Reform, an denen der Rat bis jetzt festhält. Behende soll neu behände sein. Hier hängt natürlich alles an der Begründung. Zwei Reformer, zwei Germanisten, gaben sie einst so:
„Wer behände ist, ist schnell bei der Hand. Das lässt sich auch nicht durch das ausgedachte Beispiel widerlegen: Er ist behende zu Fuß. Dieser Satz ist einfach schlechtes Deutsch, weil er einen Bildbruch enthält.“ Ich zeige an drei Beispielen, daß das falsch ist.
In Simon Schaidenreissers Übersetzung der Odyssee 1537 ruft einer der Freier, als Odysseus sie angreift: „Lieben gesellen, lauff ainer behend auff den gang hinauff und mach ain geschray zu den nachpauren umb hilff.“ Theodor Storm dichtet im 19. Jahrhundert: „Nun gib ein Morgenküßchen! Du hast genug der Ruh. Und setz dein zierlich Füßchen behende in den Schuh.“ – Müßte, wer hier mit den Reformern die Hände ins Spiel bringen will, nicht so dichten: „Und zwäng dein plumpes Füßchen behände in den Schuh“? – In unseren Tagen schreibt Thomas Mann von der „plappernden Behendigkeit der Zunge“ Naphtalis, eines der Brüder Josephs. Das sind natürlich keine Bildbrüche, sondern die Reformer kennen die Wörter nicht, über die sie Behauptungen aufstellen. Im selben Sinne soll gräulich heute nicht nur für die Farbe, sondern auch für das Gefühl stehen (scheußlich, entsetzlich). Auch das scheitert am Sprachgebrauch. Thomas Hürlimann schildert in der Novelle „Fräulein Stark“ den St. Galler Stiftsbibliothekar und seine Gehilfen: „Der Onkel stürmte wenig später aus dem Saal, im Gefolge Vize Storchenbein und sämtliche Hilfsbibliothekare, alle verschwitzt, gräulich verstaubt, außer Atem.“ In reformierter Rechtschreibung wissen wir nicht, was uns der Autor mit gräulich sehen lassen will. Da sich Hürlimann nicht an die neuen Regeln hält, können wir annehmen, daß er die Farbe des Staubs meint. Schreiben wir, um einander Rätsel aufzugeben oder um einen Sinn möglichst deutlich und anschaulich auszudrücken? Die falschen Herleitungen der Reformer und des Rates für Rechtschreibung sind zurückzuweisen. Es handelt sich um alberne Eingriffe, nicht um Entwicklungen.
Am deutlichsten sichtbar ist die natürliche Entwicklung von Sprache und Rechtschreibung in zwei Bereichen: beim Getrennt- und Zusammenschreiben und bei der Groß- und Kleinschreibung. Zum Bereich „Getrennt-Zusammen“: Irgend jemand hat einst Begriff und Wort „wiedersehen“ auf den Markt der Sprache geworfen und hatte Erfolg. Aus einer der neuen Regeln zogen die Wörterbuchmacher 1996 den Schluß, daß das Wort aufzulösen sei: „wieder sehen“. Trennen bedeutet Abschaffen; das ist Wettbewerbsverzerrung. Der FAZ-Redakteur Kurt Reumann sagte damals dem bayerischen Kultusminister Zehetmair: „Ich hoffe, Sie können wieder sehen, wenn wir uns wiedersehen!“ Die Reformer behaupteten, es sei nicht ihre Absicht gewesen, das Wort abzuschaffen, und nannten es einen „konzeptionellen Verzicht“, daß sie das Wort „wiedersehen“ in ihrem amtlichen Wörterverzeichnis nicht verbucht hatten. Nebenbei: Noch in der neuesten Ausgabe des „Schweizer Schulwörterbuchs“ (Wort für Wort) ist nur wieder sehen aufgeführt. Die Redaktion haben einige Schweizer Rechtschreibräte, sie haben in zehn Jahren diesen groben Fehler nicht berichtigt und zeigen so, wie ernst sie die Schule nehmen. Ein weiteres Beispiel. Der Rat für Rechtschreibung wertet ein Wort wie „selbstvertont“ als Variante der Wortverbindung „selbst vertont“. Auch damit werden Sätze unklar. Pirmin Meier schreibt in seinem ergreifenden Buch über Heinrich Federer: „(Der Barpianist) trug an Clubabenden gelegentlich selbst vertonte Gedichte von Hermann Hesse und Heinrich Federer im Freundeskreis vor.“ Hat der Pianist in eigener Person vertonte Gedichte, also Lieder, vorgetragen? Waren es selbstvertonte Gedichte? Der Autor ist unter uns, er wird bestätigen, daß die erste Annahme zutrifft. Ein letztes Beispiel. „Fleischfressend“ ist ein altes, fachsprachliches Adjektiv. Ein unbekannter Sprachschöpfer hat es gebildet und erfolgreich auf dem freien Markt angeboten. Er hat damit den lateinischen Fachausdruck carnivorus (griechisch: sarkophagos) neu übersetzt und die älteren Versuche verdrängt: fleischgeitzig („geizig“ bedeutet eigentlich „gierig“, wie wir im Wort ehrgeizig noch fühlen) und fleischfressig. Der Rat für Rechtschreibung führt fleischfressend als Variante zu Fleisch fressend auf und mißachtet auch hier die freie Entwicklung der Sprache.
Zum Bereich „Groß-Klein“. Der Großbuchstabe gibt Gewicht, Klang, Bedeutung eines Wortes, einer Fügung an. Das stolze Substantiv „Mann“ verlor den großen Buchstaben und einen Konsonanten und wurde zum bescheidenen Pronomen. Heute versuchen Sprachschöpferinnen, auch frau als Pronomen durchzusetzen. Soll hier eine Kommission, ein Sprachrat entscheiden? Lassen wir doch die Sprache, die Gemeinschaft der Sprechenden, ihre Spiele spielen; der Amtsschimmel, ob Pilz oder Gaul, ist nicht weisungsberechtigt. Ein zweites Beispiel der Entwicklung: Der Nominativ Schade hat den Wettbewerb gegen den Nebenbuhler Schaden verloren. – Heute darf man gespannt sein, ob sich Name gegen Namen behaupten wird. – Solange man Schade noch als Nominativ fühlte und in der Formel „Das ist schade“ den Großbuchstaben setzte, konnte man Sätze bilden wie: „Das ist nicht viel Schade“ – so schrieb Gottfried Keller in einem Brief. Wenn eine solche Wendung erstarrt, als bloßes Adverb hingeworfen wird, verliert sie auch ihre Beziehungen zu den übrigen Wörtern des Satzes. „Seinerzeit“, im vollen Gewicht genommen, müßte so geschrieben werden: seiner Zeit, und statt „Sie hat das seinerzeit gesagt“ müßte es heißen: „Sie hat das ihrer Zeit gesagt.“ In dieser Weise verlieren bis heute Wendungen ihr Gewicht und ihre Beziehungen, mit Folgen für die Schreibweise. Thomas Mann schreibt im „Doktor Faustus“: „Und doch ist es für das höhere Individuum auch wieder ein großer Genuß, einmal mit Haut und Haar im Allgemeinen unterzugehen.“ Der Sprachforscher Hermann Paul dagegen: „Diese Isolierung entsteht dadurch, dass Konstruktionsweisen im allgemeinen untergehen, sich aber in einzelnen Resten erhalten.“ Die Schreibweise entspricht dem gemeinten Sinn. Die Reformer anerkennen grundsätzlich die Bedeutung des Großbuchstabens, versuchen aber, eine neue Verteilung durchzuführen. Der Rat für Rechtschreibung hat hier noch nichts geändert und ein großes Durcheinander bestätigt.
Zur Veranschaulichung steht am Ende meiner Ausführungen ein weiteres Rätsel. Wo schreiben die Vereinfacher unserer Rechtschreibung, die Reformer und die Rechtschreibräte, in den folgenden Wendungen groß, wo klein?
Im allgemeinen, vor allem, unter anderem, nicht im geringsten, nicht im mindesten, des weiteren, bei weitem, die beiden, die meisten, die letzteren, gestern nachts, gestern nacht, gestern früh.
Auflösung: im Allgemeinen, vor allem, unter anderem/Anderem, nicht im Geringsten, nicht im Mindesten/mindesten, des Weiteren, bei weitem/Weitem, die beiden, die meisten/Meisten, die Letzteren, gestern nachts, gestern Nacht, gestern früh/Früh.
Ob gestern Früh in der Schweiz noch richtig ist, ist unsicher. In der neuesten Bearbeitung von Walter Heuers Buch „Richtiges Deutsch“ – sie stammt vom Schweizer Reformer und Rechtschreibrat Peter Gallmann – heißt es dazu, diese Schreibweise werde nur in Österreich gebraucht. Wahrscheinlich ist das der Ausweg, den die Reformer in Zukunft gehen: Sie entsorgen ihren Unsinn nach Österreich.
Ich fasse zusammen:
1) Es gibt eine freie Entwicklung der Sprache. Sie ist rätselhaft und unterhaltsam.
2) Im Schreiben folgen wir dieser Entwicklung. (Horst Haider Munske zeigt das in seinem „Lob der Rechtschreibung“. Untertitel: „Warum wir schreiben, wie wir schreiben“. Das Buch liegt Ihrer Konferenzmappe bei, Sie verdanken es dem Sprachkreis Deutsch.)
3) Wir brauchen eine Rechtschreibung, die der Entwicklung der Sprache gegenüber offen ist.
4) Die sogenannte neue Rechtschreibung leistet das auch in ihrer bisher dritten Fassung nicht.
5) Nötig ist jetzt eine bessere Wahl, als sie der Rat für Rechtschreibung getroffen hat: eine freie Wahl, ohne Rücksicht auf angemaßten amtlichen Zwang.
Wer diese Wahl mit uns zusammen trifft, dem schicken wir eine Handvoll freundlicher Grüße. Wer es nicht tut, der bekommt einen Arsch voll Complimente.
Stefan Stirnemann ist Lehrer am Gymnasium Friedberg in Goßau (SG), Mitglied des Sprachkreises Deutsch und der Forschungsgruppe Deutsche Sprache.
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