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18.06.2006
Stefan Stirnemann
Zur Schweizer Orthographischen Konferenz
Bericht eines Teilnehmers
Stefan Stirnemann berichtet über seine Eindrücke von der Schweizer Orthographischen Konferenz.
Betrachtet man mit einem halben oder ganzen Auge die Berichterstattung der Zeitungen und die Gesprächsbeiträge auf dieser Netzseite, so muß man annehmen, daß in Zürich ein Häuflein Eidgenossen, früh aufgestanden, aber spät erwacht, zusammengefunden hat, um im Rahmen des von Herrn Schily Erlaubten Widerstand gegen die neue Rechtschreibung zu leisten. Diesen Widerstand leistet das Häuflein nicht nur spät, sondern auch noch denkbar ungeschickt, indem es nicht bemerkt hat, wie unbrauchbar die alte Rechtschreibung war und wie Recht die Reformer mit ihrem Ansatz hatten und haben.
Worum geht es in Wahrheit? Der kleine, aber schlagkräftige Berner Sprachkreis Deutsch (SKD) hat im Januar einen offenen Brief an den Präsidenten der Schweizer Erziehungsdirektoren, Regierungsrat Stöckling (St. Gallen), gerichtet, in dem er einige maßvolle und vernünftige Forderungen erhob, z. B. nach einem Moratorium (der Brief ist hier zugänglich). Unter den Mitunterzeichnern war Filippo Leutenegger, Leiter der Jean Frey AG (Weltwoche u. a.) und angesehener Nationalrat, also Bundesparlamentarier. Aus dieser Zusammenarbeit entstand die Idee, einen zunächst kleinen Kreis von Betroffenen zu versammeln und das weitere Vorgehen zu besprechen. Auszugehen war dabei von der Lage, die der Rat für Rechtschreibung mit seinen jüngsten Beschlüssen geschaffen hat.
Zu prüfen ist jetzt insbesondere, wie mit den neuerlichen Änderungen umzugehen ist: Welche Variante wird gewählt? Welche Varianten sind gar keine Varianten? Wie bewährt sich das dritte amtliche Regelwerk, wenn man den Maßstab der Sprachrichtigkeit anlegt? Wichtig ist natürlich auch die Frage, welche weiteren Änderungen nötig und zu erwarten sind.
Ein erster Erfolg war, daß sich unerwartet viele Verantwortungsträger zur Teilnahme anmeldeten oder um Zustellung der Unterlagen baten.
Die Tagung, ausgerichtet von der Jean Frey AG und vom Sprachkreis Deutsch (SKD), verlief so: Prof. Dr. Dr. Rudolf Wachter (Universität Basel) eröffnete sie unter dem Titel: „Wo steht die neue Rechtschreibung?“ Er schloß seinen Überblick über die Reform als Prophet: „Denn sub specie aeternitatis wird sie mit Sicherheit nur als ein kurzer Hustenanfall der deutschen Sprache in die Kulturgeschichte eingehen. Die Epigraphiker und Paläographen in 2000 Jahren freilich werden darüber begeistert sein, da sie nämlich Originalschriftstücke nach den Kriterien der Reform genau werden datieren können.“ Dann sprach Prof. Dr. Horst Haider Munske (Universität Erlangen-Nürnberg) über „Die fragwürdige Herrschaft der Politik über unsere Sprache“. Der Sprachkreis Deutsch hatte jedem Teilnehmer Munskes „Lob der Rechtschreibung“ in die schöne Konferenzmappe gelegt. Als dritter redete Peter Müller, Direktor der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Müller war zehn Jahre lang Chefkorrektor des Tages-Anzeigers, ist jetzt verantwortlich für die Rechtschreibung der SDA und Mitglied der Arbeitsgruppe der Nachrichtenagenturen. Durch und durch Sprachpraktiker, erklärte Müller den Grundsatz „Bei Varianten die herkömmliche“. Nach dem Mittagessen habe ich einen Überblick über die Fälle gegeben, in denen die herkömmliche Variante noch fehlt oder gar keine Variante ist, sondern einen eigenen Sinn bezeichnet. Die Referate werden demnächst veröffentlicht.
Dann leitete Filippo Leutenegger ein Podium mit Dr. Urs Breitenstein, Leiter des Schwabe Verlages (Basel) und neugewählter Präsident des Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverbandes, Markus Spillmann (Chefredaktor der NZZ), Dr. Pirmin Meier (Autor und Gymnasiallehrer) und Gottlieb F. Höpli (Chefredaktor des St. Galler Tagblattes). Auch die Zuhörer ergriffen das Wort. Auf die Frage, ob sich die Schweiz, wenn sie sich auf eine gemeinsame Wahl im Sinne des Besprochenen verständige, nicht von Deutschland löse, antwortete der Vertreter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, daß das Gegenteil der Fall wäre. Einer der anwesenden Chefredaktoren regte an, das, was nun erarbeitet werde, als Angebot auch nach Deutschland zu vermitteln. Pirmin Meier wies auf die Lage der Schüler hin, die mit der neuen Rechtschreibung aufgewachsen sind, und zeigte an Matura-Aufsätzen, welche ganz neue Art von Deutschfehlern nun auch von sehr guten Schülern gemacht würden. Besonders bemerkenswert waren die Gesprächsbeiträge der beiden Schweizer Rechtschreibräte Dové und Hauck. In verschiedenen Stellungnahmen wurden die großen Schwierigkeiten der literarischen Verlage vorgetragen, die einerseits der Sprache verpflichtet sind, anderseits geschäftliche Verantwortung wahrnehmen müssen. Es wurde mitgeteilt, daß der neue Duden keine Schreibweise bevorzugen werde, dies auf Wunsch der Politik, welche einmal mehr Rücksicht auf die Schulen nehme. Unterdessen ist bekanntgeworden, daß der Duden im Gegenteil 3000 Vorzugsvarianten gelb unterlegen wird. Der Rat für Rechtschreibung, in dem es einige Spannungen gibt, hat offenbar einen Plan für seine Weiterarbeit. Filippo Leutenegger ist ein begabter und erfahrener Gesprächsleiter; ihn bei der Arbeit zu sehen und zu hören ist ein rhetorisches Vergnügen. Als Politiker stellte er die treffliche Frage, welchen Auftrag genau die Bundeskanzlei im Zusammenhang mit unserer Rechtschreibung habe. Als die Vertreterin einer Zeitung die an sich berechtigte und gute Forderung erhob, man solle mit der heranwachsenden Generation solidarisch sein, fragte er zurück, welche Richtung diese Solidarität haben solle, indem niemand etwas davon habe, wenn alles solidarisch durcheinanderlaufe.
Dem von SDA-Müller vorgetragenen Grundsatz und dem Vorschlag, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, wurde zugestimmt.
Es sei betont, daß es hier um freie Empfehlungen geht, die niemand annehmen muß. Die Schweizer Orthographische Konferenz will Freiheit und Vernunft gegen den amtlichen Zwang setzen. Der Sprachkreis Deutsch und die Jean Frey AG geben den Rahmen, in welchem versucht wird, in diesem Zeichen eine Verständigung zu finden. Das Ergebnis ist offen. Insbesondere haben die Veranstalter und die Referenten (leider) keinen anderen Einfluß als allenfalls die Macht ihrer Begründungen. Entscheiden werden die verantwortlichen Berufsleute. Drücken wir ihnen den Daumen.
Wertvoll an dieser ersten Tagung war natürlich die Lagebeurteilung, welche von den Referenten geboten wurde. Es hat sich gezeigt, daß Aufklärung nach wie vor zuoberst auf der Liste der Wünschbarkeiten steht. Ebenso wichtig waren aber die Gespräche, die geführt wurden, zum Teil weit über das Ende der Konferenz hinaus, und die Beziehungen, die man knüpfte. Das Bewußtsein, daß man sich gemeinsam, ohne amtliche Leitung, mit dieser Reform auseinandersetzen muß, hat bisher gefehlt. Schön war auch, wie offen und wohlwollend alle miteinander reden konnten. Es ist zu wünschen, daß das so weitergeht.
Um zu zeigen, daß es um die deutsche Sprache geht, verteilte der Sprachkreis Deutsch zum Schluß das gehaltvolle Heft, welches das Forum Helveticum kürzlich herausgab: „Dialekt in der (Deutsch)Schweiz – Zwischen lokaler Identität und nationaler Kohäsion“.
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