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11.04.2006
Stefan Stirnemann
Die Zweidrittelorthographie
Der Rat für deutsche Rechtschreibung sollte laut Statut die neue Rechtschreibung weiterentwickeln, in Wahrheit aber flicken.
Im Rat bilden die Urheber und Verteidiger der Reform zusammen mit den Wörter- und Schulbuchverlagen eine erdrückende Übermacht, und mit Zweidrittelmehrheit wird über Grammatik und Wortbildung abgestimmt. Zehetmair gab sich anfangs selbst- und sprachbewusst und betonte die Unabhängigkeit des Rates; am Ende aber hisste er die weisse Fahne und führte mit Zustimmung der Zweidrittelmehrheit die Befehle der deutschen Kultusminister aus. So wurden die angeblich unstrittigen Teile dieser Reform im wesentlichen nicht behandelt, und was behandelt wurde, musste in höllischer Hast, rechtzeitig zum neuen Schuljahr, erledigt werden.
Im Februar hat der Rat also seine Arbeit fürs erste abgeschlossen und ein weiteres Regelwerk, das dritte seit 1996, vorgelegt. Die Kultusminister haben den Vorschlägen am 2. März, ohne sie zu überprüfen, zugestimmt. Am 30. März werden die Ministerpräsidenten zustimmen. Der Präsident unserer Erziehungsdirektoren, der St. Galler Regierungsrat Hans Ulrich Stöckling, sagte am 1. März im St. Galler Tagblatt, dass die Schweiz die Neuerungen vorderhand nicht übernehmen werde, da über sie kein vernünftiges Vernehmlassungsverfahren durchgeführt worden sei.
Er berief sich dabei auf den Dachverband der Lehrkräfte (LCH) der die Empfehlungen des Rates vollumfänglich ablehnt. Am 4. März stellte sich Regierungsrat Stöckling in der Neuen Zürcher Zeitung plötzlich gegen den Lehrerverband und nannte die Neuerungen akzeptabel. Am 9. März kündigten die Erziehungsdirektoren in einer Pressemitteilung an, dass sie den Empfehlungen des Rates so weit als möglich folgen wollten; am 15. März eröffneten sie ein Vernehmlassungsverfahren bis Ende April. Entscheiden werden sie im Juni.
Der ”Konsens“ und ”Kompromiss“, den eine Zweidrittelmehrheit von knapp vierzig ziemlich zufällig zusammengekommenen Geschäfts- und Fachleuten und Verbandsvertretern gefunden hat, soll nun für eine ganze Sprachgemeinschaft verpflichtend werden.
Das neueste Regelwerk
Das dritte reformierte amtliche Regelwerk ist seit einigen Wochen im Netz zugänglich. Wie seine beiden, nun ausser Kraft gesetzten Vorgänger besteht es aus einem Regelteil und einem Wörterverzeichnis. Zum drittenmal seit 1996 wird uns amtlich mitgeteilt, wie man aber, Bach, Fisch, Leim, Zylinder und Tausende weiterer Wörter schreibt, an denen sich weder 1996 noch seither das geringste geändert hat. Wer wissen möchte, was denn nun geändert worden ist, kann sich an die ”Zusammenfassung der wichtigsten Vorschläge des Rats für deutsche Rechtschreibung“ halten und an den ”Bericht über die Arbeit des Rats für deutsche Rechtschreibung von Dezember 2004 bis Februar 2006“. Da dort aber keine vollständigen Listen geboten werden, muss er am Ende dennoch die 170 Seiten des Wörterverzeichnisses durcharbeiten und, da auch das Verzeichnis nur einen Ausschnitt des Wortschatzes bringt, auf die nächste Abfolge grosser Wörterbücher warten, die auf Frühling und Sommer angekündigt ist. Das Wörterverzeichnis haben die im Rat vertretenen Wörterbuchredaktionen verfasst, ohne es dem Rat zur Billigung vorzulegen. Zwei Erkenntnisse sind schon jetzt fest: Erstens sind die Wörterbücher, welche die Erziehungsdirektoren im letzten Sommer verbindlich gemacht haben, überholt, – das jüngste hat damit kaum sieben Monate Geltung gehabt –, und mit ihnen alle Lehrmittel. Zweitens wird auch dieses dritte Regelwerk nur vorübergehende Geltung haben. Hans Zehetmair räumte ein, dass eine Zweidrittelmehrheit manchen Kompromiss bedeute, ”der vielleicht für die Sprache nicht das Beste ist.“ Der Rat für Rechtschreibung wird seine Arbeit im September weiterführen.
„Wir hoffen, dass dir das Umlernen Spass macht.“
Regierungsrat Stöckling ging am 1. März kurz auf den offenen Brief ein, in welchem der Sprachkreis Deutsch ein Moratorium und eine vollständige Überarbeitung des Regelwerks verlangt hatte: ”Was den offenen Brief betrifft, so enthält dieser Forderungen, die auf keinen Fall übernommen werden können. Regeln rückgängig zu machen, die seit über zehn Jahren in den Schulen angewendet werden, würde das von diesen Leuten herbeigeredete Chaos erst verursachen.“
In Wahrheit sind seit 1996 schon etliche Regeln rückgängig gemacht worden, und jetzt erst recht sind auch die neuesten Wörterbücher und Lehrmittel voll von Einträgen und Vorschriften, die nicht mehr gelten. Vier Beispiele: Das Buch ”Sprachwelt Deutsch“ (2003) belehrt die Kinder, dass einige feste Verbindungen klein zu schreiben seien, zum Beispiel binnen kurzem, von nahem, seit längerem. Seit Juni 2004, als die Änderungsvorschläge der alten Zwischenstaatlichen Kommission angenommen wurden, darf hier auch der grosse Buchstaben gesetzt werden: von Nahem. Im ”Arbeitsheft zur Rechtschreibreform“ (2003) lernen die Schüler die Regel, dass ”Verben, die auf Adjektive mit ig, lich und isch folgen“, getrennt geschrieben werden müssen:
müssig gehen. Der Rat für Rechtschreibung hat diese Regel abgeschafft: müssiggehen. Das Heftlein Rechtschreibregeln Deutsch (2004) lässt die Regel einüben: ”Nomen, die in festen Verbindungen stehen, schreibt man gross: Mass halten, Kopf stehen, Leid tun.“ War das schon im Jahr des Erscheinens unvollständig, so gilt heute: Mass halten/masshalten, kopfstehen, leidtun.“ Im Büchlein ”Training Deutsch, Rechtschreibung“ (2004) steht der schöne Satz: ”Du hast es vielleicht schon gemerkt: Es ist nicht immer leicht, zwischen zusammengeschriebenen Wortzusammensetzungen und getrennt geschriebenen Wortgruppen zu unterscheiden.“ Halt in dieser Unsicherheit bietet die Anweisung: ”Treffen zwei Verben aufeinander, werden sie getrennt geschrieben. Beispiele: kennen lernen, sitzen bleiben.“ Jetzt ist bei diesen und ähnlichen Verbindungen auch das Zusammenschreiben wieder richtig, allerdings nur ”bei übertragener Bedeutung“. Was die nicht übertragene Bedeutung von kennenlernen sein soll, ist zwar nicht leicht zu sagen. Jedenfalls müssen die Schüler jetzt umlernen, da vieles rückgängig gemacht wurde. Der Sprachkreis meint, dass das erst dann verlangt werden darf, wenn eine tragfähige Grundlage gefunden ist.
Gutachter, Krawallmacher, Geschäftsleute
Bereits vor zwei Jahren rief der Sprachkreis zu einem Moratorium auf. Damals schrieb Roman Looser, ein Schüler des Schweizer Reformers Horst Sitta, für den Verein der Schweizerischen Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen (VSDL) eine Stellungnahme, in der er festhielt, es sei gelungen, ”die Regeln deutlich zu systematisieren, sei das bei der Klein-/Grossschreibung, bei der Zeichensetzung, bei der Worttrennung am Zeilenende, der Bindestrichschreibung oder sogar bei der Getrennt- und Zusammenschreibung“. Im Jahr darauf wurde Roman Looser als Vertreter des VSDL in den Rat für Rechtschreibung entsandt, obwohl nur noch ein Sitz frei und noch kein Schweizer Reformkritiker berufen worden war. Nun schrieb er mit der in diesem Falle angebrachten Trockenheit, dass der Rat die ”strittigen“ Bereiche überarbeite, also genau die Bereiche, in denen die Reformer die Regeln doch ”deutlich systematisiert“ hatten. Als die Überarbeitung vorlag und auch in der Schweiz ein, wenn auch knapp befristetes, Anhörungsverfahren durchgeführt wurde, bat der Generalsekretär der EDK, Hans Ambühl, Roman Looser um eine Stellungnahme. Sie steht nun gleichberechtigt und natürlich zustimmend neben den ablehnenden Stellungnahmen der Schweizerischen Depeschenagentur, des LCH und des Sprachkreises. Looser hält Variantenschreibungen wie ”brustschwimmen“/ ”Brust schwimmen“ für annehmbar, ”da man sich dann als Lerner an eine Grundregel halten kann und in jedem Fall richtig liegt.“ Nun handelt es sich hier nicht um eine Grundregel, sondern um eine Ausnahme; der entsprechende Abschnitt ist eingeleitet mit: ”In manchen Fällen stehen Zusammensetzungen und Wortgruppe nebeneinander“, und eine Grundregel müsste lauten: Schlag im Wörterbuch nach! Looser ist nicht der einzige Rechtschreibrat, der nicht versteht, was er selber beschliessen half. Werner Hauck, pensionierter Beamter der Bundeskanzlei, wies in der Neuen Zürcher Zeitung den LCH zurecht und pries, auch er Gutachter in eigener Sache, als einen Gewinn des gefundenen Konsenses, dass nun Wortbedeutungen wieder sichtbar gemacht würden, zum Beispiel sitzenbleiben wegen schlechter Noten, aber sitzen bleiben auf einem Stuhl. Wie gezeigt, ist bei übertragener Bedeutung das Zusammenschreiben nur möglich und insofern die Wortbedeutung allenfalls geisterhaft zur Hälfte sichtbar.
Neben diesen Zeichen wissenschaftlicher Unsicherheit blitzen Äusserungen auf, welche zeigen, wie man im Rat für Rechtschreibung über die Öffentlichkeit, die schreibende Mehrheit denkt. Jürgen Hein, Vertreter der Nachrichtenagenturen, bezeichnete während einer Sitzung Zeitungen und Verlage, die sich den neuen Regeln verweigern, als Krawallmacher. Nun ist Hein zurückgetreten. Müsste nicht auch der Reformer und Rechtschreibrat Peter Gallmann gehen, der in einer Fernsehsendung sagte, es seien nur ”ältere, eitle Herren“ gegen diese Reform? Und Hans Zehetmair, der ein abschliessendes Anhörungsverfahren absagte, zu dem er bereits eingeladen hatte? ”Zwei Punkt haben uns zu diesem Schritt bewogen: zum einen die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und zum anderen das klare Votum des Rats in diesem Bereich, der sich bei einer Gegenstimme für die Empfehlung ausgesprochen hat.“ Vorgang und Begründung zeigen, was der altgediente Politiker von den Bürgerinnen und Bürgern hält. Sie sind nicht nötig, man hört sie nicht an, man verhandelt lieber im kleinen Kreis.
In solchem Kreis werden um so wirksamer Geschäftsvorteile gesucht und vertreten. Der Werbebrief, den die Schweizer Reformer und Dudenautoren Horst Sitta und Peter Gallmann vor zehn Jahren an Christian Schmid, den Kulturbeauftragten der EDK, schickten, ist schon oft besprochen worden. Claudia Schmellentin, eine weitere Schülerin Horst Sittas und seine Nachfolgerin im Rat, nutzt mit ihrem Ratskollegen Thomas Lindauer zusammen den redlich erworbenen Wissensvorsprung; die beiden geben demnächst ”Rechtschreibregeln für die Volksschullehrer und -lehrerinnen“ heraus. Und wer wird nun unsere Lehrmittel überarbeiten, das „Handbuch Rechtschreiben“, den „Leitfaden“ der Bundeskanzlei, das Buch „Richtiges Deutsch“? Müssen die Verfasser und Herausgeber in den sauersüssen Apfel beissen, Reformer und Rechtschreibräte, die uns vor kurzem oder Kurzem noch das Gegenteil beibrachten? Unvergesslich ist der dankbare Satz, den der Vorsitzende der deutschen Schulbuchverleger einst dem Verbandsvertreter im Beirat der Zwischenstaatlichen Kommission widmete: ”Herr Banse vertritt dort unsere Interessen und wacht darüber, dass uns allen nichts Unangenehmes passiert.“ Heute ist Herr Banse als Rat für Rechtschreibung wachsam. Ein Gut, das niemandem gehört, unsere Sprache, liegt zur Zeit in tüchtigen, groben Händen.
Wie weiter?
Laut Regierungsrat Stöckling ”ist die EDK nach wie vor der Meinung, dass in einem freien Land jeder schreiben kann, wie er will. Wir brauchen einzig für die Schule ein Regelwerk. Wenn wir darauf verzichten und auf irgendwelche diffuse ’alte Rechtschreibregeln’ zurückkommen, dann wird der Sprachunterricht für die Lehrkräfte zum unmöglichen Unterfangen.“ Das ist keine gute Lagebeurteilung. Auch in der Schweiz schreibt der noch so Freie nicht, wie er will, sondern so, wie es allgemein üblich ist. Die Schule muss sich an dieses allgemein Übliche halten. Sie braucht dazu kein vollständiges Regelwerk, sondern ein paar sinnvolle Anweisungen für die Kernbereiche und für Zweifelsfälle ein zuverlässiges Wörterbuch. Beides haben die Reformer bisher nicht zur Verfügung stellen können. Nicht mit angeblich diffusen, angeblich alten Rechtschreibregeln ist der Sprachunterricht ein unmögliches Unterfangen; ein unmögliches Unterfangen ist er vielmehr für alle die Lehrkräfte geworden, welche die flüchtigen, veränderlichen, nicht ernst gemeinten Vorschriften der letzten zehn Jahre ernst genommen haben.
Die Sprachgemeinschaft ist auf eine einheitliche und sprachrichtige Rechtschreibung angewiesen, eine Zweidrittellösung ist nicht gut genug. Ein Regelwerk, das alte deutsche Wörter wie Handvoll, Zeitlang, wieviel, fleischfressend, jedesmal, wohlbekannt, selbstgemacht als blosse Schreibmöglichkeiten oder gar nicht aufführt, dafür neue Schreibweisen vorschlägt wie die Muskeln spielenlassen (bei übertragener Bedeutung), das zu Leide erlaubt, aber zu Liebe verbietet, das Kardätsche (’Pferdebürste‘) von Kartätsche (’Artilleriegeschoss‘) unterscheidet, aber nicht greulich von gräulich, und das in tausend unvorhersehbaren Fällen Varianten möglich macht (ich habe recht/Recht) – ein solches Regelwerk bringt keine einheitliche und sprachrichtige Rechtschreibung zurück, wie wir sie bis 1996 im wesentlichen hatten. Die Forderung des Sprachkreises wird immer dringender: Es ist ein Moratorium zu verfügen, und es ist endlich das ganze Regelwerk ohne Zeitdruck und ohne Vorgaben zu überprüfen. Der Rat für Rechtschreibung ist dieser Aufgabe in der jetzigen Zusammensetzung nicht gewachsen.
(Mitteilungen des SKD 1+2/2006)
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