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05.04.2006
 

„Ein bisschen Frieden“
Und kein bißchen Ahnung

Ulrike Kaiser, Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung und Chefredakteurin des DJV-Verbandsorgans „journalist“, teilt den Lesern der Aprilausgabe in der Titelstory mit, was es mit der Orthographie und ihrer Reform auf sich hat.

Außerdem gibt sie einen kurzen Überblick über deren Werdegang. Leserbriefe erreichen die Redaktion unter folgender Anschrift: journalist, Bennauerstraße 60, 53115 Bonn.


Rechtschreibreform

Ein bisschen Frieden

Die Reform der Reform ist beschlossene Sache: Ab August werden auf Vorschlag des Rats für deutsche Rechtschreibung einige Bestimmungen des amtlichen Regelwerks modifiziert. Die Kommata sollen zwecks besserer Satzgliederung weitgehend so gesetzt werden wie früher; die Getrennt- und Zusammenschreibung unterscheidet wieder zwischen übertragener und wortwörtlicher Bedeutung; die Groß- und Kleinschreibung lässt die Heraushebung feststehender Fachbegriffe zu und folgt in einzelnen Optionen eher dem Sprachempfinden als mathematisch-linguistischen Regeln. Ziel des ganzen Unterfangens: den Rechtschreibfrieden wieder herstellen. Doch die alten Kämpfer geben so schnell keine Ruhe.

Von Ulrike Kaiser

Die Verwirrung ist groß. Auf allen Seiten. Als der WDR mit Kamerateam anrückt, um ein Mitglied des Rates für Deutsche Rechtschreibung 20 Minuten lang zu interviewen (und daraus, man ahnt es, später einen Fünf-Sekunden-Ausschnitt sendet), konfrontiert der Interviewer sein geplagtes Gegenüber mit der vorwurfsvollen Frage, warum man denn jetzt wieder „radfahren“ statt „Rad fahren“ schreiben solle. Uuups. Peinliche Pause. Keine Unterlagen zur Hand – im Gehirn rotiert es: Was hatten wir im Rat beschlossen? Rad fahren bleibt doch Rad fahren – oder etwa nicht? Ist logisch, bleibt logisch. Aber wenn der Interviewer anderes behauptet? Hat sich schließlich vorbereitet. Also: lieber ein längeres Statement unter Umgehung einer eindeutigen Antwort ...

Richtig ist: Rad fahren bleibt Rad fahren. Der Interviewer, im Nachhinein darauf aufmerksam gemacht, spricht von Verwechslung: Er habe eigentlich eislaufen gemeint, zu Reformzeiten Eis laufen, jetzt wieder eislaufen. Und wo denn da der Unterschied zum Rad fahren liege. Ja, wo? Zumal es nach wie vor Eis essen heißt und nicht eisessen.

Des Rätsels Lösung ist den Ratsempfehlungen zu Paragraf 34 (3) des Regelwerks zu entnehmen (vgl. Dokumentation unter www.journalist.de): Beim „Eis-laufen“ hat der erste Bestandteil der Zusammensetzung „die Eigenschaften selbständiger Substantive weitgehend verloren“. Und deshalb gelangte „eislaufen“ (trotz heftiger Gegenwehr des Korrekturprogramms) zusammen mit zehn anderen Wörtern wie „teilhaben“ und „stattfinden“ in eine geschlossene Liste mit Ausnahmen von der Regel. Dass es mit der Selbständigkeit (oder meinte der Rat die reformierte „Selbstständigkeit“?) des Substantivs beim Eis-essen etwas völlig Anderes ist, spürt man zwar förmlich auf der Zunge. Aber wie soll man das vor laufender Kamera in fünf Sekunden erklären?

Deutsche Sprache, schwere Sprache. Weniger im Hörfunk oder im Fernsehen, wo das Publikum die kleinen, feinen Unterschiede im gesprochenen Wort nicht wahrnimmt. Aber in der Presse. Und in der Schule. Und in Amtsstuben. Dort überall gilt es wieder umzulernen. Freiwillig auch im Geschäfts- und Privatleben, sofern man mit der Rechtschreibung nicht sichtbar auf Kriegsfuß stehen will.

Umlernen fällt generell nicht leicht. Besonders schwierig wird es, wenn der Sinn der Mühe verborgen bleibt. Der Sinn einer politisch verordneten Rechtschreibreform hat sich vielen nicht erschlossen. Von Anfang an nicht (vgl. Kasten Seite 16). Auch wenn so manche der späteren Kritik-Vorreiter diesen Anfang verschlafen haben.

Ureigenes Thema. So ganz hellwach zeigten sich auch die Medien nicht. Die Rechtschreibreform war bei Journalistinnen und Journalisten nicht als ihr ureigenes Thema angekommen; in der öffentlichen Diskussion ging es mehr um Schule – oder um unterschiedliche Schulen von Linguisten und Germanisten. Selbst als 1996 in der Fachöffentlichkeit die neuen Regeln und Wörterlisten publiziert wurden (Dokumentation journalist 3/96), hielt sich die Resonanz in Grenzen. Erste Magazin-Titel deuteten zwar bereits auf die Polemik späterer Jahre hin („Schwachsinn Rechtschreibreform“ titelte der „Spiegel“ im Oktober 1996 und ließ nur Reformgegner zu Wort kommen); aber dass auch das eigene Handwerkszeug betroffen war, blieb damals noch im Hintergrund.

Es bedurfte schon organisierter Debattenforen (journalist 12/96), um der schreibenden Zunft ein Meinungsbild zum Für und Wider zu entlocken. Dies fiel dann ebenso polarisiert aus wie die breite öffentliche Auseinandersetzung. Entschiedene Gegner der Reform, die selbst die später rasch akzeptierte ss-/ß-Regel für Teufelswerk hielten und eigentlich alles beim Alten lassen wollten, trafen auf entschiedene Befürworter, denen die neuen Regeln zum Teil noch nicht weit genug gingen: Warum, bitteschön, plagte man Schüler und ungeübte Schreiber mit komplexen Regeln zur Groß- und Kleinschreibung, während der romanische und angloamerikanische Sprachraum vormacht, wie einfach es sein kann, auf Großbuchstaben weitgehend zu verzichten?

Rückwärtsgang. An solch weit reichende Reformen denkt heute keiner mehr; der Rückwärtsgang ist eingelegt angesichts der nach oben offenen Erregungsskala just auf diesem Reformgebiet. Und es muss wieder umgelernt und umprogrammiert werden. Was – siehe oben – generell nicht leicht fällt. Nur dass es diesmal auf vielseitigen Wunsch geschieht, nicht (wie im letzten Jahrzehnt) auf Basis einsamer Entscheidungen. Das Sprachempfinden sollte mehr berücksichtigt werden, die Vielfalt der Sprache auch durch die Orthografie wieder zum Ausdruck kommen, der Rechtschreibfrieden nach den erbitterten und teils bizarren Auseinandersetzungen wieder hergestellt werden.

Das ward dem Rat für deutsche Rechtschreibung aufgegeben, der sich im Dezember 2004 konstituierte. Und der Rat tagte. Achtmal im Plenum, mehrere Male in kleinen Arbeitsgruppen zu den Komplexen „Getrennt- und Zusammenschreibung“, „Interpunktion und Worttrennung am Zeilenende“ – und zur „Groß- und Kleinschreibung“, ein Komplex, der zwar nicht dem vordringlichen Auftrag der Kultusministerkonferenz entsprach, aber von den Ratsmitgliedern als überarbeitungsbedürftig angesehen wurde.

Die Ratsmitglieder – das sind 39 Frauen und Männer unter der versierten Moderation von Bayerns Ex-Kultusminister Hans Zehetmair. Sie kommen aus Deutschland (9), Österreich und der Schweiz (je neun) sowie aus dem Fürstentum Liechtenstein und der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol (je eine/r). Germanisten, Sprachwissenschaftler, Didaktiker, Lehrer, Journalisten, Schriftsteller, Verleger. Für oder gegen die Reform eingestellt, mehr oder weniger festgelegt.

Mehr festgelegt – das trifft auf so ausgewiesene Reformgegner wie Theodor Ickler zu, der das deutsche PEN-Zentrum im Rat vertritt. Oder, auf Seiten der Befürworter, auf Vertreter/-innen der Schweiz und Österreichs, die teils verständnislos auf die hitzige Debatte in Deutschland blickten und sich folglich zunächst eher widerstrebend zu einer erneuten Reformrunde im Rat für Rechtschreibung einfanden; die Reformprobleme in ihren eigenen Ländern hielten sich in engen Grenzen.

Wenig apodiktisch zeigten sich die allermeisten Ratsmitglieder, so auch die deutsche „Medienbank“ aus Journalistenorganisationen, Verlegerverbänden und der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Nachrichtenagenturen. Für sie stand neben der Eindeutigkeit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Regelwerks ganz pragmatisch die Verständlichkeit und Vielfalt der (Schrift-)Sprache im Vordergrund.

Ein Ziel der „professionellen Schriftanwender“ war allerdings nicht umzusetzen: die einheitliche Rechtschreibung in Medien und anderen gesellschaftlichen Bereichen. Denn der Konsens ließ sich oft nur auf dem Kompromisswege erreichen – und der führte nicht selten zu einem entschiedenen Sowohl-als-auch.

In diesen Zweifelsfällen müssen also wieder die Nachrichtenagenturen zum Zuge kommen und die „Medien-Schreibweise“ zusammen mit ihren Kunden festlegen. Am 6. März hat sich die Arbeitsgemeinschaft der Agenturen getroffen, um das weitere Vorgehen zu beraten. Demnach soll im April, nach dem Beschluss der Ministerpräsidenten, eine Befragung der Medien eingeleitet werden.

Die Branche wartet. Die Branche, das wurde bereits durch viele Reaktionen nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 2. März deutlich, wartet auf eine Wörterliste, die ihr – wie die entsprechende Handreichung der Nachrichtenagenturen zum Umstellungstermin August 1999 – auf einen Blick verdeutlicht, für welche der alternativen Schreibweisen sich die Agenturen (und mit ihnen die Medien) entschieden haben.

Die Agenturen, so ist zu vermuten, werden den neuen Regeln folgen und in vielen Zweifelsfällen die optionale alte Rechtschreibung anwenden. Das trifft sowohl auf die Groß- und Kleinschreibung als auch auf die Getrennt- und Zusammenschreibung zu. Hier waren die Medien ohnehin schon vom Reformwerk abgewichen und hatten in der Agenturliste beispielsweise Fachbegriffe wie „Gelbe Karte“ oder „Schwarzes Brett“ reformwidrig großgeschrieben. Das steht nun wieder ganz in Einklang mit der „offiziellen“ Schreibweise – wie das große „Du“ in Briefen an die Leser ...

Anderes, wie die liberalisierte Interpunktion, hatten die Agenturen gar nicht erst mitgemacht. Im Nachhinein setzten sie sich jetzt mit der Auffassung durch, dass Kommata durchaus zum besseren Satzverständnis beitragen können. Und was die Silbentrennung am Zeilenende betrifft – das war für die Presse weniger maßgeblich: Sinnentstellende Trennungen (wie der in den Medien jetzt immer wieder angeführte Ur-instinkt statt Urin-stinkt) waren auch bei den Reformern schon untersagt. Sie ließen nur die Abtrennung von einzelnen Buchstaben zu (A-bend), was in den Zeitungen aber zumeist an den automatischen Korrekturprogrammen scheiterte. Die allerdings haben unabhängig von Reformen eine ständige Überarbeitung nötig (auf dass beispielsweise die taz nicht – wie jüngst – aus dem Rechtschreibrat einen Schrei-brat machen kann).

Andere Bereiche der Reform, wie die ss/ß-Regel oder die Laut-Buchstaben-Zuordnung, hat der Rat gar nicht behandelt. Wenn also die „Westdeutsche Zeitung“ über dessen Empfehlungen jubelt: „Sogar ,aufwendig' darf man schreiben“, dann lässt sie durchblicken, dass sie jahrelang mit „aufwändig“ falsch gelegen hat. Sie folgte damit zwar dem Schul-Deutsch, nicht aber dem Medien-Deutsch, dem die Nachrichtenagenturen das optionale „Aufwendig“ verordnet hatten. Die Verwirrung ist eben groß. Und das bleibt sie auch noch eine Weile.

Kritik inbegriffen. Dem Rat war von Anfang an klar, dass er mit seinen Empfehlungen der Kritik ausgesetzt sein würde. Was auch sonst. Die Reformgegner würden alles anprangern, was von der Reform übrig geblieben ist. Die Reformer würden akribisch darauf achten, zu welchen neuen Verwerfungen der Eingriff in ihr Werk geführt hat. Weitere Ausnahmen von einer Regel beispielsweise müssen zweifellos Kritiker auf den Plan rufen, die Rechtschreibung am liebsten von wenigen, allgemein gültigen Formeln ableiten würden.

Mit entsprechenden Versuchen waren die Reformer aber schon in ersten Ansätzen gescheitert, so dass die später beschlossene Rechtschreibreform durchsetzt war von Regelverstößen und Zweifelsfällen. Mit der Reform der Reform sind zweifellos weitere hinzugekommen. Denn die Akzeptanz von Orthografie und Schriftbild folgt anderen Kriterien als der breite arithmetische Konsens darüber, dass eins und eins zwei ergibt. Bei der Sprache, auch bei ihrer schriftlichen Umsetzung, spielen Gewohnheiten mit, die sich zum Sprachempfinden manifestiert haben; manche sprechen im Zusammenhang mit Orthografie gar vom „Bewusstsein kultureller Identität, deren Verletzung heftigste Reaktionen auslöst“ – wie der Sprachwissenschaftler und entschiedene Reformgegner Horst Haider Munske in der FAZ.

Nicht ganz so dicke, möchte man meinen, denn „kulturelle Identität“ würde sich – schaut man ohne rosarote Brille auch auf die „alte Rechtschreibung“ – dann nur auf jenen gewiss nicht übergroßen Teil der Bevölkerung beziehen, der die Schriftsprache sicher und bewusst beherrscht.

Weniger Fehler. Nach den neuneuen Regeln wird es zumindest schwieriger sein, Fehler zu produzieren. Denn zugelassen ist in vielen Fällen sowohl die von einer einfachen Regel abgeleitete Schreibweise (beispielsweise: „Getrenntschreibung ist der Normalfall“) als auch die Ausnahme von der Regel (beispielsweise so genannte resultative Prädikative wie frei machen/freimachen oder klein hacken/kleinhacken).

Nur in einem Punkt müssen reformgewöhnte Schüler umlernen: Zusammenschreibung, wenn eine neue, idiomatisierte Gesamtbedeutung gebildet wird, ist künftig Pflicht. Wer für diese neue Regel nichts übrighat (nicht mehr: übrig hat) und wem es schwerfällt (nicht mehr: schwer fällt), sich damit auseinanderzusetzen (schon seit 2004 Alternative zu: auseinander zu setzen), der könnte künftig im Rechtschreibunterricht kaltgestellt (aber keinesfalls kalt gestellt) und vom Lehrer fertiggemacht (statt fertig gemacht) werden. Übertragene Bedeutung, in der Regel mit Betonung auf dem ersten Wortteil, heißt zusammen-, wortwörtliche Bedeutung heißt getrenntschreiben (jemanden wiedersehen bzw. endlich wieder sehen können).

Der vielversprechende Rechtschreibrat war in diesem Punkt keiner, der immer nur viel verspricht: Die Vielfalt der Sprache kommt damit auch in der Orthografie wieder zum Ausdruck.

War es nicht das, was auch die Medien wollten? Der „Spiegel“, der seit dem sommerlichen Aufstand in Kooperation mit Springer (vgl. journalist 9/04) seine eigene Reform pflegte, folgt dem Rat des Rates schon seit Anfang 2006 und kündigt das komplette Umschwenken auf reformierte Reform termingerecht für August an. Auch Springer will spätestens dann umstellen – „nach Schaffung der technischen Voraussetzungen“. Nur die FAZ ziert sich noch, obwohl ihr Herausgeber Frank Schirrmacher im „Rheinischen Merkur“ die „großartige Leistung“ des Rates würdigte und ankündigte, seine Zeitung werde dessen Empfehlungen folgen.

Verwirrung pur. Das hört sich in deren kommentierenden Beiträgen ganz anders an: „Wer die Arbeit des Rates für deutsche Rechtschreibung nach einem Jahr bilanziert, wird feststellen müssen, dass die Verwirrung größer ist denn je“, schreibt eine Autorin in der FAZ. Die Verwirrung wird in ihrem Beitrag durchaus sichtbar, als sie die Zusammensetzung des Rates kritisiert und dabei zunächst dem Duden sieben Sitze zuspricht (tatsächlich ist es ein Sitz), dann wenige Absätze später „drei Vertreter der Wörterbuchredaktionen (Duden, Bertelsmann, Wahrig)“ ausmacht (tatsächlich sind Wahrig und Bertelsmann über den WissenMedia Verlag in Gütersloh ein und dasselbe) und „nur vier Sprachwissenschaftler“ erkennt, womit sie zumindest sieben weiteren Professoren quasi die Kompetenz abspricht.

„Wirklich beurteilen konnten also nur sieben von 39 Ratsmitgliedern die sprachlichen Sachfragen. Das sind viel zu wenige“, heißt es in dem Artikel weiter. Doch ganz abgesehen von diesem sehr eigenwilligen Rechenexempel: Die kompetente Fachbesetzung der alten Kommission passte der FAZ auch nicht, da „... keine Mitglieder von Akademien und Verlagen, kein Lehrer, kein Schriftsteller, kein Journalist“ vertreten waren, wie Horst Haider Munske im gleichen Blatt kritisierte.

Es ist wahrlich nicht leicht, es der in die Sache selbst erheblich involvierten FAZ recht zu machen. „Mangelhafte Objektivität in der Berichterstattung“ über den Reformprozess hat jüngst Wiebke Schodder in ihrer Diplomarbeit konstatiert („Die Rechtschreib-Reformer“, Bremen 2005). „Ihre Berichterstattungsbasis sind nicht länger zu beobachtende Ereignisse, sondern selbst geschaffene Fakten. Ein Bericht wird so indirekt zum Kommentar; ein Artikel über die neue Rechtschreibung kann nur schwer wertfrei gelesen werden, wenn er nach alten Regeln verfasst wurde.“

Diese Kritik verankert sie vor allem am Beispiel des öffentlichkeitswirksam angelegten Reform-Ausstiegs von FAZ und später von Springer, „Spiegel“ und „Süddeutscher“. Wobei Letztere es bei der Ankündigung beließ: Chefredakteur Hans Werner Kilz konnte sich intern mit der Rolle rückwärts nicht durchsetzen. Eine durch den Redaktionsausschuss initiierte Befragung unter den Redaktionsmitgliedern ergab damals, so ermittelte Schodder, dass es nur drei Prozent (ganze sieben Befragte) zur alten Schreibweise zurückzog, 34 Prozent wollten es bei der Reform belassen, und 63 Prozent hofften auf eine modifizierte neue Rechtschreibung.

Protestnoten. Die bekommen sie jetzt. Dass der Rechtschreibfrieden damit aber schon eingekehrt ist, bezweifelt nicht nur die FAZ. „Der Rechtschreibfriede – oder wie immer man den gegenwärtigen Status nennen mag – hat zu viel von einem Kompromiss an sich, als dass man sich über das Unbefriedigende der Lage hinwegmogeln könnte“, kommentiert Hermann Unterstöger in der „Süddeutschen“. Und die Reformgegner lassen nicht locker. So kündigte Theodor Ickler medienwirksam seinen Protest-Austritt aus dem Rat für deutsche Rechtschreibung an, und die Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS), der neben Ickler Schriftsteller wie Walter Kempowski und Reiner Kunze angehören, erfindet den Begriff des „Diktatfriedens“. Womit sie keinesfalls zum Ausdruck bringen will, dass die Reform nun endlich für Frieden beim Diktat im Deutschunterricht sorgt. Deutsche Sprache, schwere Sprache.

Aber es gibt Hoffnung. Ein Hoffnungszeichen setzte der sachsen-anhaItinische Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz, als er nach der Sitzung der Kultusministerkonferenz versprach, dass der Staat von solchen Reformen künftig die Finger lassen werde. Der von der KMK berufene Rat aber wird noch vier weitere Jahre tagen und die Rechtschreibung und ihre Anwendung beobachten. Und Reformvorschläge machen. Ganz vorsichtig und sachte, immer im moderaten Diskurs. Wie es Friedensengeln frommt.

Noch steht der nun oft beschworene Begriff „Rechtschreibfrieden“ nicht im Duden. Aber er wird seinen Platz dort finden. Exakt hinter Rechtschreibfehler und Rechtschreibfrage.


Ulrike Kaiser arbeitet als Chefredakteurin des journalist in Bonn und ist (als Vertreterin von DJV und dju) Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung



Rechtschreibung

Die unendliche Reformgeschichte

Der Versuch, die Schriftsprache der Deutschen politisch zu regeln, ist exakt 130 Jahre alt: 1876 war es erklärtes Ziel einer „1. Orthographischen Konferenz“ in Berlin, Rechtschreibregeln aufzustellen. Vergebens: Die Konferenz endete ergebnislos. Erfolgreicher war Konrad Duden vier Jahre später mit seinem Wörterbuch, das als „Ur-Duden“ in die Geschichte deutscher Rechtschreibung eingehen sollte. Just dieses diente als Grundlage einer „2. Orthographischen Konferenz“, die 1901 tagte und 1902 erstmals amtlich die „Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis“ publizierte. Fortan regelte „der Duden“ die Orthografie; seine Redaktion beobachtete den Sprachgebrauch, nahm neue Wörter auf und wies auf veränderte Schreibweisen hin – bestätigt durch die Kultusministerkonferenz, die 1955 das Wörterbuch als offizielles Rechtschreibwerk auswies.

Und so hätte es bequem weitergehen können. Wären da nicht immer wieder Kritiker gekommen, die auf Ungereimtheiten der Orthografie hingewiesen hätten, auf die Schwierigkeit für Kinder und Ausländer, die deutsche Schriftsprache zu erlernen, auf die Außenseiterrolle in der internationalen Schreibgemeinde, auf das eigentümliche „ß“, auf die Vorzüge einer gemäßigten, gar radikalen Kleinschreibung beispielsweise. Die Reformbewegung der 60er und 70er Jahre schien den Boden zu bereiten für eine gründliche Überarbeitung der Orthografie. Das Ziel war klar: einfachere und zugleich eindeutigere Regeln, auf dass sich die Schriftsprache besser erlernen und fehlerfreier anwenden ließe. Aber wie das konkret in Wörter fassen?

Das blieb – wie üblich – einem Arbeitskreis überlassen. Der versammelte 1980 den gesamten deutschsprachigen Raum und nannte sich „Internationaler Arbeitskreis für Rechtschreibreform“, abgekürzt IAR. Darin berieten Vertreter aus der Bundesrepublik, der DDR, aus Österreich und der Schweiz über die Orthografie der Zukunft und luden unter Mitwirkung der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) ohne größeres Aufsehen zu so genannten „Wiener Gesprächen“.

Was dort weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit besprochen wurde, geriet im November 1994 anlässlich des dritten „Wiener Gesprächs“ zum ersten Regelwerk der Reform – mit Unterstützung der KMK, die dann auch Anfang Dezember 1995 den Beschluss fasste, die Rechtschreibreform einzuleiten. Im Juli 1996 versicherten sich die beteiligten Länder in ihrer „Wiener Absichtserklärung“ gegenseitig ihres Einsatzes für die Reform und beschlossen den zeitlichen Rahmen: Im August 1998 sollte die Reform wirksam werden, nach sieben Jahren dann umgesetzt sein.

Wie sie künftig Wörter zu Papier bringen sollten, nahmen das geneigte Schreibvolk und vor allem die professionellen Schreiber damals, vor zehn Jahren, erstmals bewusst wahr: Das Institut für deutsche Sprache in Mannheim publizierte die neuen Regeln und entsprechende Wörterlisten (vgl. Dokumentation in journalist 3/1996). Erst da, als die Reformer Ergebnisse ihres Bemühens ins (Schrift-) Bild setzten und mit neuen Buchstabenfolgen wie Gräuel, hier zu Lande, allein Erziehende oder Schifffahrt den Sehnerv trafen, begann die Debatte: Gegner formierten sich im Umfeld der „Frankfurter Erklärung“ von Schriftstellern anlässlich der Buchmesse 1996, Befürworter und Kritiker füllten erste Leserbriefspalten, eine Reihe von juristischen Auseinandersetzungen begann – initiiert überwiegend von Eltern, die ihre Kinder künftig nicht nach dem Reformwerk unterrichtet sehen wollten und seine Rechtmäßigkeit in Frage stellten.

In Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein leiteten Reformgegner 1997 gar Volksbegehren ein, was (im September 1998) allerdings nur im nördlichsten Bundesland eine breite Mehrheit fand und selbst da später vom Landesparlament konterkariert wurde. Wenige Monate zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht das Zustandekommen der Reform für rechtmäßig erklärt und damit den juristischen Auseinandersetzungen ein Ende bereitet.

Angesichts des massiven Widerstands der Reformkritiker bildeten die Kultusminister im März 1997 die Zwischenstaatliche Kommission mit sechs Vertretern aus Deutschland und je drei aus Österreich und der Schweiz; sie sollten die Einführung der Reform fachlich begleiten. Die trat wie geplant zum August 1998 in Kraft; die Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen stellte ihre Wörterliste vor, mit der sie die Schreibweise in Medien (und für deren Korrekturprogramme) präzisierte und sich bei alternativen Schreibweisen festlegte. Die „Woche“ wagte als Erste die Umstellung, die übrigen Medien zogen im August 1999 nach. Auch wenn die Gegner nie so ganz verstummten: Es kehrte weitgehend Ruhe ein an der Rechtschreibfront.

Bis nach einem Jahr die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ überraschend die Rückkehr zu dem vollzog, was sie die „bewährte“ Rechtschreibung nannte, sprich: die alte Schreibweise. Die neue habe zu zusätzlichen Fehlerquellen geführt, werde in der Bevölkerung nicht akzeptiert, hieß es. Die Kultusminister reagierten auf die neu entflammte Diskussion mit dem Beschluss, der Zwischenstaatlichen Kommission einen Beirat zur Seite zu stellen. Darin kamen im Februar 2001 erstmals neben einzelnen Kritikern auch die professionellen Sprachanwender zum Zuge: Journalisten, Schriftsteller, Verleger. Nicht zuletzt deren Hinweise und Kritik veranlassten die Zwischenstaatliche Kommission, ihr Reformwerk geringfügig zu modifizieren. Im Februar 2004 wurden ihre Änderungsvorschläge bekannt
gegeben.

Das und die sukzessiven, teils uneinheitlichen Änderungen in den Wörterbüchern, kamen den Reformgegnern zwar inhaltlich entgegen, hielten diese aber nicht davon ab, nun das völlige Rechtschreibchaos zu mutmaßen und anzuprangern. Dass sich die Zwischenstaatliche Kommission überdies zum ständigen Wächter und Begleiter der Schriftsprache aufschwingen und sich aus der politischen Umklammerung durch die Kultusminister lösen wollte, veranlasste die KMK im Juni 2004, die Einrichtung eines plural besetzten Rats für deutsche Rechtschreibung zu beschließen. Der konstituierte sich ein halbes Jahr später.

In der Zwischenzeit hatten Springer, „Spiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“ das Sommerloch genutzt, um öffentlichkeitswirksam ihre Abwendung von der Reform bekannt zu geben und den Machtkampf mit der Politik zu proben (vgl. journalist 9/04). Die Allianz der Unwilligen beförderte die breite Debatte erneut – zu einem Zeitpunkt, als eine ganze Grundschulgeneration schon keine andere Schreibweise mehr kennen gelernt hatte und die Reform auch an den weiterführenden Schulen eigentlich kein Thema mehr war. Springer kehrte tatsächlich zur alten Schreibweise zurück; der „Spiegel“ modifizierte das Reformwerk auf eigene Weise; die „Süddeutsche“ beließ es bei der Ankündigung – die Rolle rückwärts war intern nicht durchzusetzen.

Die Übergangsfrist der Rechtschreibreform endete zum August 2005 mit Ausnahme der dem Rat zugewiesenen Klärungspunkte – und mit Ausnahme von Bayern und NRW. Beide Bundesländer wollten zunächst die Arbeit des Rates abwarten, um dann eine Entscheidung zu treffen. Der Rat für deutsche Rechtschreibung legte nach acht Sitzungen und zusätzlichen Beratungen in drei Arbeitsgruppen im Februar 2006 der Kultusministerkonferenz seine Reformvorschläge vor; die akzeptierte am 2. März das Reformpaket, auch wenn es mit Vorschlägen zur Groß- und Kleinschreibung über die ursprüngliche Aufgabenstellung (Getrennt- und Zusammenschreibung, Zeichensetzung und Worttrennungen am Zeilenende) hinausgegangen war.

Die modifizierten Regeln werden nun (auch in Bayern und NRW) zum August in Kraft treten – wiederum mit einer Übergangsfrist, in der Abweichungen von der Schreibnorm nicht als Fehler bewertet werden. Was für Medien in Zweifelsfällen die Norm werden könnte, schlägt die Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen ihren Kunden vor. „Spiegel“ und Springer werden auf den reformierten Reformkurs einschwenken. Nur die FAZ verharrt auf ihrer ablehnenden Position. Noch.



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Kommentare zu »„Ein bisschen Frieden“«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.04.2006 um 19.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3821

Komisch, wie oft eine Journalistin vorwurfsvoll davon spricht, daß Zeitungen "öffentlichkeitswirksam" zurückgekehrt sind, daß ich "medienwirksam" meinen Austritt erklärt habe usw. Auch sachlich ist manches schief, die Geschichte der RSR stimmt hinten und vorn nicht. Den begrenzten Auftrag der KMK an den Rat gab es nicht. Weitere Kommentare erübrigen sich, es ist eben ein Stück Reformpropaganda, wie gehabt.


Kommentar von Christoph Kukulies, verfaßt am 05.04.2006 um 19.27 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3822

An solch weit reichende Reformen denkt heute keiner mehr.

Erkläre mir bitte mal ein Deutschlehrer die Grammatik dieses Satzes. Was ist
"weit reichende"?


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 05.04.2006 um 19.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3823

Als Titelstory der DJV-Verbandszeitschrift dürfte das doch aber einige Verbreitung finden – und auch entsprechende Wirkung zeigen, schließlich ist Frau Kaiser auch Ratsmitglied. A propos Wirkung: Ich bin ja mal gespannt, wie man bei der FAZ darauf reagiert; das Wort „Krawallmacher“ fällt zwar nicht, aber letztlich spricht aus dem Text genau das (als Behauptung bezüglich der FAZ)...


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 05.04.2006 um 19.53 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3824

Wie schön, wenn sich unter dem "nicht übergroßen Teil der Bevölkerung ..., der die Schriftsprache sicher und bewusst beherrscht" auch etwas mehr Journalisten befänden. Frau Kaiser gehört offensichtlich nicht dazu ... wenn man den semantischen Unterschied zwischen "Rad fahren" und "Eis laufen" und demzufolge die damit zusammenhängende Diskussion nicht begreift (auf die aktuelle Schreibung möchte ich hier gar nicht eingehen), sollte man sich vielleicht einen anderen Beruf suchen.

Die lächerlichen Medienberichte über die RSR und die Unwilligkeit oder Unfähigkeit der Journalisten, zu diesem Thema Position zu beziehen, sind es, die mir alle Illusionen über den deutschen Journalismus geraubt haben.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 05.04.2006 um 20.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3825

Wissen schadet

"Internationaler Arbeitskreis für Rechtschreibreform" - Wann und wo hat der denn getagt?

Daß die Kultusminister "angesichts des massiven Widerstandes der Reformkritiker" die Kommission einberufen hätten, ist ein guter Witz. Man könnte eher behaupten, daß sie aus diesem Grunde abgesetzt wurde.

Gern würde man erfahren, was die Dame zur Diskussion im Rechtschreibrat beigetragen hat.


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 05.04.2006 um 20.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3826

Kommentare erübrigen sich in der Tat. Erich Kästner bemerkte einmal sinngemäß (in der Einleitung zu "Emil und die Detektive", wenn ich es richtig in Erinnerung habe), es bedürfe mindestens zehn Seiten Textes, um auf eine einzige Seite voll falscher Behauptungen zu antworten. Trotzdem, da stimme ich Herrn Wagner zu, sollte man Frau Kaiser ihr Stück Reformpropaganda nicht einfach durchgehen lassen. Schließlich erreicht sie mit ihrer Darstellung in beachtlichem Umfang die Primärmultiplikatoren in den Medien selbst. Und die werden sehr bereitwillig aus der kaum bezweifelbaren Authentizität der Darstellung eines Ratsmitgliedes den Fehlschluß auf dessen Kompetenz ziehen. Diesem Irrtum ist Ulrike Kaiser ja offensichtlich selbst erlegen.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 05.04.2006 um 20.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3827

Der ausführlichen Zusammenstellung „Geschichte der deutschen Orthographie“ von Michael Schneider (http://www.schneid9.de/pdf/geschichte.pdf) entnimmt man auf S. 14:

»1980
Die „Kommission für Rechtschreibfragen“ (BRD) und die „Forschungsgruppe Orthographie“ (DDR) schließen sich mit der „Arbeitsgruppe Rechtschreibreform der schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren“ und der „Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe des Koordinationskomitees für Orthographie beim Bundesministerium für Unterricht und Kunst“ (Wien) anlässlich eines Germanistenkongresses in Basel zum „Internationalen Arbeitskreis für Rechtschreibreform“ (später: für Orthographie) zusammen, der anfangs zweijährlich, ab 1986 jährlich tagt.«


Kommentar von Jürgen Sterzenbach, verfaßt am 05.04.2006 um 20.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3828

Ulrike Kaiser hat zwar den DJV im Rechtschreibrat vertreten, aber nicht unbedingt die Meinung seiner Mitglieder. Anläßlich der erneuten Diskussion im Jahr 2004 und einer einseitigen, nicht repräsentativen Stellungnahme des DJV-Vorsitzenden hatte ich eine Mitgliederbefragung zu diesem Thema beim DJV-Vorstand und bei der Redaktion des "journalist" angeregt; das haben sich die Funktionäre wohl nicht getraut. Immerhin wurden einige reformkritische Leserbriefe im "journalist" veröffentlicht.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.04.2006 um 20.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3829

"solch weit reichende Reformen" ist ein besonders schönes Beispiel für die Grammatikfehler der Reform: "weit" ist hier Adverb zu einem angeblichen Adjektiv "reichend", das es aber gar nicht gibt, weder attributiv noch prädikativ. Das endungslose "solch" davor verlangt aber ein Adjektiv oder einen unbestimmten Artikel vor dem Substantiv.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 06.04.2006 um 02.05 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3830

Frau Kaiser macht sich in einer für ihre Profession beschämender Weise zum Büttel der für das Desaster verantwortlichen Politikerkaste. Völlig unkritisch bläht sie die Abwendung weiter Teile der Presse im Jahr 2004 zum Politikum, zum "Machtkampf" gegen die Politik auf und folgt damit exakt der unerhörten Argumentation von Frau Wolff.

Den Kundenwünschen und der Sprachrichtigkeit zu folgen ist demnach ein politischer Akt, ein beinahe illegaler und staatsfeindlicher dazu. Das beweist einmal mehr, daß es bei der Reform nicht in erster Linie um eine Erleichterung für die Schreibenden ging, jedenfalls nicht für die Politik, sondern um einen weiteren Ausbau der Staatsmacht auf Kosten der Bürger. Daß so viele Journalisten und Lehrer (letzteren wäre es wegen der Zwänge, denen sie unterliegen, ja noch halbwegs zu verzeihen) mitgemacht haben, ist ein Skandal ersten Ranges.

Wollte man dieser Argumentation folgen, dann wäre nur das blinde Befolgen staatlicher Vorgaben, und seien sie auch noch so unsinnig, unpolitisch und verfassungskonform. Jedem Bürger, der sich vor Gericht gegen Verwaltungsakte und ähnliches zur Wehr setzt, wird dieses als gutes Recht zugestanden. Nur wer richtig und gut schreiben will und das Geschriebene auch verkaufen möchte, wird von Politikern und Funktionären fast zu einem Staatsfeind erklärt.

Es mag ein wenig paranoid klingen, aber die Vorgänge erinnern zumindest in einigen Details an die düstersten Jahre der deutschen Geschichte. Stichwörter wie Gleichschaltung, Säuberung oder Bücherverbrennung drängen sich hier fast auf.

Die von Frau Pfeiffer-Stolz in einem anderen Zusammenhang dankenswerterweise in Erinnerung gerufenen Memoiren Viktor Klemperers rufen unangenehme Assoziationen hervor: Ist das Heyse-s vielleicht nicht nur ein "Geßlerhut", sondern vielleicht auch eine Parallele zum gedankenlosen Heben des rechten Armes nach 1933? Frau Kaiser und andere sich selbst als kritisch bezeichnende Journalisten (und nun auch der Springer-Verlag!) müssen sich die Frage gefallen lassen, inwieweit ihr ethischer Kompaß noch funktioniert, wenn sie die Geiselnahme der Schulkinder zum Zwecke der Durchsetzung völlig andersgearteter, höchst fragwürdiger Zwecke rechtfertigen. Erst recht sollten sie einmal überlegen, inwieweit Journalisten eigentlich unabhängig sein können, wenn sie sich so ungeniert hinter der Staatsmacht verstecken und aus vermeintlich sicherer Deckung die große Mehrheit der Bevölkerung mit Hohn und Spott überschütten und sie damit zu marginalisieren versuchen.

Vielleicht werden künftige Generationen einmal in der Lage sein, diesen Versuch in Totalitarismus im Detail zu analysieren, vorausgesetzt, die Akten wurden nicht dem Reißwolf übergeben, so wie es mit dem Videoprotokoll der Wieder Konferenz 1994 offensichtlich geschehen ist.

Insgesamt kann einen der Gedanke an Deutschland in der Nacht zur Zeit schon um den Schlaf bringen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.04.2006 um 10.38 Uhr  
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In den sechziger Jahren stand an deutschen Plakatwänden zu lesen: "Bauknecht weiß, was Frauen wünschen" - was damals jemand so kommentierte: Da weiß Bauknecht wirklich mehr als meine Frau. Ähnlich verhält es sich mit allem, was in diesen Tagen zur Rechtschreibreform gesagt wird. Es gibt weder seriöse Erhebungen über den gegenwärtigen Schreibgebrauch der Deutschen noch über ihre Erwartungen in bezug auf das öffentliche Schreiben. Nicht einmal die Schreibsituation in den Schulen hat irgend jemand hieb- und stichfest untersucht. Daß mit der Rechtschreibreform so ziemlich alles schiefgelaufen ist, scheint hier und da bekannt zu sein. Wie groß jedoch der Schaden wirklich ist und welche Reparaturbemühungen unternommen werden, das entzieht sich der Kenntnis der meisten und - sagen wir es ehrlich - das interessiert sie auch nicht. Es könnte ganz gut sein, daß der Zehetmair-Rat für die 25. Dudenauflage von 2011 noch "behende" und "Quentchen" durchsetzt, aber das wäre es dann auch schon gewesen. Warum gibt es keinen Volksaufstand und keine mit einem flammenden Aufruf zusammengetrommelte Versammlung der riesigen Heerschar unserer Hochschulgermanisten und Deutschlehrer? Ihnen geht es nicht anders als dem gewöhnlichen Schreibvolk: Die Rechtschreibreform bringt niemanden (mehr?) um den Schlaf. Können aber wirklich Zeitgenossen mit einem Sensorium für den Wert unserer Sprache hinnehmen, daß Grobiane den Deutschen "leidtun" vorschreiben und "recht haben" nur als Variante zulassen? Sie können es nicht nur, sie tun es.

This is the state of the nation, würde man in einer anderen europäischen Sprache ohne unsere Probleme sagen. Durch und durch problematisch ist die deutsche Rechtschreibung freilich auch nicht. Die Manie, Wörter aus fremden Sprachen unbedingt verändern zu müssen, hängt uns zwar immer noch seit der chauvinistischen Kaiserzeit an, doch der "Computer" und seine Genossen zeigen dem neuerdings die Stirn. "Waidmann" oder "Weidmann" läßt uns schon lange kalt, und wenn der amtlich privilegierte Duden nicht in den letzten Jahrzehnten seiner Alleinherrschaft versucht hätte, selbst Randbereiche unserer Rechtschreibung einheitlich zu regeln, die eigentlich den Ausdrucksbedürfnissen der individuellen Schreiber überlassen bleiben sollten - hätte es dann je Interesse für eine Rechtschreibreform gegeben? Die kulturrevolutionäre Welle der von Friedeburgs und der Anhänger der Sustantivkleinschreibung war doch Mitte der achtziger Jahre längst abgeklungen. Eine intakte Rechtschreibung hätte nichts mehr zu befürchten gehabt, aber unsere Rechtschreibung war eben nicht - was der unserer großen Nachbarsprachen ihre unangefochtene Kontinuität garantiert - traditionell und gewachsen.

Schön wäre es ja gewesen, wenn wir aus eigener Kraft die Bevormundung durch den Duden hätten abschütteln und in einer wirklich behutsamen Rechtschreibreform eine durch und durch demokratische Orthographie für eine endlich selbstbestimmte Schreibgemeinschaft hätten kreieren können. Gerhard Augst und sein Kreis haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt und leider die deutsche Rechtschreibmisere nur noch verschlimmert. Nun löffeln wir alle gemeinsam die Suppe aus. Mit Schuldzuweisungen kommen wir nicht weiter. Geduld und verständnisvolle Toleranz sind jetzt gefragt. Das sollte auch Ulrike Kaiser und Heidi Polegek einschließen.


Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 06.04.2006 um 10.45 Uhr   Mail an
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Drei Kommentare zu diesem Artikel:

1. »Dort überall gilt es wieder umzulernen. Freiwillig auch im Geschäfts- und Privatleben, sofern man mit der Rechtschreibung nicht sichtbar auf Kriegsfuß stehen will.«

Offenbar will Frau Kaiser den Unterschied zwischen der deutschen Rechtschreibung (der Schreibweise, die der Schreibgemeinschaft recht ist) und der zwangsreformierten Schulschreibung nicht wahrhaben. Wer bei der Rechtschreibung bleibt (und das heißt auch: ihre natürliche Entwicklung mitvollzieht), der bzw. die wird mit ihr nicht "auf Kriegsfuß stehen".

2. »[...] denn „kulturelle Identität“ würde sich [...] dann nur auf jenen gewiss nicht übergroßen Teil der Bevölkerung beziehen, der die Schriftsprache sicher und bewusst beherrscht.«

Eine Definition „kultureller Identität“, die nur jene einschließt, die den gesamten Kulturkanon verinnerlicht haben und z. B. die Schriftsprache sicher beherrschen, ist zugleich ein Ausschlußkriterium für die „kulturelle Identität“ jedes Volkes und jeder Völkergemeinschaft. Man wird mich ja wohl auch dann zu Recht mit seiner Muttersprache identifizieren können und dürfen, wenn einem ab und zu ein Fehler unterläuft ...

3. »[...] und „nur vier Sprachwissenschaftler“ erkennt, womit sie zumindest sieben weiteren Professoren quasi die Kompetenz abspricht.«

Wer (Sprach-) Wissenschaft wörtlich als Erkenntnisdisziplin versteht, die ihren Gegenstand analysiert und beschreibt statt ihn zu erfinden und vorzuschreiben, der erkennt vielleicht im Rat noch weniger als „nur vier Sprachwissenschaftler“. Wissenschaft ist deskriptiv, nicht präskriptiv.

4. Schließlich noch ein Kommentar zu Herrn Schaefers Frage: »Ist das Heyse-s vielleicht nicht nur ein "Geßlerhut", sondern vielleicht auch eine Parallele zum gedankenlosen Heben des rechten Armes nach 1933?«
Nicht nur das Heyse-s, sondern auch andere Teile oder die ganze "Reform" weisen eine Parallele zum "Deutschen Gruß" auf, allerdings weniger in seiner aggressiv-ideologischen Ausprägung: Zwar war dieser nach 1933 auch Ausdruck nationalsozialistischer Überzeugung, überwiegend aber wurde er einfach nur aus Harmoniebedürfnis oder als Deckmäntelchen praktiziert, um sich nicht einem vielleicht lebensbedrohenden Verdacht auszusetzen. Mit der "Reform"-Schreibung ist es ähnlich – man möchte nicht außen vor stehen und sich (ungeachtet der tatsächlichen Unterstützung der "Reform" durch nur ca. 8% der Bevölkerung) als "Querulant" outen, die RSR ist schließlich "amtlich". Die "Bedrohungslage" ist freilich heute eine andere, weshalb man den Mitläufern heute durchaus einen Vorwurf machen darf.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.04.2006 um 11.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3834

Helmut Jochems: "Eine intakte Rechtschreibung hätte nichts mehr zu befürchten gehabt, aber unsere Rechtschreibung war eben nicht - was der unserer großen Nachbarsprachen ihre unangefochtene Kontinuität garantiert - traditionell und gewachsen."

Dazu möchte ich zweierlei bemerken: Die allgemein übliche Rechtschreibung war im wesentlichen traditionell und gewachsen. Ihre Darstellung im Duden blieb ein wenig dahinter zurück und versteifte sich auf manche Einzelwortfestlegungen oder nicht ganz hieb- und stichfeste Regeln ("Richtlinien"). Aber welcher Zug der üblichen Schreibung wäre denn nicht traditionell und gewachsen (sondern von oben dekretiert, wie man wohl als Gegenteil annehmen muß)? Die gesamte Forschung hat doch gezeigt, wie alles gewachsen ist und zu Lessings Zeit schon im wesentlichen fertig war.


Zweitens hätte auch die beste Darstellung in einem (empirisch begründeten) Wörterbuch die deutsche Rechtschreibung nicht davor geschützt, zum Gegenstand von Änderungswünschen zu werden. Erinnern wir uns doch daran, daß die Abschaffung der Substantivgroßschreibung das Hauptziel der Reformer war. Sie war traditionell und gewachsen wie nur irgend etwas. (Im 19. Jahrhundert gab es wegen Einmischung der Schulbehörden ein gewisses Hin und Her, wie Karin Rädle gezeigt hat, aber am Ende wurde die längst begonnene Entwicklung geradlinig fortgesetzt.) Ein zweiter Wunsch richtete sich ausdrücklich darauf, "der Tendenz der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung (von Verbzusatzkonstruktionen) entgegenzuwirken" - also etwas Traditionelles und Gewachsenes, wie man ja ausdrücklich zugestand, abzuschaffen.

Auch die englische Orthographie war und ist Gegenstand von Reformwünschen, die das Gewachsene abschaffen wollen; nur haben sie dort keine Chance, sich mit Hilfe der Staatsmacht durchzusetzen. Das ist der Unterschied, nicht irgendeine Eigenschaft der deutschen Schreibgewohnheiten.

Die andere Frage, was die Leser eigentlich wünschen, wäre durch eine Abonnentenbefragung zu beantworten. Nur traut sich keiner, und man wird schon wissen, warum. Was mich betrifft, so wette ich, daß über 90 Prozent der FAZ-Leser die Reformschreibung nicht wollen. Sie werden aber ab August gleichwohl damit bedient werden.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.04.2006 um 11.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3835

Th. Ickler: »Was mich betrifft, so wette ich, daß über 90 Prozent der FAZ-Leser die Reformschreibung nicht wollen. Sie werden aber ab August gleichwohl damit bedient werden.«

Steht das jetzt schon fest?


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.04.2006 um 12.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3837

Sehr geehrter Herr Prof. Jochems, ich wüßte gern, was ich mir unter einer "demokratischen" Orthographie und einer "selbstbestimmten" Schreibgemeinschaft vorzustellen habe. Denken Sie dabei an regelmäßige Volksentscheide oder parlamentarische Mehrheitsbeschüsse? Man gebraucht ja heute den Begriff "demokratisch" in allen möglichen Zusammenhängen, manchmal ziemlich weit entfernt von seiner Definition als ein politisches Entscheidungsverfahren. Im Rechtschreibrat ging es geradezu superdemokratisch zu mit einer geforderten Zweidrittelmehrheit, und was ist dabei herausgekommen? (Na ja, wenn schon keine gute Rechtschreibung, so doch Friede ...)
Ich denke auch nicht, daß die "Alleinherrschaft" des DUDEN und seine Regelungsmanie der ursprüngliche Antrieb der Refomer waren. Das war eher das Motiv geschäftlich interessierter Kreise, die auch ein Stück vom Kuchen abhaben wollten.Vielmehr galt die herkömmliche Rechtschreibung als zu schwer und damit "undemokratisch". Die Refomer wollten sie erleichtern für die Anfänger und "Wenigschreiber" (Letztere haben ganz bestimmt am wenigsten unter den Schwierigkeiten gelitten, sie haben sie gar nicht wahrgenommen.) Später haben sich dann allerlei andere Motive hinzugesellt: Macht, Einfluß, Geld. Um diese drei geht es bis heute.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 06.04.2006 um 12.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3838

„Bevormundung durch den Duden“ (H. Jochems)

Mal ehrlich: wer hat sich denn früher vom Duden „bevormundet“ gefühlt?
Mir war er nichts anderes als ein Ort der Klärung, den man recht selten aufsuchte. Es gehörte auch nicht gerade zur Verhaltensvorschrift des Schreibenden, regelmäßig an den Ort der versammelten Wörterlisten zu pilgern. Als stummer Diener stand der Duden im Regal, man konnte sich dort Rat holen, konnte es aber auch bleibenlassen. Freiwilligkeit ist das Wort, das mir dazu einfällt. Immer waren die übergenauen Menschen es selbst, Lehrer vor allem, welche aufgrund fehlender Sprachvirtuosität die Regeln eng auslegten und gewisse Schreibweisen diktierten, die eigentlich fakultativ waren.
Im Zuge der sog. Rechtschreibreform hat sich heute eine schier unerträgliche Bevormundung in orthographischen Dingen entwickelt – wir sind darin jetzt, auch wenn es auf den ersten Blick genau anders herum scheint, unfreier als noch vor zehn Jahren. Wer richtig schreiben will, steckt in der Zwickmühle.
Noch einmal Duden: das Diktat geht nicht von den Wörterbüchern aus, sondern von den Menschen, die sie machen und allen Ernstes benutzen. Bei der Durchsetzung der Rechtschreibdiktatur hilft heute die Technik, und das ist ein Novum. Ohne die Rechtschreibprogramme hätte sich die sogenannte Rechtschreibreform überhaupt nicht verbreiten können und wäre wohl über die Schulmauern niemals hinausgelangt. Man darf gespannt sein, ob die Technik siegen wird, oder doch die Evolution.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 06.04.2006 um 13.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3840

Die Technik hätte es leichter, wohnte den neuen Regeln tatsächlich mehr (formale) Logik inne als den alten. Das ist aber, zumal nach der ReformReform und den ins Kraut geschossenen Varianten, nicht so. Die GZS vor allem konnte die Technik noch nie beherrschen, und heute weniger denn je. (Die Regeln sind nicht formal-logisch, sondern man muß Wortarten erkennen - das kann kein Programm, wenn es dabei auf den Kontext ankommt oder auf die intendierte Bedeutung.)
Für manche ist die Technik eine Krücke geworden, ohne die sie überhaupt nicht mehr von der Stelle kämen, statt eines fahrbaren Untersatzes, ohne den sie sich immer noch auf eigenen Füßen fortbewegen und dasselbe Ziel erreichen könnten. Und deshalb könnte sie wohl doch gewinnen, die Technik, aber für die Reform wird das ein Pyrrhus-Sieg.
Sie werden sagen, dank Computer muß man nicht mehr selber korrekt schreiben können, wie dank Taschenrechner nicht mehr selber rechnen.
Das sind obsolete Kulturtechniken! Eine äußerst leichtfertige Behauptung, und am Ende stehen keine anderen Rechenergebnisse, jedoch eine andere Sprache...


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.04.2006 um 15.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3841

Lieber Herr Ickler, die Verschnaufpause, die uns die neueste Wendung in der Auseinandersetzung um die Rechtschreibreform gewährt, sollten wir dazu nutzen, alle strategischen Überlegungen hintanzustellen und Tacheles zu reden. Im Vordergrund steht für mich Ihre Erkenntnis, daß ein nicht geringer Prozentsatz der Schreibungen in journalistischen Texten zu Dudenzeiten nicht dudenkonform war. Da Sie diesen Befund aber als das Übliche anerkennen und entsprechend in Ihrem Wörterbuch darstellen, sprechen Sie damit ein vernichtendes Urteil über die Orthographie, die bei uns bis vor zehn Jahren anhand eines amtlichen Wörterbuchs durchgesetzt wurde. Davon waren eigentlich nur die Problembereiche unserer Rechtschreibung betroffen, nämlich die Univerbierung und die Substantivierung. Der Duden sorgte für Einheitlichkeit, aber unter Ausblendung der orthographischen Wirklichkeit in dem einen und mit willkürlichen Festlegungen in dem anderen Falle.
Das hat jetzt zu dem absurden Ergebnis geführt, daß die Zehetmairsche Reform der Schreibwirklichkeit näherkommt als früher der Duden. Eine in rasanter Entwicklung befindliche Rechtschreibung verträgt eben keine allgemeinverbindliche einheitliche Normierung. Der Grundbestand unserer Rechtschreibung, also die graphische Umsetzung der segmentalen Phoneme für Wortstämme und Funktionsmorpheme, ist von der Reform nur eben angekratzt worden. Besonders Herrn Augsts (volks)etymologische Schreibungen wären ohne Probleme mit einem Federstrich wieder aus der Welt zu schaffen. Bei der Assimilation der Fremdwörter wäre jedoch eine Entscheidung nötig, was die Schreibgemeinschaft wirklich will. Unser unmögliches "Zentrum" sei eine Warnung an alle, die auf den alten chauvinistischen Pfaden weitergehen wollen. Der Not gehorchend erhalten wir jetzt, was für das Deutsche die einzig gangbare Lösung ist: Wörterbücher, die alle möglichen Schreibungen enthalten, und Auswahlen ("Hausorthographien"), die für Einheitlichkeit in einer Institution oder in einem Anwendungsbereich sorgen. Wenn die Wörterbücher des ersten Typs die künstlichen Kreationen wegließen und den ganzen Reichtum der Schreibwirklichkeit böten, wäre der Idealzustand erreicht. Täuschen wir uns aber nicht. Ein Teil der Neuerungen ist bei einem Teil der Schreiber inzwischen "üblich" geworden.


Kommentar von R. M., verfaßt am 06.04.2006 um 16.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3842

Daß »die Zehetmairsche Reform der Schreibwirklichkeit näherkommt als früher der Duden« wäre nicht so sehr ein absurdes Ergebnis, sondern erfreulich – wenn dieser Befund denn zuträfe. Er tut es nicht.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.04.2006 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3843

H. Jochems: »Das hat jetzt zu dem absurden Ergebnis geführt, daß die Zehetmairsche Reform der Schreibwirklichkeit näherkommt als früher der Duden.«

Woran belegen Sie das konkret?

Die mit der Reform eingeführten Verbote üblicher Getrennt- bzw. Zusammenschreibungen (leid/not tun, zur Zeit, noch mal; wieviel, radfahren, spazierengehen, ...) sowie die vom Rat neu eingeführten Zwangszusammenschreibungen (abhandenkommen, kürzertreten, bankrott-/pleitegehen, ...) sind m.E. ebenso weltfremd, wie es frühere Dudenspitzfindigkeiten waren („Verbot“ [besser: Nichtverzeichnen] von selbstständig, Rad fahren, Schneller Brüter usw.). Warum also sollte der jetzige Zustand der Schreibwirklichkeit nähergekommen sein? Was wissen wir überhaupt über die jetzige Schreibwirklichkeit?

In einem Punkt aber gebe ich Ihnen Recht: Ein Teil der Neuerungen ist bei einem Teil der Schreiber inzwischen „üblich“ geworden – leider. Das sagt aber noch lange nichts darüber aus, daß das auch so bleiben muß.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.04.2006 um 18.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3844

Lieber Herr Jochems, ich möchte nicht mißverstanden werden. Natürlich gab es in Zeitungen und Sachbüchern Schreibweisen, die nicht dudenkonform waren, und darum habe ich mein Wörterbuch gemacht. Aber wie viele es waren, darüber habe ich nichts gesagt. Die jetzt aus Verlegenheit und nicht aufgrund ähnlicher Überlegungen wie bei mir eingeführte Variantenfülle führt logischerweise dazu, daß ziemlich vieles jetzt "korrekt" ist. Aber wünschenswert kann ich das nicht finden. Ich selbst habe ja den Deskriptivismus keineswegs ausufern lassen. Meine Varianten (es geht hauptsächlich um die Rundbögen bei GZS, dazu ein bißchen GKS) halten sich in Wirklichkeit sehr in Grenzen. Orthographie ist immer Auswahl, nicht wahr? Anders gesagt: das Übliche ist nicht einfach alles Vorkommende.
Grammatisch falsche Schreibweisen haben nie in eine orthographische Bestandsaufnahme gehört, auch wenn sie gelegentlich vorkamen (Diät leben, wie Recht du hast). Das ist jetzt anders, und es ist keine Frage der Quantität. Sollte es in die Gewohnheiten einer gewissen Zahl von Mitmenschen eingegangen sein, so muß man dafür sorgen, daß es auch wieder verschwindet, nicht aber in falsch verstandener Deskriptivität auch dies noch anerkennen - als "Sprachwandel", wie die Reformdurchsetzer es gern hätten. Ich finde es auch nicht richtig, mit der radikalen Großschreibung "des Öfteren", "im Allgemeinen", "seit Langem" 150 Jahre orthographischen Fortschritts rückgängig zu machen. Vorgekommen ist es natürlich immer, und jetzt sorgen die Programme dafür, daß es oft zu finden ist, aber gut und richtig ist es nicht.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.04.2006 um 19.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3845

Prof. Ickler hat in wünschenswerter Deutlichkeit noch einmal klargestellt, daß die deskriptive Methode nicht einfach der Mehrheit folgt, sondern durchaus bewertet und auswählt. Dies ist zugleich eine Absage an eine wie immer verstandene "Demokratisierung" der Rechtschreibung. Daß die Zehetmairsche Schreibung, ich übernehme einmal diese verkürzende Kennzeichnung, der augenblicklichen Schreibwirklichkeit näherkommt als früher die dudenkonforme, spricht ganz im Gegensatz zu Prof. Jochems’ Ansicht ein vernichtendes Urteil über ebendiese Schreibung, nicht aber über die früher "durchgesetzte". Außerdem stimmt das wahrscheinlich auch nicht. So rasant ist die Entwicklung der Schreibwirklichkeit nun auch wieder nicht, daß eine Normierung von vornherein aussichtslos wäre. (Dies sage ich als linguistischer Laie). Wörterbücher sind Anleitungen zum richtigen Schreiben, aus keinem anderen Grunde werden sie konsultiert. Die Benutzer wollen nicht wissen, wie Hinz und Kunz schreiben oder daß es x Varianten gibt. Sie unterwerfen sich freiwillig(!) einer Autorität, die sie als sachkundig und verantwortungsvoll anerkennen. Warum soll es in diesem Fall anders sein als sonst, wenn man kompetenten Rat sucht? Die Quelle der Rechtschreibnorm ist die Praxis, sie war es jedenfalls bis vor kurzem. Es gibt gute und schlechte Praxis.


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 06.04.2006 um 21.14 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3846

Nun die angebliche "Bevormundung durch den Duden" wäre mir doch sehr viel lieber als die Bevormundung durch Korrekturleser (oder womöglich Korrekturprogramme), die mit halbverdauten Erkenntnissen zur Reformschreibung meine Übersetzungen verunstalten.

Und - nicht zu vergessen, das "Dudenmonopol" war früher eine ausgezeichnete Sache, wenn es galt, die eigene Schreibweise einem Kunden gegenüber zu erklären. Diskussionen über Wortarten u.ä. mit mehr oder weniger sprachkompetenten Leuten waren einfach nicht nötig - man konnte eben sagen "So steht es im Duden" und damit war die Sache erledigt, ohne daß man jemand mangelnder Grammatikkenntnisse wegen hätte beleidigen müssen.

Man müßte die vielen Stunden mal hochrechnen, die man heute mit einer Selbstverständlichkeit wie der Rechtschreibung vergeuden muß ...


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.04.2006 um 21.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3847

Michael Klett wird heute auf dieser Webseite mit folgender Äußerung zitiert: "Im Bereich Schulbuch muss man abwarten, ob die Kultusministerkonferenz aus den Wahlmöglichkeiten heraus ein Schulglossar entwickelt. Bei Klett-Cotta habe ich keine Probleme. Wir machen, was die Autoren wollen, und da verlangen die meisten die alte Schreibweise - eine Bitte, der ich gerne nachkomme." Das ist wohl eine realistische Sicht. Die deutsche Rechtschreibung mit ihren im Fluß befindlichen Entwicklungen und ihren diffizilen Differenzierungsmöglichkeiten läßt sich eben nicht über einen Einheitsleisten schlagen. In den angelsächsischen Ländern haben die meisten Verlage ein "Style Sheet", das auswählt und für relative Einheitlichkeit in den Publikationen sorgt. Beim Stenographischen Dienst des Bundestags hatte man früher eine entsprechende Zusammenstellung - 4 Seiten DIN A 4 -, die sich "Hitliste" nannte. Dagegen spricht nichts, es gilt eben das Prinzip "Be consistent".

Lupenrein einheitliche Wörterbücher erwecken unter allen Umständen den Verdacht, daß jemand die tatsächlichen Verhältnisse zurechtgebogen hat. Wie weit der Duden zuletzt die Gängelung auf die Spitze getrieben hatte, ersieht man am besten aus den Bändchen "Getrennt- oder zusammen?" (Herberg/Baudusch) bzw. "Die Groß- und Kleinschreibung im Deutschen" (Ewald/Nerius), die das Leipziger Bibliographische Institut noch kurz vor der Wende veröffentlichte. Die beiden sind antiquarisch leicht zu beschaffen, was sich im übrigen lohnt. Manches in diesen ausführlich dokumentierten Regelwerken ist kabarettreif. Wer sich nachträglich überzeugen will, warum sich so wenig Widerstand gegen die Rechtschreibreform regte, findet hier viel Stoff zum Nachdenken.

Nebenbei fragt man sich natürlich, wie die Zusammenarbeit der beiden Dudenredaktionen in den Jahren des Kalten Krieges wohl vor sich gegangen ist. Daß sie geklappt hat, ist offenbar. Weder "drüben" noch hierzulande gab es eben eine demokratische Rechtschreibung. Inzwischen hat sich wenigstens für die Univerbierung als Konsens unter den Fachleuten durchgesetzt, daß eine einfache, leicht zu handhabende und vor allem einleuchtende Regelung nicht möglich ist. Bei der Substantivierung ist das Problem weniger gravierend, denn die eigentlichen Schwierigkeiten beruhen auf willkürlichen Regelungen, die man leicht ignorieren kann. Warum verteidigt man aber auf unserer Seite eine Kompliziertheit, die den Professionellen ja nicht genommen werden soll, die aber für den Normalschreiber lauter Fallstricke birgt? Überall sonst in Europa gibt es "Rechtschreibungen für jedermann", warum tut man sich bei uns so schwer damit?


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 06.04.2006 um 23.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3848

Sehr geehrter Herr Jochems,

so sehr ich es auch schätze, daß Sie die Diskussionen auf dieser Seite stets vor dem Abdriften in die Selbstgefälligkeit bewahren, habe ich doch manchmal Mühe, Ihrer Argumentation zu folgen.

Sie sprechen von der Duden-Gängelung. Eine solche konnte man jedoch nur wahrnehmen, wenn man sich dem Duden bedingungslos unterwarf und keinen anderen Weg offenließ. Das waren dann die auch vor der Reform schon bespöttelten Dudenfetischisten, penetrante Besserwisser, die offensichtlich nichts anderes zu tun hatten, als die Richtlinien und die Wörterliste auswendig zu lernen. Aber das ist doch einer der Fehler, den die Reformer selbst begangen haben: den Duden absolut zu setzen und als Ausweg aus einem letzlich konstruierten Dilemma eine eigene "Gängelung" durchzupauken.

Eine solche Sicht verkennt meines Erachtens den Zweck eines Wörterbuches, nämlich Ratsuchenden im Zweifelsfall eine Schreibweise zu offerieren, die "richtig" ist, ein stummer Diener eben, wie Frau Pfeiffer-Stolz so zutreffend bemerkt hat, kein Herr.

Insofern sind die zahlreichen Abweichungen vom Duden, die Herr Ickler festgestellt hat, doch Anzeichen einer lebendigen Sprache, aus der der Duden eben nur einen Auszug wiedergab, der aber Nachschlagenden im Zweifelsfall eine Antwort geben konnte. Ja, es ist doch auffällig, daß trotz einer angeblichen "Gängelung" massenweise unfallfreie oder wie Herr Ickler es formuliert hat: orthographisch unauffällige Texte produziert wurden, die eben nicht vollständig der Duden-Norm entsprachen. Wo war denn da der Leidensdruck?

Auch bei den Veröffentlichungen der Duden-Redaktion muß man sich allen Ernstes nach der Breitenwirkung fragen. Die Mehrheit der Schreibenden, auch der professionell Schreibenden, dürfte diese Bücher überhaupt nicht gekannt haben, wozu auch? Sie waren für die Schreibpraxis praktisch irrelevant.

Vor diesem Hintergrund müßte man auch fragen, wieso ältere Generationen, die nur die Volksschule besucht, aber dasselbe Schriftdeutsch gelernt haben, so gut und so sicher schreiben konnten und können. Offenbar haben sie einen besseren Unterricht genossen und vor allem mehr gelesen. Es ist doch schon hundertmal gesagt und geschrieben worden, daß man das rechte Schreiben nicht durch das Einpauken von Regeln, sondern durch Einprägen lernt. Die Regeln sind vor allem etwas für Menschen, die sich über die Schreibpraxis hinaus mit der Sprache beschäftigen!

Es tut mir leid, aber mir scheint Ihre Kritik am falschen Ende anzusetzen und von falschen Voraussetzungen auszugehen.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 07.04.2006 um 00.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3849

H. Jochems: »Warum verteidigt man aber auf unserer Seite eine Kompliziertheit, die den Professionellen ja nicht genommen werden soll, die aber für den Normalschreiber lauter Fallstricke birgt?«

Verstehe ich Sie richtig und beziehen Sie sich hier auf die reformierte Regelung, durch die den Professionellen die (erforderliche, gewünschte) „Kompliziertheit“ nicht genommen werden soll? Aber wie stellen Sie sich das vor, wenn die Nachwachsenden nur noch die vereinfachte Schreibe lernen? Den jetzigen Professionellen kann zwar aktiv nichts genommen werden (wohl aber lassen sie sich’s zum Teil nehmen), den zukünftigen jedoch wird es von Amts wegen vorenthalten. Das wollen Sie doch nicht ernsthaft verteidigen?!

H. Jochems: »Überall sonst in Europa gibt es "Rechtschreibungen für jedermann", warum tut man sich bei uns so schwer damit?«

Ich halte es allemal für besser, den Standard nicht zu senken, sondern allen das beizubringen, woran sich auch die Professionellen orientieren – aber dabei klar zu differenzieren, was man von wem wirklich verlangen kann und also mit Toleranzbereichen zu arbeiten, in denen der Lehrer zwar korrigiert, der „Fehler“ aber nicht gewertet wird. In Frankreich gibt es das („Tolérances grammaticales ou orthographiques“, Arrêté ministériel vom 28. Dezember 1976), in Österreich wohl auch (oder zumindest bis vor einigen Jahren: „[...] die Leistungsbeurteilungsverordnung (§ 15 Abs. 1) [regelte], welche Fehler wir in den verschiedenen Schulstufen zu tolerieren, also nicht zu bewerten hatten.“ Evelyn Thornton, tribüne 97/2, S. 20), aber in Deutschland gibt es so etwas nicht? Ich kenne mich da nicht aus und bitte um Aufklärung.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 07.04.2006 um 02.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3850

Zu "Tacheles [...] reden. Im Vordergrund steht für mich Ihre Erkenntnis, daß ein nicht geringer Prozentsatz der Schreibungen in journalistischen Texten zu Dudenzeiten nicht dudenkonform war" (Jochems):

Ich glaube nicht, daß diese Erkenntnis auf Tatsachen beruht, womit ich allerdings meine, daß das von dem, was uns Lesern an journalistischen Texten vorgesetzt wurde, nur zu einem ganz geringen Teil "nicht dudenkonform" war, — weil nämlich vor den endgültigen Druck noch der leibhaftige Korrekturleser gesetzt war. Ich sage damit also nicht, daß die Journalisten selbst richtig schreiben konnten. (Und hier ist vielleicht auch ein Grund, weshalb die große Mehrheit von ihnen [und darunter eben auch Ulrike Kaiser] sich nicht gegen die Vorschreiberei durch die Kultusminister besonders angegriffen fühlte!)
Der Duden selbst gab sich allerdings mehr und mehr nicht nur als Aufzeichner und vernünftiger Interpret dessen, was da im Gebrauch war, sondern mit allen möglichen zusätzlichen dicken Bänden zur Sprache (die die Bibliotheken dann anschafften, denn sie wollen ja dem Volke dienen) als Autorität in allem möglichen, was auch nur irgendetwas mit "richtigem" Sprechen und Schreiben zu tun hatte. Und statt sich selbst zu vertrauen, schielten die Benutzer dieses großen, naja, auf jeden Fall dicken Dudens zu einer Obrigkeit, denn der "Duden sorgte für Einheitlichkeit, aber unter Ausblendung der orthographischen Wirklichkeit in dem einen und mit willkürlichen Festlegungen in dem anderen Falle" und in so manchen anderen Fällen. Als ob "Einheitlichkeit" ein so großes Ideal wäre! Hier lag also ein großer Fehler auch bei den Leuten selbst. Allerdings wurde ihnen der vielbändige Duden auch gekonnt angedreht.

Im Gegensatz zu heute hatten wir jedoch dennoch bei der Verschriftung des Deutschen durchaus hinreichende Einheitlichkeit. Daß einige Übergänge festzustellen waren, wen störte es? Ob man nun "statt dessen" als adverbialen Ausdruck bestehend aus Präposition plus Objekt der Präposition versteht oder es der Wortart nach als das Adverb "stattdessen" (parallel zu "trotzdem") auffaßt, das stört Einheitlichkeit ebenso wenig wie die zweifache Schreibung von "so daß" (Duden: "immer auseinander") und "sodaß" (meine besten Freunde und auch nach einigen Duden "österr."). Wieweit "anderes" und "folgendes" pronominal und auf keinen Fall mehr nominal zu verstehen war, das war auch den Wenigschreibern sofort klar, wenn sie verständnisvoll auch einmal das total Andere zu Worte kommen lassen wollten. Also im Zweifelsfalle klein, und Hauptwörter, deren Erkenntnis einem keine Schwierigkeiten machte, groß.
Und so folgte dem märchenhaften "es war einmal" dann "hundertmal"; und jeder wußte trotzdem, daß man ganz natürlich "das hundertste Mal" schreibt und daß "hundert Mal" großer Blödsinn ist, auf den eben nur sinnlose Reformer kommen konnten. Und ich regte mich — dudenverbildet! — beim Abitur noch darüber auf, daß unser großartiger Mathematiklehrer "trotzdem" als unterordnende Konjunktion benutzte, wohingegen ich doch jetzt nach dem Studium mehrerer germanischer Sprachen weiß, daß der Übergang auch dieses Adverbs in eine Konjunktion gar nicht so absurd ist. (Auch bei anderen Konjunktionen hat das "daß" ja sehr leicht ausfallen können, nicht wahr, ja, und gegen "trotzdem, daß" hätten wir ja schon weit weniger einzuwenden, oder? Und "nachdem" lassen wir sowieso ohne Mucks als Konjunktion gelten. Aber all das sah der oft vorschreibende Duden eben nicht, — und schrieb halt dennoch fleißig vor, und man kaufte ihn sich besser, wenn man geschützt richtig liegen wollte. Und das will "man" ja schon, nicht? Und jetzt soll also diese Marktlücke von mehr als einem Verlag ausgenutzt werden.)

Daß "die Zehetmairsche Reform der Schreibwirklichkeit näherkommt als früher der Duden", wage ich übrigens zu bezweifeln, einfach weil unsere Schreibwirklichkeit total durcheinander ist und wirklich "reformiert" doch nur die wenigsten schreiben, die Schüler vielleicht noch am ehesten, aber die machen eben — PISA-geschädigt und aus welchen anderen Gründen auch immer noch zusätzlich geschädigt — mehr Fehler bei der ihnen beigebrachten Rechtschreibung als früher die Schüler bei der bewährten Rechtschreibung. Die "Zehetmairsche Reform" beseitigte eben aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis nur einigen gröbsten Unsinn, beließ aber, wenn auch politisch Erfolg vorgebend, sehr, sehr viel, also viel zuviel von dem groben Reformunsinn und feiert sich eben als erfolgreich wenigstens in der Kunst des Möglichen. Und so mancher feiert das bißchen Frieden da halt gerne mit; denn bei diesem Malheur gibt es ja nun wirklich nicht viel zu feiern.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.04.2006 um 06.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3851

Der alte Duden ließ "diesmal" zu, aber nicht "diesesmal", obwohl es massenhaft vorkommt. Das Verbot bleibt in der Neuregelung erhalten. Sie verbietet aber zusätzlich "jedesmal". "hundert Mal" hat keine grammatische Analyse (um es mal eisenbergsch auszudrücken), müßte also eigentlich zusammengeschrieben werden. Was heißt, daß "bei besonderer Betonung" getrennt und groß geschrieben werden kann? Was betont man da eigentlich?
Bei "Karten spielen" ist das Objekt völlig inkorporiert, wie man sehen kann an: "Es wurde Karten gespielt" (nicht "wurden"). Warum wird dann nicht zusammengeschrieben wie "eislaufen"? Wie steht es mit "Buch führen"? Das hat auch keine grammatische Analyse, müßte also zusammengeschrieben werden.
Man könnte Hunderte von Seiten füllen mit solchen Betrachtungen. Die Neuregelung war von Anfang an komplizierter als die Dudenfestlegungen, und inzwischen ist sie noch unübersichtlicher geworden, weil die Prinzipien weitgehend aufgegeben wurden.

Ich orientiere mich an meiner eigenen Bestandsaufnahme, die sowohl deskriptiv als auch selektiv ist. Ist sie "zu schwer"? Ich habe ja auch eine vereinfachte Fassung geliefert und dazu noch die beiden Papptafeln. Das ist das Schulpensum. Zuviel verlangt?
Die Menschenfreundlichkeit sollte sich eher im Unterricht zeigen als in der Darstellung des Systems. Nicht alles, was wir von professionell gestalteten Texten verlangen, müssen wir selbst leisten können. Wenn Herr Jochems das meinte, bin ich einverstanden.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 07.04.2006 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3853

Liebe Freunde, den Reformern wird zu Recht vorgeworfen, sie hätten sich nicht die Mühe gemacht, vorweg Einsichten in Struktur und Funktionsweise der deutschen Rechtschreibung zu erarbeiten, sie hätten vielmehr ohne viel Federlesens lediglich aufgrund von Fehlerstatistiken in ein intaktes System eingegriffen. Wer die vor zehn Jahren angerichteten und seitdem teilweise umgeschichteten Verwerfungen beseitigen will, muß es also sinnvoller anstellen als Professor Augst und sein Kreis. Die alte, traditionelle, bewährte, oder gar klassische Rechtschreibung pauschal zu beschwören hilft nicht weiter. Professor Ickler hat uns in seinem Wörterbuch und in seinem Kritischen Kommentar (von vielen anderen Ausarbeitungen ganz zu schweigen) vorgemacht, wie man das Übliche nachweist und begründet. Nur auf dieser Grundlage kommen wir weiter. Nostalgiker mögen das nicht glauben wollen, aber die guten alten Dudenzeiten sind passé - unwiederbringlich.

Dann sollte man die Probleme eingrenzen. Wer noch die beiden "bi-orthographischen" Dudenauflagen von 1996 und 2000 besitzt, achte auf die Farbunterscheidung: Was schwarz erscheint, ist unverändert (also alt, traditionell, bewährt, klassisch), nur die rote Farbe weist auf Narrenhände hin - es sind Inselchen in einem Meer von Schwarz. Kein Reformer hat an "Vlies" gerüttelt, auch nicht an "Vieh" und "Miene", ja nicht einmal an "Rhythmus". Aber "rau", "Känguru" und dergleichen? Wenn das der Kernpunkt der Reform wäre, hätten wir sie lange schon wieder hinter uns. Andererseits sind lediglich Randbezirke der Groß- und Kleinschreibung betroffen, bei der Getrennt- und Zusammenschreibung jedoch der gesamte Bereich der Verbzusatzkonstruktionen und der Verbindungen mit Partizipien. Hier hat der Zehetmair-Rat ein Jahr lang revidiert und unzählige Varianten produziert. Aus Professor Icklers Sichtung des journalistischen Schreibgebrauchs von vor 1996 wissen wir aber, daß auf diesem nicht abgeschlossenen Feld unserer orthographischen Entwicklung die Varianz charakteristisch ist. Dem hat er in Wörterbuch und Regelwerk Rechnung getragen. Konsequenz: Wer stärker differenzieren möchte, kann es (weiterhin/wieder) tun, wer das aber nicht kann oder nicht will, schreibt trotzdem "unauffällig". Dies ist ein Meilenstein auf dem Wege zu einer intelligenten Rechtschreibung für jedermann.

Ärgerlich bleibt, daß die Substantivierungen in Satzadverbialen ("im Übrigen", "im Allgemeinen", "im Wesentlichen") weiterhin textsemantisch irreführend groß geschrieben werden. Diese Schreibungen sind nicht grammatisch falsch, aber unzweckmäßig. Hier sollten wir unbeirrt Nachverbesserungen verlangen. Das gilt auch für die neuerdings vermehrte Großschreibung bei den Indefinita. Vermutlich wird die Zehetmair-Kommission in vier Jahren mit entsprechenden Vorschlägen aufwarten - zu spät für die jetzt einsetzende Welle revidierter Neudrucke.

Dann bliebe schließlich noch Herr Heyse. Machen wir uns nichts vor, nicht nur für junge Menschen sieht "Kuss" moderner aus als "Kuß". Heyse selbst nannte letzere Schreibung "verwerflich", denn sie verführe zu falscher Aussprache. Wenn sich die Schweizer der Reform angeschlossen hätten, wäre es für die Heyseaner heute leichter. Immerhin machen uns die Eidgenossen seit 1938 vor, daß selbst eine noch schlechtere Lösung des ß-Problems die skripturale Kommunikation nicht in den Kollaps führt.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.04.2006 um 12.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3854

Die Reformschreibungen stören aus ganz verschiedenen Gründen. Einiges ist schlicht grammatisch falsch (Diät leben, wie Recht du hast). Anderes widerspricht sich (ba-cken). Einiges ist rückwärtsgewandt und dem textsemantischen Fortschritt zuwiderlaufend (im Allgemeinen). Die Volksetymologien usw. würden nicht stören, wären sie eingebürgert; hier stört nur das Unverschämte des Oktrois. Ähnlich bei Heyse: die symbolische Aufladung der "Neuerung" zum Geßlerhut zwingt unsereinen geradezu, sich nicht zu fügen.
Über Einzelheiten läßt sich reden; ich gehe im Schlußteil meines neuen Buches für einige vielleicht schon zu weit, bin gerade wieder gerügt worden, weil ich die Dreibuchstabenregel für verhandelbar erklärt habe. Aber insgesamt kann man mit Fug und Recht sagen: das machen wir nicht mit, grundsätzlich und aus Ehrgefühl. Wir haben das Geplapper mancher Kultusministerin gehört und sagen uns: Wie bitte? Nur weil diese ahnungslose, aber freche Parteikarrieristin ihr Gesicht nicht verlieren will, soll ich jetzt gegen meine Überzeugung anders schreiben und meinen Schülern die Hammelbeine langziehen, wenn sie nicht mitmachen?
Daß der alte Duden seine Macken hatte, weiß jeder - wo sind denn eigentlich die Dudenfanatiker, die ihn in Bausch und Bogen wiederhaben wollen?
Noch mal: die bisherigen Schreibweisen waren in Ordnung, an ihrer bestmöglichen Darstellung muß man arbeiten, und der pädagogische Umgang mit ihr ist wieder eine andere Sache.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 07.04.2006 um 13.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3855

Ich möchte erneut zu bedenken geben, daß unsere Diskussion zwei Seiten derselben Medaille zu berücksichtigen hat: Orthographie ist zum einen das, was in der Erwachsenenwelt und insbesondere unter professionellen Schreibern üblich ist, zum anderen das, wonach der Lehrer seinen Schüler Fehler anstreicht. Letzteres hat mit dem pädagogischen Umgang mit der Materie nichts zu tun, sondern betrifft nur die nackte Tatsache, daß der Lehrer einen Maßstab verwendet, nach dem er korrigiert und bestimmte Schreibungen beanstandet, andere aber gelten läßt. Vor der Reform war dieser Maßstab der Duden, nach der Reform sind es das amtliche Regelwerk und alle Wörterbücher, die von sich behaupten, sich von diesem amtlichen Regelwerk abzuleiten.

Ich habe den Eindruck, daß sich insbesondere Herr Jochems in seinen Beiträgen bislang mehr der „professionellen“ Seite der Orthographie gewidmet hat und von dieser Perspektive her zur Mäßigung im Umgang mit der Reform rät. Was aber ergibt sich aus der Lehrer- bzw. der Schülerperspektive? Wie steht speziell „Herr Heyse“ in diesem Kontext da? Natürlich haben sich die Schüler weitestgehend an die Form „dass“ gewöhnt, so daß ihnen ein „daß“ altmodisch und unpassend erscheint. Andererseits verzeichnet Herr Marx seit vielen Jahren einen systematischen Anstieg der Fehlerzahlen bei der s-Laut-Schreibung. Aus diesem Grund halte ich es nach wie vor für sinnvoll, Heyse weiterhin abzulehnen. (Für Einzelheiten siehe in diesem Zusammenhang die Diskussion unter „Noch mal zum ss“.)


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.04.2006 um 14.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3856

Jedem das Seine

Ich habe im Gegenteil den Eindruck, daß Herr Prof. Jochems sich gerade für die Unterprivilegierten einsetzt, sprich er doch an einer Stelle von "Fallstricken", die die Orthographie einst wie jetzt enthalte. Damit ist er, sicher ungewollt und auf einem viel höheren Niveau, ziemlich nahe bei den Reformern, die in der Rechtschreibung vor allem eine Zumutung und Plage für die breite Masse sahen. Prof. Ickler hat diese schiefe Sicht, die die Rechtschreibung primär als Fehlerquelle auffaßt, und den daraus folgenden Primat ("Fetisch") der Fehlervermeidung zu Recht als schülerhaft bezeichnet. Sehen wir hingegen in der Orthographie ein Arsenal von Werkzeugen, so ist nicht einzusehen, warum manches davon einfach entfernt oder durch ein Teil minderer Qualität ersetzt werden soll, nur weil nicht jeder Benutzer alles braucht oder handhaben kann. Das wahrhaft Demokratische an der Rechtschreibung ist ihre Offenheit in dem Sinne, daß jeder nach Bedarf seine Fähigkeiten schulen und erweitern kann - wenn er es denn möchte oder dazu genötigt ist.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 07.04.2006 um 14.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3857

Herr Jochems schrieb: Wer stärker differenzieren möchte, kann es (weiterhin/wieder) tun, wer das aber nicht kann oder nicht will, schreibt trotzdem "unauffällig". Dies ist ein Meilenstein auf dem Wege zu einer intelligenten Rechtschreibung für jedermann.
Man darf nicht vergessen, daß hier sehr viel von den zukünftigen Entscheidungen der Zeitungsverlage und anderer Instanzen abhängt. Die täglich veröffentlichten Texte geben das vor, was dann schließlich - und ausschließlich - als das "Richtige" empfunden wird. Die Freiräume sind nicht unbedingt bekannt, nicht einmal bei Lehrern.

Herr Ickler schrieb: Ähnlich bei Heyse: die symbolische Aufladung der "Neuerung" zum Geßlerhut zwingt unsereinen geradezu, sich nicht zu fügen.
Sehr gut gesagt. Leider führt das auch einer gewissen "Zwanghaftigkeit" in unserer Argumentation.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 07.04.2006 um 14.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3858

Ich bezweifle nicht, daß Herr Jochems auch an die Überforderung der weniger Begabten denkt, ich habe lediglich moniert, daß in seinen Überlegungen, wie mit der Reform fortan sinnvollerweise verfahren werden kann, bestimmte Punkte zu kurz kommen. Ich meine damit unter anderem den Aspekt, daß manches, was den der Schule Entwachsenen an orthographischen „Werkzeugen“ (kratzbaum) und „Freiräumen“ (Fleischhauer) zur Verfügung steht, den Schülern vorenthalten bzw. daß deren Verwendung als Fehler angestrichen wird.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.04.2006 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3861

Zitat von Herrn Fleischhauer:
»Herr Ickler schrieb: Ähnlich bei Heyse: die symbolische Aufladung der "Neuerung" zum Geßlerhut zwingt unsereinen geradezu, sich nicht zu fügen.
Sehr gut gesagt. Leider führt das auch einer gewissen "Zwanghaftigkeit" in unserer Argumentation.«


Frage: in wessen Argumentation, wer ist "wir"? Mir kommt es so vor, als ob die Gegner der ss/ß-Neuregelung zwar nicht durchgehend hieb- und stichfest, aber insgesamt doch belastbar argumentieren, während es auf diesen Seiten immer wieder ganz komische Argumentationen zugunsten der ss/ß-Neuregelung gibt. Da möchte ich die Verfasser jedesmal auffordern, lieber zu schreiben: "Ich finde die ss/ß-Neuregelung gut. Mir gefällt sie." Oder: "Ich habe damit keine Probleme." Oder: "Ich stehe auf eine konsequente Orientierung der ss/ß-Schreibung an der Vokalquantität." Irgend so etwas. Aber hört doch damit auf, mit Gewalt aus dieser Vorliebe Theorien abzuleiten, die beweisen sollen, daß die Neuregelung weniger problematisch ist, als es ihr vorgeworfen wird. Diese Theorien sind meistens Käse, was sich bei näherer Betrachtung zeigt. Die Diskussion ist allerdings sehr mühsam, weil es jenen, die mit der ss/ß-Neuregelung liebäugeln, eigentlich nicht um Argumente geht, sondern um den Versuch, ihre Vorliebe rational zu rechtfertigen. Das ist nicht möglich, und es ist unnötig. Wer Manns genug ist, bekenne sich zu einem freundschaftlichen Verhältnis zur ss/ß-Neuregelung! Wir werden ihn schon nicht vierteilen.

Nehmen wir zum Vergleich die Argumentation von Professor Ickler, die natürlich nur einen Aspekt zur Sprache bringt: Die symbolische Aufladung der "Neuerung" zum Geßlerhut zwingt unsereinen geradezu, sich nicht zu fügen. Da gibt es nichts zu deuteln. Man kann zustimmen oder anderer Meinung sein, aber eine solche Darlegung ist sofort verständlich, weil es sich nicht um die krampfhafte Umwandlung einer persönlichen Einstellung in theoretische Konstrukte handelt. Hier wird die persönliche Ablehnung klar zum Ausdruck gebracht, so daß sich Auseinandersetzungen über ihre Berechtigung weitestgehend erübrigen.

Aber es könnte schon etwas dran sein an der Beobachtung von Herrn Fleischhauer. Neulich hat Herr Salzburg dreißig Gründe gegen die Rechtschreibreform aufgeführt, oder wie war das? Ich finde es ganz fantastisch, was und wie Herr Salzburg schreibt, aber in diesem Fall kam es mir "zwanghaft" vor. Beim Argumentieren sind fünf Gründe gegen die Reform mehr als dreißig.

Wahrscheinlich bin ich auch zwanghaft. Ich finde, das kann man als Sprachliebhaber schlecht vermeiden bei diesem Thema; und ich bewundere die anderen Sprachliebhaber in diesem Kreis, die locker und freundlich bleiben können, obwohl doch die offensichtliche Verhunzung der Schriftkultur auch ihnen Anlaß zu zwanghafter Übellaunigkeit geben müßte.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.04.2006 um 10.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3862

Lieber Herr Wrase, Sie machen Ihre Unterscheidung zwischen konsequenten und lauen Sprachlieberhabern an deren jeweiligem Verhältnis zu ss/ß fest. Ihr eigener Text ist an "daß" (zweimal) als klassisch zu erkennen. Ansonsten ist er lupenrein neutral - wenn da nicht das versehentlich reformierte "fantastisch" wäre. Das kennzeichnet Größe und Charakter des Problems. Natürlich nur, wenn man sich auf die sprachliche Seite konzentriert. Die in diesem Zusammenhang von Professor Ickler angesprochene Abneigung gegen Parteibuchkarrieristinnen und ihr Umfeld ist eine andere Sache. Ein Staat, in dem die Philosophen regieren, ist dies freilich nicht. Aber, Hand aufs Herz, möchten Sie in solch einem Staat leben?

Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache, deren Gastfreundschaft wir hier genießen, ist eine an den Grundsätzen wissenschaftlicher Objektivität orientierte Einrichtung. Da es um eine Sache geht, die uns am Herzen liegt, fließt wohl auch Emotionales in die Diskussion ein. Das darf aber doch kein Grund sein, das eigentliche Anliegen aus dem Auge zu verlieren. Nun sagen Sie: "... ich bewundere die anderen Sprachliebhaber in diesem Kreis, die locker und freundlich bleiben können, obwohl doch die offensichtliche Verhunzung der Schriftkultur auch ihnen Anlaß zu zwanghafter Übellaunigkeit geben müßte." Wenn man die Proportionen richtig sieht und das nur Persönliche sicherheitshalber ausscheidet, kann man sich mit kühlem Kopf auf die wirklichen Probleme konzentrieren. Darauf kommt es an, wenn in dieser fortgeschrittenen Phase der Rechtschreibreform noch etwas erreicht werden soll.

Es darf sogar gelacht werden. Gerade berichtet das Darmstädter Echo von einer Veranstaltung, in der Evelyn Tralle und Klaus-Wilfried Schwichtenberg gleich mehrere Lanzen für das mißglückte Unternehmen brachen:

Warum man jetzt „Rad fahren" und nicht mehr „radfahren" schreibt, wurde ebenso erklärt wie die Herkunft und Schreibung des Wortes „Tollpatsch". Das hätte man vor der Reform mit nur einem „l" schreiben müssen, denn mit „toll" habe es nichts zu tun. Vielmehr komme das Wort vom ungarischen „tolpas", was „große breite Sohle" bedeute. Und wer mit zu großen Schuhen läuft, der bewegt sich eben – tollpatschig, und zwar jetzt mit zwei „l".

Nach der „Reform der Reform" in den vergangenen Monaten könne man sich mehr auf den Klang der Worte verlassen, sagte Evelyn Tralle. Sie hat früher Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und war deshalb ausreichend für die vielen Fragen des Publikums gewappnet. Besonders zum „scharfen ß" gab es so einige. Doch die größte Sorge aus dem Publikum konnte gleich zerstreut werden: Bei Eigennamen bleibt das „ß" erhalten, was vor allem Zuhörerin Kathrin Plößer aufatmen ließ. Diese Regel gelte allerdings nur für deutsche Eigennamen, so dass unsere Leser aus Roßdorf zwar beruhigt sein können, was die Schreibweise ihres Heimatortes betrifft, Reisende sich aber darauf vorbereiten müssen künftig nur noch nach „Russland" oder ins „Elsass" zu fahren.

Was für manche verwirrend klingt, soll letztlich der Vereinfachung der Sprache dienen. „Ziel der Reform ist es, mehr verbindliche Regeln aufzustellen und weniger Ausnahmen von der Regeln zuzulassen", sagte Evelyn Tralle dazu. „Außerdem soll mehr Logik in die Sprache gebracht werden." Auch Schwichtenberg stimmt zu: „Die Rechtschreibreform ist ein Segen für die deutsche Sprache".

1997 nannte Professor Ickler den "tollpatschigen" Reformer Zabel "unser bestes Pferd im Stall". Sollten wir jetzt nicht Frau Tralle und Herrn Schwichtenberg diesen Rang zuerkennen?


Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 08.04.2006 um 10.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3863

Wolfgang Wrase: "[...] bekenne sich zu einem freundschaftlichen Verhältnis zur ss/ß-Neuregelung! Wir werden ihn schon nicht vierteilen."

Das ist wirklich gut formuliert! Dieser affektiven, aber scheinrational begründeten Haltung zum Heyse-ss konnte man schon in den Neunzigerjahren begegnen, und immer wieder tauchte dabei das Wort "logisch" auf - wohl nur deshalb, weil die Freunde des ss, die ja die deutsche Rechtschreibung kannten und von ihr ausgingen, hier eine Regel serviert bekamen, die sie zu verstehen glaubten und die zuverlässig zu "richtigen" Ergebnissen führte: Nach kurzem Vokal ist ß in ss umzuwandeln. (Daß das für Schreibanfänger ganz anders aussieht, wurde in der Euphorie nicht gesehen.)

Der "Charme" der ss-Schreibung, dem sich auch "Reform"-Kritiker manchmal nicht ganz entziehen können, scheint aus der Gewöhnung an die Tatsache zu entstehen, daß Vokalkürzen im Deutschen (wie in Nachbarsprachen) in vielen Fällen traditionell durch Verdopplung des nachfolgenden Konsonanten-Buchstabens gekennzeichnet werden statt durch eine Markierung des (kurzen oder langen) Vokals selbst, was eigentlich "logischer", zumindest naheliegender ist. Sieht man von der Tradition einmal ab, so ist die Heyse-Regel ebenso "logisch" wie die Regel, die Länge eines Vokals sei durch Großschreibung des vorausgehenden Konsonanten-Buchstabens zu markieren.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 08.04.2006 um 10.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3864

Okay, ich werde mich mal outen: Ich finde die ss/ß-Neuregelung gut, habe damit auch keine Probleme – mir gefällt sie geradezu, weil ich "darauf stehe", wenn sich für die s-Schreibung konsequent die gleichen Regeln ergeben wie für die Schreibung anderer Konsonanten.
Ich hoffe zusammen mit Herrn Wrase, daß die FDS mich jetzt nicht vierteilt.

Eine weitere sachliche Erörterung gehört sicherlich nicht in die hiesige Diskussion, jedoch möchte ich noch anmerken, daß ich – abgesehen von der Frage nach der "demokratischen" Einführung der Neuregelung – kein klares Urteil zugunsten der einen oder anderen s-Schreibung treffe. Ein paar Ideen, wie weitere Klarheit zu erlangen wäre, hatte ich hier und da geäußert. Im Gegensatz zu Herrn Wrase meine ich, daß man sich nur über Theorien (und Messungen) der Wirklichkeit nähern kann. Wenn ich ein Befürworter des Heyse-s bin, ist Herr Ickler einer der Dreifachkonsonanten.

Über den Einwurf von Herrn Jochems – Machen wir uns nichts vor, nicht nur für junge Menschen sieht "Kuss" moderner aus als "Kuß" – kann man durchaus nachdenken.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.04.2006 um 11.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3865

Ich habe die Schreibung fantastisch bewußt gewählt. Daß sie 1991 schon im Duden stand, ist für mich zweitrangig. Ich verwende normalerweise fantastisch, wenn ich "großartig" meine, und phantastisch, wenn ich "eingebildet, im Reich der Phantasie angesiedelt" meine; ich bilde mir ein, daß etwas von dieser Differenzierung auch im sonstigen Gebrauch existiert und somit beim Leser ankommt. Die Differenzierung wird natürlich unter der Reform zunehmend in die Richtung verschoben, daß man beides wieder für bloße Schreibvarianten hält, wobei fantastisch als zeitgemäß gilt und phantastisch als angestaubt. Da ich im Zweifel für modern gehalten werden will, hatte ich keine weiteren Probleme mit der Abwägung.


Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 08.04.2006 um 11.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3866

Zu Herrn Fleischhauer - ich würde die ss/ß-Regelung möglicherweise auch tolerieren, wenn man bei der Dreikonsonanten-Regelung wiederum daran gedacht hätte, was sich hier in Kombination ergeben wird. Es gibt leider im Deutschen sehr viele zusammengesetzte Wörter, die nun drei "s" erhalten.

Wenn die ss/ß- und Dreikonsonantenregel schon vor hundert Jahren oder so bestanden hätten, wären diese Wörter ihrer ausnehmenden Häßlichkeit und Unlesbarkeit wegen womöglich gar nicht entstanden. Das nehme ich den Reformen vor allem übel: Daß sie die "Kollateralschäden" bei ihren Entwürfen zu einer neuen Rechtschreibung gar nicht bedacht haben. Das kann ich ehrlich gesagt überhaupt nicht verstehen. Als ich die neuen Regeln damals zum ersten Mal zu Gesicht bekam, war mein erster Gedanke: Was mache ich nun mit "Meßsystem", "kurzschlußsicher" usw. ?

Man kann diese Dinge natürlich vermeiden, wenn man einen Text selbst verfaßt, aber bei einer Übersetzung ist dies nicht immer möglich. Ich habe z.B. einen Kunden, der "Meßsysteme" oder nunmehr "Messsysteme" herstellt. In seinem Katalog kommt dies so an die hundertmal vor. Ich habe allerdings keine Lust, immer die "s" abzuzählen oder zu Notlösungen wie "Mess-System" zu greifen, sondern stelle meinen Übersetzungen neuerdings den Kommentar voraus, daß ich beim Zusammentreffen dreier "s" der besseren Lesbarkeit wegen "ß" als "Fugenzeichen" verwende.

Protestiert hat zwar noch keiner, aber ich ärgere mich jedesmal über die Kopflosigkeit der Reformer bzw. die Wortblindheit oder wie man nun die Unfähigkeit nennen soll, den Aspekt des Lesers zu sehen.


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 08.04.2006 um 12.03 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3867

Neulich hat Herr Salzburg dreißig Gründe gegen die Rechtschreibreform aufgeführt, … in diesem Fall kam es mir "zwanghaft" vor. Beim Argumentieren sind fünf Gründe gegen die Reform mehr als dreißig.

Lieber Herr Wrase, es ging nur ums „ß“. Mir reichen zwei Gründe: Zerstörung einer 600jährigen deutschen Schreibtradition ohne zureichenden Grund und Entfremdung vom Schriftbild der großen deutschen Literatur mit nachfolgendem ständigem Konvertierungszwang.

Diese Umfunktionierung gegen den demokratisch festgestellten Willen des Volkes mit dem Hebel der Indoktrination wehrloser Schüler empfinde ich als das größte Übel der „Reform“.

Selbst Erwachsenen mit jahrelanger traditioneller Schreibpraxis, wie dem Kieler Germanistik-Professor Winfried Ulrich, „fällt selbst auf, dass ihn nach den alten Regeln Geschriebenes irritiert.“ (Kieler Nachrichten, 1.8.2003) und Professor Harald Marx, Leipzig: „Inzwischen nehme ich persönlich ein „daß“ mit ß für befremdlich wahr; das Gehirn stellt sich um.“ (Rheinischer Merkur, 28.1.04)

Auch der Schulmeister Manfred Baumgartner, Sieger aller Klassen im RTL-„Deutschtest“, erklärte im ARD-Morgenmagazin v. 14.6.05, daß er die einzige große Tageszeitung, die nach seiner Kenntnis die alte Rechtschreibung verwendet, nicht lesen kann, ohne daß er über „daß“ mit „ß“ stolpert – und missionsbeflissen: Eine Umstellung wäre nicht störend, weil sich ja nur in drei Prozent der Fälle das Wortbild ändert.

Mir fehlt jedes Verständnis für dieses nie verlangte Werk einer kleinen Gruppe Schreibbastlern, das nur durch die Mängel der Menschen in Politik und Justiz seine unverdiente Dominanz erringen konnte. Deshalb finde ich es richtig, wenn sich der Deutsche Elternverein bemüht, die erzwungene Entfremdung der jungen Generation vom Schriftbild der klassischen Rechtschreibung zu stoppen. Das gleiche Ziel verfolgen auch die laufenden Klagen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.04.2006 um 12.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3869

Liebe Freunde, in unserem Kreise sollte man sich tunlichst anhand der Veröffentlichungen von Professor Ickler informieren, ehe man sich zu einem sprachwissenschaftlichen Problem äußert. in Falsch ist richtig beschäftigt er sich Seite 29 ff. mit dem "Geßlerhut". Die Kernstelle lautet:

Tritt aber ein s an eine Stelle, wo es kein solches "Silbengelenk" mehr bildet, dann werden die beiden s zu einem ß zusammengezogen: Haß, Fluß; er haßt [...] Das Ganze betrifft eigentlich, wie auch das bayerische Kultusministerium zugibt, mehr die Typographie als die Orthographie: im ß sind ja beide s noch erkennbar vorhanden, das lange und das runde bzw. geschwänzte, nur eben in einer besonderen Verschmelzung.
Neben der Buchstabenverbindung ß gibt es den Einzelbuchstaben ß. Er bezeichnet in neuer wie alter Rechtschreibung ein stimmloses s und dient daher der Unterscheidung bei einigen wenigen Wortpaaren wie reißen und reisen, heißer und heiser, Muße und Muse. Wir brauchen diesen 27. Buchstaben des Alphabets als Notbehelf, weil wir es versäumt haben, das z für die Wiedergabe des stimmhaften s-Lautes zu reservieren. (S. 30; meine Hervorhebung, H.J.)

Woraus man ersieht, daß unsere Rechtschreibung eine gravierende Problemstelle hat, der nur mit Hilfe eines Notbehelfs beizukommen ist. Daß sich hinter ß tatsächlich zwei Schreibfälle verbergen, hat noch niemand so klar herausgestellt. Die Adelungsche Lösung hat das Gewicht der Tradition auf ihrer Seite, aber Heyses Vorschlag ist nicht unvernünftig, und den Verzicht der Schweizer auf unser Notbehelfs-ß muß man ja wohl auch respektieren. Der ganze Streit wäre überflüssig, wenn nicht so viele Wörter betroffen wären. Früher konnte man leicht einen in der Schweiz gedruckten Text identifizieren, heute geht es mit Texten in reformierter Schreibweise ebenso - nur auf der Grundlage von ss/ß. Häufig vorkommende Schreibweisen bestimmen jedoch die Physiognomie eines Textes, und diese wiederum ist ein Epochencharakteristikum. Wer sich für jung und innovativ hält, gibt sich heute durch dass und muss zu erkennen. Hier könnte tatsächlich der natürliche Alterungsprozeß in der Schreibgemeinschaft den Schreibgebrauch auf Dauer verändern. Uns bleibt aber immer noch genug zu bekämpfen, was 1996 wider alle menschliche Vernunft verbogen wurde. Respektieren muß man jedoch in jedem Falle die freie Wahl der einzelnen Schreiber. Das sind wir dem demokratischen Grundkonsens einfach schuldig.


Kommentar von R. M., verfaßt am 08.04.2006 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3870

Daß sich hinter ß tatsächlich zwei Schreibfälle verbergen, hat noch niemand so klar herausgestellt.
Schon Adelung war auf diesem Kenntnisstand. – Übrigens ist mir nicht klar, was ein geschwänztes s sein soll. Das s der lateinischen Schreibschrift?


Kommentar von tk, verfaßt am 08.04.2006 um 13.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3871

... aber Heyses Vorschlag ist nicht unvernünftig... ­– Aus Sicht des Schreibers vielleicht nicht (obwohl ich das nicht glaube), aus Sicht des Lesers schon.

... und den Verzicht der Schweizer auf unser Notbehelfs-ß muß man ja wohl auch respektieren. – Wer hat eigentlich vor siebzig Jahren auf das ß verzichtet: „die“ Schweizer oder das Schweizer Pendant zu unseren Kultusministern?


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 08.04.2006 um 14.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3873

Herr Fleischhauer und Herr Wrase sind zu beglückwünschen. Der eine kann sich probehalber den "Geßlerhut" aufsetzen, ohne daß der andere (oder sonst jemand hier) sich gereizt fühlt, ihm diesen sogleich vom Kopf zu schlagen, und der andere reagiert auf den Vorwurf der Zirkularität nicht mit dem Gesprächsabbruch, der mit diesem Vorwurf in der Regel eingeleitet wird, sondern präzisiert die Prämissen seines Schlusses. Um den Rechtschreibfrieden zwischen beiden muß man sich keine Sorgen machen.

Anders sieht es bei den Äußerungen von Frau Kaiser aus. Der Schlüssel zum Verständnis ihrer zwei Texte liegt in der Passage, in der sie zustimmend aus einer Diplomarbeit zitiert: "Ihre [der FAZ] Berichterstattungsbasis sind nicht länger zu beobachtende Ereignisse, sondern selbst geschaffene Fakten. Ein Bericht wird so indirekt zum Kommentar; ein Artikel über die neue Rechtschreibung kann nur schwer wertfrei gelesen werden, wenn er nach alten Regeln verfasst wurde." Das spielt natürlich polemisch über die von der seriösen Presse angelsächsischer Schule hochgehaltene strenge Trennung zwischen Bericht und Kommentar.

Bemerkenswert ist jedoch etwas anderes, und nicht einmal so sehr die offenkundige Dummheit oder wenigstens Selbstblindheit, mit der die zitierte Autorin und Ulrike Kaiser die Umkehrbarkeit des Arguments übersehen. Hier wird die eigene Position selbst zur Begründung eines Erkenntnisprivilegs herangezogen, das wiederum diese Position rechtfertigen soll: Wer nach "alten Regeln" schreibt, mit dem ist kein wertfreies (an der Geltung von Tatsachen orientiertes) Gespräch möglich.

Der zugrundeliegende Topos ist ideologiekritischer Provenienz und von seiner Struktur her totalitär. Etwas wertfreier ausgedrückt: Das ist die Semantik totaler Feindschaft, in der es mit dem Gegner keinerlei Gemeinsamkeiten gibt – in diesem Fall nicht einmal mehr eine gemeinsame Sprache, in der man sich über die Natur der Differenzen verständigen könnte.

Die Darbietung von Frau Kaiser als flügelschlagender "Friedensengel" hat jenseits des Grotesken und Lächerlichen auch einen bedrohlichen Zug. Vor allem zeigt sie wider Willen, und das ist das einzig Erfreuliche, wie treffend das Wort vom "Diktatfrieden" ist.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 08.04.2006 um 16.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3874

Lieber Herr Jochems,

Woraus man ersieht, daß unsere Rechtschreibung eine gravierende Problemstelle hat, der nur mit Hilfe eines Notbehelfs beizukommen ist.

Eine solche Feststellung bauscht ein Charakteristikum des Deutschen, das jahrhundertealt ist, unnötigerweise zum schier unüberwindlichen Problem auf. Wenn tatsächlich ein solch gravierendes Problem existiert hätte, wären Schreiber im Laufe der Jahrhunderte, zumal in Zeiten ohne normierte Orthographie, vermutlich darauf gekommen, eine andere Lösung zu finden. Sie taten es nicht, sondern entschieden sich für den "Notbehelf". Dies hat man zunächst einmal zu akzeptieren. Im übrigen erinnert mich diese Argumentation wiederum an die Reformer, die einen Notstand ausriefen, wo keiner existierte.

Daß sich hinter ß tatsächlich zwei Schreibfälle verbergen, hat noch niemand so klar herausgestellt.

Die sich daraus ergebenden Folgerungen sind mir nicht klar. Wo ist das Problem?

Die Adelungsche Lösung hat das Gewicht der Tradition auf ihrer Seite, aber Heyses Vorschlag ist nicht unvernünftig, und den Verzicht der Schweizer auf unser Notbehelfs-ß muß man ja wohl auch respektieren.

Sicher, wer tut das nicht?

Wer sich für jung und innovativ hält, gibt sich heute durch dass und muss zu erkennen.

Selbst wenn das wahr wäre, was ich bezweifle, könnte man dem entgegenhalten, daß viele derjenigen, die sich für "jung und innovativ" halten, häufig auch ein kaum verständliches Denglisch pflegen. Muß man es deshalb für gut halten oder gar für den Schulunterricht verbindlich machen?

Respektieren muß man jedoch in jedem Falle die freie Wahl der einzelnen Schreiber. Das sind wir dem demokratischen Grundkonsens einfach schuldig.

Dem widerspreche ich nicht, aber das muß in beide Richtungen gehen. Wenn Heyse und Adelung tatsächlich gleichberechtigt nebeneinander und im Wettbewerb miteinander stehen dürften, würde man sehen, was sich durchsetzt. Doch wie der Artikel von Frau Kaiser zeigt, ist genau das nicht gewünscht. Herr Bärlein hat das Totalitäre in Frau Kaisers Argumentation zu Recht hervorgehoben. Solange Zeitungen, die sich nach Adelung richten, praktisch zu Staatsfeinden erklärt werden, ist ein demokratischer Grundkonsens nicht gegeben!


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.04.2006 um 16.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3875

Mit meiner populär gefaßten Darstellung wollte ich natürlich weder eine originelle Einsicht bieten, noch habe ich das deutsche ß als ein gravierendes Rechtschreibproblem darstellen wollen. Es ist im Gegenteil sehr leicht zu beherrschen. Gerade Ausländer haben mit dieser deutschen Besonderheit keine Schwierigkeiten gehabt; das kann ich nach drei Jahrzehnten Betätigung im Bereich Deutsch als Fremdsprache mit Bestimmtheit sagen.
Im übrigen möchte ich dafür plädieren, den Begriff der "Demokratie" aus der Beurteilung von Schreibweisen herauszuhalten. Wenn man "leichter" oder "undifferenzierter" meint, soll man es sagen; darüber läßt sich dann mit Gründen reden. Ich erinnere mich noch langer fruchtloserer Debatten über "demokratische" Musik usw. Pop ist nicht demokratischer als Klassik, höchstens "pandemischer", um es mal so auszudrücken. Fernsehen ist auch nicht demokratischer als Lesen, oder?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.04.2006 um 17.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3876

Lieber Herr Ickler, alle Ihre Arbeiten habe ich mit Gewinn gelesen. Angesichts der vielbeklagten Oberflächlichkeit der Rechtschreibdiskussion ist es eine wahre Freude, an Ihren Erkenntnissen teilhaben zu dürfen. Natürlich beurteile ich die deutsche ß-Tradition nicht anders als Sie. Daß sie aber eine "Schriftpeinlichkeit" verbirgt (wie ein Stenographietheoretiker in den zwanziger Jahren dergleichen nannte), muß man doch offen aussprechen dürfen.

Daß ich seit kurzem häufiger von "Demokratie" spreche, hat zwei Gründe. Mir mißfällt der Ton, in dem unter Kritikern der Rechtschreibreform seit einiger Zeit über staatliche Institutionen gesprochen wird. Sie sind wirklich nicht eine Beute von fragwürdigen Gestalten, die darin ihre Machtgelüste austoben. Über freie Wahlen haben wir die Möglichkeit, Remedur zu schaffen. Wenn die Mehrheitsentscheidungen nicht nach unseren Erwartungen ausfallen, müssen wir das respektieren. Das ist das Wesen der Demokratie. Letztere ist nicht identisch mit einer egalitären Gesellschaft, ist aber doch auf die gegenseitige Rücksichtnahme aller Beteiligten angewiesen. Rechtschreibung als Gemeinschaftsangelegenheit darf deshalb niemanden ausschließen.

Daß jetzt - auch mit Ihrer Hilfe - Lösungen gefunden werden, die unterschiedlichen Ansprüchen entgegenkommen, halte ich für gut. Die nach dem gewaltsamen Einbruch der angeblichen Reform sich nun allmählich herausbildende konsensfähige Rechtschreibung wird hoffentlich die Periode der staatlichen Bevormundung abschließen, die der demokratischen (in beiden Bedeutungen) Entwicklung hierzulande nicht förderlich war.


Kommentar von R. M., verfaßt am 08.04.2006 um 19.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3877

Die einzige ernsthaft demokratische Mehrheitsentscheidung in dieser Sache ist, wie jedermann hier erinnerlich, nur wenig hinter »unseren« Erwartungen zurückgeblieben.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 08.04.2006 um 20.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3878

Herr Ickler schrieb: Im übrigen möchte ich dafür plädieren, den Begriff der "Demokratie" aus der Beurteilung von Schreibweisen herauszuhalten. Wenn man "leichter" oder "undifferenzierter" meint, soll man es sagen.
Es gibt hier doch noch andere Aspekte, z.B. ästhetische. Gerade hier kann man nicht ohne Mehrheitsentscheidungen urteilen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.04.2006 um 22.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3879

Lieber Herr Markner, die SPD als Vorkämpferin für die Bürgerbeteiligung an der Gesetzgebung auf Länderebene hat sich mit der Aufhebung des Volksentscheids in Schleswig-Holstein einen Bärendienst erwiesen. Aber es war ja nicht nur die SPD, es waren alle Parteien. Ähnlich sieht die Situation in der KMK aus - eine Allparteienkoalition. Ich bin froh darüber, daß sich die Kritik an der Rechtschreibreform nicht gegen eine einzelne Partei richten kann.

Im übrigen leben wir nicht entfernt in einer Diktatur. Wir alle schreiben so weiter, wie wir es für richtig halten, und die bedeutendsten Schriftsteller tun es sogar öffentlich. Ich weiß von Insidern, daß es auch bei manchen Behörden nicht anders ist. Wie sich die F.A.Z. entscheidet, ist die alleinige Angelegenheit ihrer Redaktion und der Herausgeber. Die Leser können ihrerseits durch ihre Reaktion anzeigen, ob sie den eingeschlagenen Kurs billigen oder nicht. Bei der ZEIT hat die Rechtschreibreform keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten erzeugt. Ich habe zwar mein seit 1956 ununterbrochen fortgeführtes Abonnement 1998 gekündigt, was aber nur zum Teil mit Herrn Zimmers "Zeit-Schreibung" zu tun hatte. Ein solches Papierpaket mit flockig geschriebenen Riesenartikeln von geringer Informationsdichte wollte ich nicht mehr jeden Donnerstag im Briefkasten haben.

Ein Volk, das daran gewöhnt ist, den Staat als oberste Instanz in Rechtschreibdingen anzusehen, läßt sich wegen "schnäuzen" und "Quäntchen" nicht auf die Barrikaden bringen. Wir wissen inzwischen, daß das verbreitete Unbehagen über die nicht bis ins letzte beherrschbare Duden-Orthographie nicht unberechtigt war. Die ist nun vom Tisch, und nun sollten wir mit Ernst und Geduld dabei mitwirken, etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen. Die anachronistischen Rechtschreibreformer von 1996 haben die alte Form zerbrochen, ohne etwas Vernünftigeres vorzeigen zu können. Die Trümmer werden jetzt weggeräumt, aber in der Öffentlichkeit verlangt niemand die Rückkehr zum Dudenprivileg.

Unterdessen wird eifrig weiter geschrieben, gedruckt und gelesen, und niemand ist mit dem Schwebezustand unzufrieden. Es hat also keine Eile. Ein paar Lehren kennt man jetzt schon: Im Bereich der Univerbierungen sind einheitliche Schreibungen nur dann möglich, wenn sich die Zusammenschreibungen zu wirklichen Wörtern verfestigt haben. Das ist aber in den meisten Fällen nicht der Fall. Bei der Substantivierung wurde bisher von den Schreibern aus textsemantischen Gründen oft ein kontraintuitives Schreibverhalten verlangt. Das geht nur gut, wenn solche Fälle schon in der Schule verständlich erklärt werden. Wenn es trotzdem danebengeht, sollte man das hinnehmen.

Übrigens ist unsere Rechtschreibung die einzige in Europa, die in vielen Fällen außer der eigentlichen Schreibung auch die Kenntnis der speziellen Anwendungsbedingungen verlangt. Herr Wrase hat uns ja gerade ein Beispiel anhand seiner persönlichen Unterscheidung von "phantastisch" und "fantastisch" vorgeführt. Wenn solch eine Differenzierung sich nicht durch häufigen Gebrauch verfestigt hat, kann sie nicht bei den Lesern als bekannt vorausgesetzt werden. Macht ja auch nichts, man sollte nun vom Einheitlichkeitsfetischmus und vom unerträglichen deutschen "Fehler!"-Geschrei wegkommen.

In den letzten zehn Jahren haben wir Kritiker der Rechtschreibreform viel dazugelernt, vor allem dank der gründlichen Erläuterungen Professor Icklers. Nun sollten wir unser unter Schmerzen erworbenes Wissen in den Dienst der guten Sache stellen. Wäre ich nicht im fortgeschrittenen Greisenalter, würde ich mich mit Vergnügen an einen Runden Rechtschreibtisch mit Frau Ahnen, Frau Schavan und Frau Wolff setzen. Andere sollten es tun. Es geht doch um den Gemeinnutz.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 08.04.2006 um 22.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3880

Der Fehler mit der Vermischung der beiden ß-Arten ist passiert, als das Antiqua-Lang-s der von Paul Renner erfundenen Futura-Schrift in anderen Antiquaschriften nicht fortgesetzt wurde. Sonst gäbe es noch das eine ß als Buchstabenkombination aus Lang-s plus Rund-s für das Silbenende und das andere ß als Einzelbuchstaben. Schade, denn diese Markierung des Sibenendes hatte sich jahrhundertelang bewährt.


Kommentar von R. M., verfaßt am 08.04.2006 um 23.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3881

Das lange s ist in den westeuropäischen Sprachen schon um 1800 ungebräuchlich geworden. Diese ganzen Vorgänge, auch und gerade die um das ß, sind recht komplex und zudem schlecht erforscht. Ohnehin wird sich so bald keine Gelegenheit bieten, sie in einem typographisch-orthographischen Grundlagenkurs den drei Ministerinnen zu erläutern. Solange sich im ss der Anspruch des Staates auf die Verfügungsgewalt über die Schriftsprache manifestiert, kommt man mit Sachargumenten nicht weit. Das gilt für die Argumente beider Seiten – am ss hält man nicht fest, weil es besser ist, sondern weil man es so beschlossen hat und an diesem Beschluß nicht gerüttelt werden darf. Mit demokratischer Willensbildung im emphatischen Sinne hat das nicht viel zu tun, mit der gewöhnlichen Regierungspraxis in repräsentativdemokratisch verfaßten Staaten allerdings schon. Einschüchterungsversuche gegenüber der Presse und der Intelligenz sind überdies natürlich auch nichts, was diktatorischen Staaten und Regierungen vorbehalten wäre.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 09.04.2006 um 01.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3882

Lieber fortgeschrittener greisenalter Freund Jochems, Ihr Ton gefällt mir, und auch einiges von dem, was Sie in der Sache zum weiteren Fortschritt in der gegebenen Situation sagen, spricht mich — leider — an. Es geht Ihnen und auch mir ganz richtig um den Gemeinnutz.

Und ich verstehe Sie, wenn Ihnen "der Ton, in dem unter Kritikern der Rechtschreibreform seit einiger Zeit über staatliche Institutionen gesprochen wird" mißfällt. Aber wenn Sie meinen, sie seien "wirklich nicht eine Beute von fragwürdigen Gestalten, die darin ihre Machtgelüste austoben", da stimme ich Ihnen gerade wegen meines Verständnisses von einer demokratisch regierten Gemeinschaft nicht zu! Natürlich haben wir "[ü]ber freie Wahlen [...] die Möglichkeit, Remedur zu schaffen", aber leider nur einige kleine Remedur, und ich meine, *allen* Anfängen mieser Beeinflussung unseres Zusammenlebens ist zu wehren, sobald diese erkenntlich werden.
"Demokratie [...] ist aber doch auf die gegenseitige Rücksichtnahme aller Beteiligten angewiesen." Eben! Und wer sagt denn, daß Rechtsprozesse, wie sie gerade eben in den USA einigen Politikern ins Haus stehen (und wir wollen sehen, wie weit zu Recht!), in Deutschland doch völlig außer Frage stünden? Deutsche "Parteibuchkarrieristinnen" seien da von ganz anderem Schlag? Ja, bloß weil sie deutsche sind? Sie selbst geben zu: "Ein Staat, in dem die Philosophen regieren, ist dies freilich nicht." Und den kriegen wir auch nicht, trotz allen unseres Gezeters. Aber dann fragen Sie gleich: "Aber, Hand aufs Herz, möchten Sie in solch einem Staat leben?" Ja, lieber Herr Jochems, das möchte ich! Deshalb sind wir ja für die Demokratie, der schlechtesten aller Staatsformen mit Ausnahme aller anderen! Wir erreichen zwar unsere Leitsterne niemals, aber wir richten unseren Kurs nach ihnen! Und wenn unser Staat schon nicht von Philosophen regiert wird, — in den deutschen Kultusministerien erwartete ich schon etwas mehr Wissen und Weisheit von vornherein! Nicht mal der Sache hier anständiges Wissen war aber bei dieser besonderen KMK-"Allparteienkoalition" vorhanden! Was für Leute werden denn für diese Ministerposten von den gewählten Machthabenden ernannt? Gibt es dafür denn keine besseren Leute?
Anders als Sie bin ich nicht "froh darüber, daß sich die Kritik an der Rechtschreibreform nicht gegen eine einzelne Partei richten kann." Könnte man das wenigstens, dann wäre doch nach demokratischen Gepflogenheiten dem ganzen Krampf eine weit mehr öffentliche Diskussion zur Sache vorausgegangen! Statt dessen hören wir die Verantwortlichen nur von "Staatsraison" und Erleichterung und Rechtschreibfrieden herumreden, — und nicht nicht einmal "Staatsraison" ist hier richtig verstanden! Sie sagen, Sie würden sich "mit Vergnügen an einen Runden Rechtschreibtisch mit Frau Ahnen, Frau Schavan und Frau Wolff setzen", aber Ihr fortgeschrittenes Greisenalter hindere Sie daran. Das ist doch ganz falsch. "Frau Ahnen, Frau Schavan und Frau Wolff" würden sich nämlich nie mit Ihnen "an einen Runden Rechtschreibtisch" setzen. Deren innere Sehnsüchte sind nämlich auf etwas ganz anderes ausgerichtet. Ickler, der ja auch sehr viel zur Verschriftung des Deutschen weiß und auch weiß, wie man der gegenwärtigen Misere abhelfen könnte, ist offenbar noch etwas jünger als Sie; und warum kann der sich nicht "mit Vergnügen an einen Runden Rechtschreibtisch mit Frau Ahnen, Frau Schavan und Frau Wolff" setzen? Jedenfalls doch nicht, weil er etwa gegen den Gemeinnutz wäre. So sieht der mir jedenfalls nicht aus.

Und warum bin ich so erregt? "Wir alle schreiben [doch] so weiter, wie wir es für richtig halten," oder? Mir geht es nicht um mich, sondern darum, was in den Schulen gelehrt wird, darum, was Lehrer lehren müssen und was Kinder lernen müssen. Mir geht es darum, daß in den Regierungsämtern sauber und kompetent gearbeitet wird.
"Unterdessen wird eifrig weiter geschrieben, gedruckt und gelesen, und niemand ist mit dem Schwebezustand unzufrieden." Doch, ich bin dieser niemand; ich bin mit *diesem* Schwebezustand sehr unzufrieden.
"Es hat also keine Eile." Doch, es hat Eile! Bevor meine Kinder ganz erwachsen sind und bevor vieles Geld für Unsinn ausgegeben wird (nur z. B. zur Neuanschaffung von Büchern für Schulbibliotheken, hören Sie da doch einmal genau hin; es geht durchaus um große Summen, wenn auch nicht so große wie bei Straßenbau und Rüstung; trotzdem fragt sich der verantwortungsbewußte Staatsbürger also besorgt: Wem nützt das eigentlich?), sollten wir uns wenigstens genau ansehen, mit wem wir uns da an den Runden Rechtschreibtisch setzen. Es ist nämlich kein Vergnügen mit Leuten zu reden, die gar nicht wissen, wovon sie reden, und gar nicht wissen wollen, wovon Sie reden, weil sie ganz andere Sachen im Kopfe haben.

Das wollte ich nur gesagt haben, lieber Freund Jochems, bevor's weitergeht. Aber wie schon anfangs zugegeben: Natürlich haben Sie leider recht.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 09.04.2006 um 03.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3883

Zur Demokratie

Ausgangspunkt waren folgende Bemerkungen:

Professor Jochems: Respektieren muß man jedoch in jedem Falle die freie Wahl der einzelnen Schreiber. Das sind wir dem demokratischen Grundkonsens einfach schuldig.
Chr. Schäfer: Solange Zeitungen, die sich nach Adelung richten, praktisch zu Staatsfeinden erklärt werden, ist ein demokratischer Grundkonsens nicht gegeben!

Zunächst einmal sind wir uns doch einig, daß mit der Rechtschreibreform sehr wohl die Demokratie beschädigt wird. Darauf haben inzwischen Herr Fleischhauer und Herr Markner deutlich hingewiesen.

Zur Demokratie gehört zum Beispiel auch, was im ersten der beiden Zitate steht, denn natürlich sollten in einer Demokratie und überhaupt Menschen frei sein, so zu denken, zu reden und auch zu schreiben, wie sie es wollen. Daß sie gezwungen werden, sich von bisherigen Gewohnheiten in Sprache und Schrift zu verabschieden, ist ein Markenzeichen von Diktaturen, die eine bestimmte Volksgruppe oder auch gleich das ganze Volk seines Selbstbewußtseins berauben wollen. Überall im Land wird nun dieser staatlich angeordnete Zwang ausgeübt und weitergereicht. Darauf weist doch Professor Ickler selber hin, der die durchgreifende Gängelung von Autoren durch Verlage beklagt, oder Chr. Schäfer im zweiten Zitat oben. Also, wieso sollte hier nicht davon geredet werden, daß dies alles die Demokratie beschädigt? Das Problem ist doch gerade, daß zwar nicht alle, aber viele mittlerweile nicht mehr so schreiben, ja nicht einmal mehr so lesen können, wie sie es möchten. Einmal abgesehen davon, daß zur Demokratie nicht nur eine Regierung, sondern auch ein Wille des Volkes gehört, und es tut dem Volk überhaupt nicht gut, wenn es durch die Regierung in einen Dauerzustand der Auseinandersetzung hineingezwungen wird, nachdem sein Wille ursprünglich klar und einträchtig auf der Hand lag.

Daraufhin Professor Ickler jedoch: Im übrigen möchte ich dafür plädieren, den Begriff der "Demokratie" aus der Beurteilung von Schreibweisen herauszuhalten.

Das könnte ich unterschreiben, wenn es nur darum ginge, ob Potenzial oder Potential demokratischer sei. Aber es geht um viel größere Dinge als um einzelne Schreibweisen, nämlich daß das Volk hier in sprachlichen Dingen unerträglich bevormundet, geradezu unterdrückt wird, und das ausgerechnet in einer angeblichen Demokratie. Überhaupt nicht nachvollziehen kann ich deshalb, daß dann Professor Jochems sich gegen die Kritik daran richtete und eine Lanze für unsere "demokratischen" Politiker brach:

Mir mißfällt der Ton, in dem unter Kritikern der Rechtschreibreform seit einiger Zeit über staatliche Institutionen gesprochen wird. Sie sind wirklich nicht eine Beute von fragwürdigen Gestalten, die darin ihre Machtgelüste austoben. Über freie Wahlen haben wir die Möglichkeit, Remedur zu schaffen. Wenn die Mehrheitsentscheidungen nicht nach unseren Erwartungen ausfallen, müssen wir das respektieren. Das ist das Wesen der Demokratie.

Meine Meinung ist genau umgekehrt: Die Kritik an den staatlichen Institutionen ist viel zu schwach und zu milde, sie kann gar nicht heftig genug sein. Die staatlichen Institutionen sind eine Beute von fragwürdigen Gestalten, die ihre Machtgelüste austoben. Über freie Wahlen haben wir keine Möglichkeit, Remedur zu schaffen. Daß Mehrheitsentscheidungen gar nicht erst herbeigeführt und, wo sie mühsam erkämpft wurden, einfach mißachtet werden, dürfen wir keinesfalls hinnehmen. Wir können bei der Rechschreibreform überhaupt nicht mehr von einer Demokratie reden. Sie wurde abgeschafft.

Somit stimme ich dem zu, was zuletzt Herr Markner und Herr Ludwig geschrieben haben. Ich möchte das noch ein wenig systematisieren.

Demokratie besteht nicht nur oder nicht notwendigerweise in demokratischen Institutionen. Sie sind nur ein Gerüst, das sie ermöglichen soll. Sie besteht aber letztlich darin, daß der Wille des Volkes die Politik bestimmt (siehe Grundgesetz, Kernaussage). Im Zweifel könnte man sich darüber streiten, ob doch einmal Politik gegen den Willen des Volkes ausgeübt werden muß, nämlich dann, wenn die Regierung besser weiß als die Mehrheit im Volk, was zu dessen Nutzen gut ist und Schaden von ihm abwendet. In diesen Konflikt geraten wir aber hier nicht, denn es stimmt alles überein: Das Volk war und ist mehrheitlich gegen die Rechtschreibreform, sein Wille wäre es noch immer, sie einfach abzuschaffen; und tatsächlich ist diese Reform nicht zum Nutzen des Volkes, sondern sie schadet uns allen. Also wäre es das Selbstverständlichste in einer Demokratie gewesen, daß die Reform gar nicht erst eingeführt worden wäre, und es wäre selbstverständlich – wenn wir in einer Demokratie lebten, die den Namen verdient –, daß diese schädliche, unerwünschte Reform abgeschafft wird: 2006 ebenso wie 1996.

Wie können wir da noch behaupten, in einer Demokratie zu leben? Das tut jemand, der nur noch auf das Gerüst sieht, auf die Institutionen. Aber darauf kommt es nicht an. Ein Alleinherrscher könnte viel demokratischer handeln als alle unsere Politiker und Institutionen zusammen, als jede einzelne von ihnen. Im Zweifel oder im allgemeinen sind mir (vermutlich uns allen) natürlich demokratische Institutionen lieber als ein Alleinherrscher oder eine Herrschaft einer nicht gewählten Gruppe von Mächtigen, denn im Fall der reinen Machtdemonstration anstelle vernünftiger Politik wird der Schaden des Volkes durch demokratische Strukturen noch einigermaßen in Grenzen gehalten.

Es kommt aber nicht auf das bloße Vorhandensein des institutionellen Rüstzeugs an, es muß auch mit dem richtigen Geist gefüllt sein. Sonst wäre es ja egal, wer in der Politik ist und was er entscheidet, nachdem er nur einmal aufgrund von Parteiwahlen in den Gefilden der Macht gelandet ist. Auf die Politik selbst kommt es also an in dieser Frage. Und? Von Demokratie keine Spur. Die Politiker haben sich gegen das Volk verschworen und versuchen nun schon zehn Jahre lang mit aller Gewalt, mit List und Tücke und schamloser Propaganda, den Mehrheitswillen des Volkes zu bekämpfen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 09.04.2006 um 09.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3884

Liebe Freunde, den Volksentscheid in Schleswig-Holstein hat die Peilsche Liste entschieden. Sie erwischte die Reformer und die Reformbefürworter auf dem falschen Fuß, schlimmer noch: sie hatten im entscheidenden Augenblick keinen eigenen Stephanus Peil, der die Gegenrechnung in Form einer Liste von Dudenabsurditäten aufgemacht hätte. Die Rechtschreibreform war der Versuch, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Die Auseinandersetzung mit ihr wurde verständlicherweise sehr lautstark, aber auch diffus geführt. Die eigentliche konstruktive Arbeit hat in aller Stille Professor Ickler geleistet. Wenn die Geschichte gerecht ist, wird er in der Schreibgemeinschaft als der langersehnte behutsame Reformer Anerkennung finden. Der Streit geht doch überhaupt nicht um die deutschen Rechtschreibung als ganzes. Problembereiche gab und gibt es lediglich in der Getrennt- und Zusammenschreibung und in der Groß- und Kleinschreibung. In beiden Fällen sind die Lösungsvorschläge Professor Icklers überzeugend. In der GZS sind sie unter falschem Namen jetzt Teil der amtlichen Regelung, die GKS wird im nächsten Schub folgen. Professor Icklers Leistung ist die Anerkennung der Unregulierbarkeit der für unsere Sprache charakteristischen Verbzusatzkonstruktionen, dies verbunden mit Empfehlungen, die niemanden zu verängstigen brauchen. Die komplizierte Handhabung der Substantivierung hat er entrümpelt, den Kernbestand jedoch neu erklärt und dadurch annehmbar gemacht. Nun sage niemand, bei ss/ß sei er aber ein standhafter Verteidiger des Traditionellen. Dieser Aspekt unserer Rechtschreibung ist den Sprachwissenschaftlern wie den Praktikern entglitten. Wie es hier weitergehen wird, entscheidet die Schreibgemeinschaft - auch ohne Volksentscheid. Was nun die Kritik an den staatlichen Institutionen und an den darin agierenden Personen angeht, sollte man die Proportionen sehen. Von Internetforen geht kein Staatsstreich aus, sie haben eher eine sozialtherapeutische Funktion. Dies alles ermutigt mich, hoffnungsfroh nach vorn zu schauen.


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 09.04.2006 um 09.25 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3885

Es ist ein so grandioser Sieg. Ihr könnt später den Enkeln sagen: Wir waren dabei“, sagte Rüttgers. Die CDU erreichte bei der Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland ihr bestes Ergebnis seit 30 Jahren. (SVZ 23. 05.05)

Die CDU hatte 44,8 Prozent der Stimmen erhalten. Die Erschütterungen reichten bis Berlin. Der Bundeskanzler kündigte die Vertrauensfrage an das ganze Volk an.

Der glanzvolle Sieg der Bürgerinitiative ….“ schrieb am 29.9.1998 die Süddeutsche Zeitung zur Abstimmung gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein.

Der „grandiose Sieg“ der CDU nimmt sich dagegen vergleichsweise kümmerlich aus: Für die traditionelle Rechtschreibung stimmten damals 56,4 Prozent und gegen die „Rechtschreibreform“ der Regierung zusammen 70,9 Prozent der Wähler. Das war das demokratische Aus für die „Reform“. Zumindest hätte in bundesweiten Abstimmungen in dieser Hinsicht die Vertrauensfrage gestellt werden müssen.

Aber was geschieht? In SH wird die Bildungsministerin Böhrk durch die geschicktere Reformdurchsetzerin Erdsiek-Rave ersetzt, 10000 fehlerhafte Neuschreiblexika werden von Bertelsmann in die Schulen entsorgt, um den Volksentscheid zu unterminieren, Müntefering, („sollte ein Land ausscheren, wäre die Reform gescheitert“) macht sich unsichtbar – und Kultusminister und Ministerpräsidenten verabreden hinter vorgehaltener Hand, das Volk nicht zu beachten und stur Heil auf „Reform“-Kurs weiterzumarschieren.

Schließlich bereitet der schleswig-holsteinische Innenminister Wienholtz die Übernahme der Reform in die Ämter vor, so daß die Schüler mit ihrer „alten“ Rechtschreibung noch nicht einmal in den landeseigenen Behörden etwas werden können, und erpreßt damit den Umfall der CDU in der Rechtschreibfrage. In der Landtagssitzung klopft er sich für diese Trickserei gegen das Volk auch noch selbstgefällig auf die Schulter: „Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden interfraktionellen Gesetzentwurf zur Änderung des Schulgesetzes können Schul- und Amtssprache in inhaltlichem und zeitlichem Gleichklang weiterentwickelt werden. Ich freue mich, daß ich mit meinem Erlaßentwurf zur Amtssprache kurz vor der Sommerpause dazu mit einen Anstoß geben konnte.

Die Folge war, daß Frau Erdsiek-Rave nichts Eiligeres zu tun hatte, als die 96er „Rechtschreibreform“ für die Schulen wieder in Kraft zu setzen, um die Schüler weiterhin zur traditionsfeindlichen, bis zu 22 Prozent fehlerträchtigeren ss-Regel zu indoktrinieren und ihnen weitere sieben Jahre lang das falsche „du kannst mir Leid tun“ einzuhämmern, das erst jetzt grandios gescheitert ist. Bei solch einem demokratischen und sachlichen Versagen würde jeder andere Minister mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt werden. Frau Erdsiek-Rave nimmt nun aber als Präsidentin der KMK den zweifelhaften Ruhm für sich in Anspruch, einer neuen Einheit in der Rechtschreibung zum Durchbruch verholfen zu haben – ohne die große literarische Vergangenheit und Gegenwart.

Unter solchen Bedingungen wird das Volk niemals in Wahlen Einfluß auf die „Rechtschreibreform“ nehmen können. Es wird ja noch nicht einmal in den Wundertüten der Parteiprogramme ein Wort dazu verloren. Aber fast jede Partei hat in irgendeinem Bundesland ihre Reformleiche im Keller liegen, so daß dort nicht das geringste Interesse besteht, ein eigenes Unrechtsbewußtsein zu entwickeln.

Ich glaube übrigens nicht, daß die Peilsche Liste den Volksentscheid entschieden hat. Vielmehr war es das natürliche Empfinden im Volk, daß hier ein großer bürokratischer Unfug betrieben wird. Jeder gestandene Geschäftsmann, bei dem Unterschriftenlisten ausgelegt werden durften, hat das bestätigt.



Kommentar von Germanist, verfaßt am 09.04.2006 um 09.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3887

Wenn alle Parteien das Volk entmündigen, hilft es nichts, zu wählen. Deswegen geht die Wahlbeteiligung immer weiter zurück. Die Leute sagen mit Recht: Die wollen nur unsere Stimme, aber nicht unsere Meinung.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 09.04.2006 um 10.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3888

Man kommt vielleicht weiter, wenn man den Inhalt der Rechtschreibreform und überhaupt Fragen der Normierung und Kodifizierung trennt von dem Verfahren, mit dem gerade diese Reform eingeführt wurde. Sonst besteht die Gefahr, den Begriff der Demokratie so auszuweiten, daß er für alles und jedes, also für gar nichts mehr, taugt. Wir sind uns sicher einig, daß die
"Durchsetzung" alles andere als demokratisch und ein diktatorischer Akt war. Aber da muß man schon wieder einschränken: Es ging um die Etablierung einer veränderten Orthographie in den Schulen, nicht mehr und nicht weniger. Dem Bürger wird bis heute nicht staatlich vorgeschrieben, wie er zu schreiben hat. Das BVG hat entschieden, daß es keines besonderen Gesetzes bedurfte. Mir persönlich wäre es übrigens egal, ob da parlamentarisch abgestimmt worden wäre. Ich will den Staat überhaupt nicht mit der Regelung der Rechtschreibung befaßt sehen. Die Reform wäre wohl kein bißchen besser geworden, wenn sachunkundige Abgeordnete sie beschlossen hätten. - Daß nun so viele sich in ihren "demokratischen" Rechten, sprich im freien Gebrauch ihrer Sprache, verletzt sehen, ist verständlich und gibt Anlaß zu Empörung und auch Sorge für die Zukunft. Die Mißachtung des Volksentscheids in Schleswig-Holstein war ein Skandal ersten Ranges. Die richtige Folgerung daraus kann nur sein, daß in der Verfassung Vorkehrung getroffen wird für künftige Fälle. Der Landtag hat kein Gesetz verletzt, allerdings der politischen Kultur immens geschadet. - Was ich sagen möchte, ist: Man sollte die Argumentationsebenen nicht vermischen, wenn man ernst genommen werden möchte. Prof. Ickler hat es ja erst kürzlich in einem Beitrag demonstriert, als er aufzählte, warum wir gegen die Reform sind. Das ist von Zeit zu Zeit einfach nötig. Denn man muß wissen, wo der Hebel anzustzen ist, wenn man etwas bewegen will. Und zum Schluß: Von Philosophen regiert zu werden, ist sicher die schlimmste Horrorvorstellung.



Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 09.04.2006 um 11.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3890

Und zum Schluß: Von Philosophen regiert zu werden, ist sicher die schlimmste Horrorvorstellung.

Können Sie uns erklären, wie Sie das meinen, lieber Kratzbaum? Ich sage Ihnen mal, was mir dazu einfiel, damit Sie sich vorstellen können, was so eine Bemerkung beim Leser vielleicht auslöst. Meine Gedanken entwickelten sich ungefähr so:

So ein Quatsch! Was soll denn das nun wieder? Das ist sicher nur eine persönliche Pointe, um sich irgendwie interessant zu machen. Man sagt etwas Ungewöhnliches, um sich zu profilieren ... Aber Kratzbaum ist doch sehr ernsthaft, irgendwas muß er damit meinen ... Wahrscheinlich meint er Regierende, die nur Philosophen sind und keine Verwaltungsfachleute oder Juristen. Die sich in irgendwelchen theoretischen Sphären bewegen und von den wirklichen Bedürfnissen keine Ahnung haben oder vom politischen Handwerk ... Aber Moment mal, ist das nicht genau bei der Rechtschreibreform der Fall: eine abgehobene Idee irgendwelcher Theoretiker, die von den wirklichen Problemen überhaupt keine Ahnung haben? ... Und Moment mal, ist es nicht so, daß gerade hier unsere Politiker sich einmütig und entschlossen wie für kein anderes Projekt eingesetzt haben? ... Ist es nicht so, daß wir immer solche Philosophen als Regierungen haben? Mit lauter schönen Ideen: Europa wird vereinigt, wir sind alle ausländerfreundlich, keiner darf vom medizinischen Fortschritt ausgeschlossen werden, die Industrie muß durch niedrige Steuern beflügelt werden usw. Und was kommt heraus? Systeme am Rand des Zusammenbrechens, kaum jemand glaubt noch daran, daß die Probleme noch bewältigt werden können ... Ja, könnte sein, daß Kratzbaum recht hat. Aber das hat er wahrscheinlich nicht so gemeint, sondern als Konjunktiv. Aber was hat er dann gemeint?


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 09.04.2006 um 11.48 Uhr   Mail an
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Der Landtag hat kein Gesetz verletzt, allerdings der politischen Kultur immens geschadet.

Das ist keineswegs gesichert. Eine Überprüfung wurde durch eine (bewußte?) Fehlkonstruktion der schleswig-holsteinischen Verfassung verhindert. Am 26.1. 2006 schrieb Dr. Ulrich Kliegis in einem Leserbrief an die Kieler Nachrichten zum Vorhaben, endlich in Lübeck ein Landesverfassungsgericht einzurichten:

Daß Schleswig-Holstein -als letztes Bundesland - nun auch ein eigenes Landesverfassungsgericht bekommen soll, ist zu begrüßen. Der Koalitionsvertrag sagt aber nichts darüber aus, ob den Schleswig-Holsteinern damit einhergehend nun endlich auch das Recht zur Landesverfassungsbeschwerde gegeben werden soll - bisher haben sie es nämlich, anders als die meisten anderen Bundesbürger, nicht. Mein im Jahr 1999 unternommener Versuch, die damals vom Landtag einstimmig beschlossene Aufhebung des erfolgreichen Volksentscheids von 1998 gegen die Einführung der Rechtschreibreform an unseren Schulen vom Bundesverfassungsgericht in seiner Eigenschaft als schleswigholsteinisches Landesverfassungsgericht auf seine Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen, scheiterte 2001 schließlich daran, daß es dem einzelnen Bürger in unserem Bundesland bislang verwehrt ist, eine Landesverfassungsbeschwerde zu erheben. Daher lehnte das Gericht schon die Annahme des Antrags ab. Nur in der Gewißheit dieses Schutzes konnten die Abgeordneten damals wohl so entscheiden. Hoffentlich haben sie jetzt den Mut, den Bürgerinnen und Bürgern des Landes den Weg zum einzurichtenden Landesverfassungsgericht zu öffnen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 09.04.2006 um 12.15 Uhr  
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Lieber Herr Salzburg, obwohl es der Schnee von gestern ist, sollten wir uns in bezug auf die blamablen Umstände der Aufhebung des schleswig-holsteinischen Volksentscheids doch an die Fakten halten. Eine kurze Meldung aus den Kieler Nachrichten vom 14.7.1999 hilft hier weiter:

Schleswig-Holsteins CDU macht nach der Kehrtwende bei der Rechtschreibreform Druck zur Einführung des neuen Regelwerks an den Schulen.
Anders als Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) sehe die Union „keine rechtlichen Probleme", den erfolgreichen Volksentscheid gegen die Reform bereits im September per Gesetz wieder einzusammeln, sagte Generalsekretär Johann Wadephul gestern in Kiel. Der Parteivorstand hatte am Vorabend die von der Landtagsfraktion eingeleitete Wende in dieser Frage einstimmig abgesegnet.
Als einziges Bundesland wird aufgrund des Volksentscheids gegen die Reform vom 27. September 1998 nach den alten Schreibregeln unterrichtet. „Wir waren auf dem Weg nach Absurdistan", sagte CDU-Spitzenkandidat Volker Rühe, der den Schwenk seiner Partei mit dem „Wohl der Kinder" und einem Erlaß des Innenministers begründete. Daß andere Bundesländer dem Vorbild Schleswig-Holstein nicht folgen würden, war nach Darstellung von CDU-Oppositionsführer Martin Kayenburg nicht absehbar.
Kritik an der CDU-Wende kam unterdessen auch aus den eigenen Reihen. Der Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) warf der Landtagsfraktion vor, die Parteibasis zu verraten. Die Schüler-Union forderte die Unionsfraktion auf, „auch im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit die Position nicht auf einmal zu wechseln." Die Landesregierung vertagte unterdessen gestern eine abschließende Entscheidung über die Einführung der reformierten Rechtschreibung in die Amtssprache.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 09.04.2006 um 12.17 Uhr  
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Der Fall „Rechtschreibreform“ zeigt doch auch den gutgläubigsten Bürgern, wie es realiter um Machtstruktur und –ausübung in unserer „Demokratie“ bestellt ist. Wer sich in das Thema vertiefen möchte – besonders unserem „lieben Freund“, Herrn Jochems, empfehle ich das – möge sich mit den Gedanken von Hans-Hermann Hoppe vertraut machen. Lesen Sie das Buch: „Demokratie, der Gott, der keiner ist.“ Edition Sonderwege bei Manuscriptum, 2. Auflage 2004, in klassischer Rechtschreibung! Hier erhält man die nötige Nachhilfe in Staatsbürgerkunde. Wenn Herr Jochems meint, Demokratie sei etwas, an dem das Volk teilhat, so ist das eigenartig naiv. Natürlich kann man einen Politiker durch die Vordertür abwählen. Er kommt aber verkleidet und als Kreidefresser durch die Hintertür wieder herein. Das Problematische an unserer Regierungsform ist, daß die Macht der Politiker in Wahrheit unkontrolliert wuchern kann und auch durch den Volkswillen nicht beschnitten wird. Alles geschieht aus Selbsterhalt, Selbstbedienung ist die Praxis. Bekommen wir das nicht täglich zu hören? Was bekannt wird, ist allerdings nur ein Zipfel des Eisberges.
Das beste Beispiel für Machtmißbrauch und Volksverachtung sind doch die Vorgänge in Schleswig-Holstein! Man muß schon die Augen fest vor diesem Umstand zumachen, um behaupten zu können, alles sei in Ordnung.

Kürzlich las ich das in einer klugen Zeitschrift: „Vertrauen ist in Fragen politischer Macht ruinös. Es ist ein Kredit ohne jede Chance auf Rückzahlung. Wer anderen Menschen Vertrauen schenkt, geht offenen Auges ein Wagnis ein. Er nimmt die Unwägbarkeit in Kauf und wettet darauf, daß der persönliche Vorschuß gerechtfertigt ist. Im Politischen hingegen ist Vertrauen pure Torheit.“ (David Schah)

Daß der gesamte Bibliotheksbestand deutscher Bücher durch die ss-Schreibung millionenfach entwertet, ja vernichtet wird, ist wohl das schlimmste Verbrechen der Rechtschreibreformbetreiber. Dafür gibt es überhaupt keine Entschuldigung. Natürlich werden sich die Menschen an das ss gewöhnen, man gewöhnt sich nicht nur an Besseres, sondern auch an Schlechtes. Und man kann sich auch an das Chaos gewöhnen. Ob wir die Reformschreibung akzeptieren können oder nicht, stellt sich daher nicht aus der Sicht der Gewöhnungsbedürftigkeit.
Selbst wenn wir im Austausch der Schreibweisen etwas Gleichwertiges bekommen hätten – was ja nicht der Fall ist – wäre die Reform abzulehnen, allein der Entwertung des Buchbestandes wegen. Daran muß immer wieder erinnert werden. Wem die ss-Schreibung gefällt, soll sie praktizieren. Ich habe nichts gegen ss-Schreiber. Es hätte jedoch nie soweit kommen dürfen, daß die Adelungsche ß-Schreibung an den Schulen „verboten“ wird. Das ist der eigentliche Skandal.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 09.04.2006 um 14.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3895

Lieber Herr Wrase, da müßte ich nun erst einmal wissen, wieso gerade Philosophen zur Regierungsherrschaft besonders geeignet sein sollen. Der Gedanke geht ja wohl auf Platon zurück. Jemand hat einmal gesagt, Philosophen sperrten die Menschheit statt in ein wirkliches Gefängnis in ein System ein. Nicht auszudenken, wenn sie reale Macht bekämen. Nein, ich möchte unter keiner Herrschaft leben, die einer reinen Lehre verpflichtet wäre, und sei es die edelste. So etwas endet immer in Unterdrückung, Verfolgung, Liquidation. Da sind mir unser pluralistischer Staat und seine Vertreter mit all ihren Mängeln, Schwächen, ihrer Borniertheit und ihrem Lavieren allemal lieber. - Herr Salzburg, wenn Sie genau lesen, habe ich ja gerade angemahnt, daß die Verfassung so geändert werden sollte, daß künftige Volksentscheide Vorrang gegenüber repräsentativ-demokratischen bekommen. Dazu würde dann auch die Einrichtung eines Verfassungsgerichtes (Staatsgerichtshofes) gehören.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 09.04.2006 um 15.42 Uhr  
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Alle reden von Platon, niemand von Marc Aurel. Platon war hauptberuflich Philosoph, nebenberuflich Politiker. Marc Aurel war hauptberuflich Kaiser, nebenberuflich Philosoph. Das funktionierte besser.


Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 09.04.2006 um 16.52 Uhr   Mail an
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Kieler Nachrichten v. 20 Juli 1998

Volksentscheid ohne Einfluß?
Trotz eines Neins: Schreibreform per Gesetz möglich
Kiel (Kad) Mit scharfer Kritik hat die CDU-Spitze in Schleswig-Holstein auf Überlegungen von Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) reagiert, den am 27. September anstehenden Volksentscheid zur Rechtschreibreform im Falle eines Erfolges mit einer gesetzlichen Gegeninitiative zu kontern. „Ein solcher Schritt wäre eine Mißachtung der Landesverfassung", sagte Martin Kayenburg, Chef der CDU-Fraktion im Kieler Landtag. Der Landesvorsitzende der Christdemokraten, Peter Kurt Würzbach, sprach von „einer Entmündigung der Bürger, die an Wahlmanipulation grenzt."

Simonis hatte in einem „Focus"-Interview an die Möglichkeiten des Gesetzgebers erinnert, das „per Volksentscheid zustandegekommene Gesetz durch ein neues zu korrigieren". Kayenburg wertete diese Äußerung als „klaren Versuchten Drive aus dem Volksentscheid zu nehmen". Die Ministerpräsidentin sei offenbar massiv bestrebt, das Wahlverhalten zum Nachteil der Reformgegner zu beeinflussen. „Das ist unfair und undemokratisch", sagte Kayenburg den Kieler Nachrichten.

Die CDU in Schleswig-Holstein stehe zu den plebeszitären Elementen der Landesverfassung. Man werde nicht kommentarlos zusehen, „daß Regierungsgefälligkeit zum Maßstab eines Volksentscheids gemacht wird". Damit würden die Ergebnisse „der Willkür der Mehrheitspartei ausgesetzt". Für ihn, Kayenburg, sei der Respekt vor einer demokratischen Entscheidung allemal wichtiger, als eine einheitliche, gleichzeitige Rechtschreibreform in ganz Deutschland. Würzbach kritisierte die Äußerung von Simonis als „anti- und vordemokratisch". Die gleiche Landesregierung, die die Einführung des Volksentscheids in Schleswig-Holstein „quasi als Geburt der Demokratie" gefeiert habe, versuche nun, einen solchen „durch die kalte Küche auszuhebeln.

Nach einer Umfrage des Münchner polis-Instituts lehnen 84 Prozent der Deutschen die Rechtschreibreform in der derzeitigen Form ab, 72 Prozent plädieren für einen bundesweiten Volksentscheid darüber. Während 57 Prozent der 1000 Befragten ganz gegen das neue Regelwerk sind, meinen 27 Prozent, es müsse noch einmal überarbeitet werden.

Während Kayenburg hier die Dreistigkeit der Ministerpräsidentin zum Vorwand nimmt, um ihr ans Schienbein zu treten und sich als Hüter der Verfassung in Szene zu setzen, hat er ein Jahr später mit Volker Rühe in einer Nacht- und Nebelaktion die Fronten gewechselt und seiner CDU die Kehrtwende verordnet, die nach Meinung vieler dem antiplebiszitären Charakter seiner Partei ohnehin mehr entspricht. Man hat in diesem Jahr auch nicht gehört, daß die Nord-CDU Verbindung mit anderen Landesverbänden aufgenommen hätte, um sie von ihrem einer konservativen Partei doch eigentlich unwürdigen Reformkurs abzubringen. Der ehrliche Würzbach, der noch länger Widerstand leistete, wurde anschließend entmachtet. Fazit: Für alle Parteien gilt gleichermaßen, „Euer Wille ist uns sch…egal“, wie die „taz“ am 19.9.99 titelte – nachdem auch sie sich in die Unterminierer der direkten Demokratie eingereiht hatte.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 09.04.2006 um 23.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3901

Helmut Jochems: In beiden Fällen sind die Lösungsvorschläge Professor Icklers überzeugend. In der GZS sind sie unter falschem Namen jetzt Teil der amtlichen Regelung, die GKS wird im nächsten Schub folgen.

Wenn dem wirklich so wäre, hätte Herr Ickler ja allen Grund gehabt, weiterhin im Rechtschreibrat zu verbleiben und mit Wohgefallen zu verfolgen, wie dieser seine orthographischen Vorstellungen unter dem Vorwand, der Reform »die schlimmsten Zähne zu ziehen« (Zehetmair) Schritt für Schritt in die amtliche Rechtschreibung überführt. Warum ist er dann wohl ausgetreten? Er hat dies auf diesen Seiten sehr deutlich und ausführlich begründet, und daß die geleistete oder noch zu erwartende Arbeit dieses Rechtschreibrats zu einer der deutschen Sprache angemessenen Orthographie führen könnte, kann auch mit noch so viel Besonnenheit und Mäßigung kaum jemand, der die Reformgeschichte verfolgt hat, im Ernst erwarten.


Prof. Jochems: Wie es hier weitergehen wird, entscheidet die Schreibgemeinschaft - auch ohne Volksentscheid.

Niemand anderes als die Schreibgemeinschaft hat auch, durch ihre Reaktion auf die Einführung der Rechtschreibreform, die Situation herbeigeführt, die wir jetzt haben.

Wären Ablehnung und Empörung in der Öffentlichkeit wirklich so groß, wie wir das wünschen oder sogar meinen, würde außerhalb der Schulen und Verwaltungen kaum irgendwo nach der neuen Rechtschreibung geschrieben und das Thema wäre damit in kürzester Zeit erledigt gewesen. Das heißt nichts anderes, als daß die Mehrheit die Reform zwar nicht mag, sie aber doch wiederum nicht so entsetzlich findet, daß sie auch nur das bißchen Eigeninitiative aufzubringen bereit wäre, sich ihr ganz einfach zu verweigern.

Da gibt es doch eigentlich keinen Vorwurf an die Politiker zu machen! Die wollten die Reform haben, vermutlich wußten sie selbst nicht, weshalb eigentlich, und wenn die Mehrheit zwar irgendwie »dagegen« ist, sich aber nicht effizient wehrt durch simple Verweigerung, sondern allenthalben großen Eifer zeigt, sich die in Wirklichkeit nicht begriffenen und eigentlich auch nicht erwünschten Neuerungen zu eigen zu machen, müssen die Politiker und Reformer sich doch ganz objektiv darin bestätigt sehen, etwas Richtiges getan zu haben. Daß die Informierteren und Kompetenteren die Reform permanent kritisieren, fällt dagegen kaum ins Gewicht, auf die kommt es ja auch nicht an, wenn man sich an strikt demokratischen Prinzipien orientiert. Intelligenz und Kompetenz findet sich in Mehrheiten sowieso so gut wie nie.

Das Prinzip der Demokratie unterstellt eben, daß »das Volk« zum einen informiert ist und sich zum anderen überhaupt für die Geschäfte der Politik und der Öffentlichkeit über die eigenen Privatinteressen hinaus intelligent interessiert und sich daran verantwortungsvoll beteiligen will. Das ist aber nicht der Fall, so daß das demokratische Prinzip, wie es die Aufklärung postulierte und wie es in einer intelligenteren, utopischen Gesellschaft vielleicht funktionieren könnte, ziemlich pervertiert ist. Damit sind auch alle Klagen über »undemokratische« Vorgänge verfehlt, da sie in der Regel nur bei denen laut werden, die sich von Fall zu Fall benachteiligt fühlen, und selten dem demokratische Prinzip als solchem gelten. Demokratien haben Staatslenker wie Bush, Berlusconi und andere fragwürdigen Gestalten frei »gewählt« - das ist doch wahrlich keine Empfehlung für das System!

Und im übrigen hat Rechtschreibung mit Demokratie so viel oder so wenig zu tun wie Molekularbiologie oder Astronomie. Sie ist wissenschaftlich in Ordnung oder sie ist es nicht. Ein vernünftiger Biologe oder Physiker würde nie nach mehr Demokratie rufen, wenn eine Regierung sich daran machen wollte, die Grundlagen der Physik ändern zu wollen, sondern anständigen Umgang mit der Wissenschaft einfordern: Und sie dreht sich eben doch!

Was anständiger Umgang mit der Wissenschaft ist, läßt sich aber in der Sprachwissenschaft möglicherweise so wenig eindeutig definieren wie in der Theologie. Da hatte in der Geschichte ja auch immer derjenige recht (oder Recht), der es mit den Mächtigsten am besten konnte. Nicht umsonst gehörte die Heilige Schrift mit ihren schönen Texten zu den ersten Werken, die mit einem riesigen Aufwand durch den Reformwolf gedreht worden sind, mit hanebüchenen Ergebnissen, die in strenggläubigeren Zeiten als Gotteslästerung geahndet worden wären.



Kommentar von R. M., verfaßt am 10.04.2006 um 02.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3902

Gewiß gibt es eine ganze Menge kritikwürdiger Beflissenheit, aber man muß schon auch die Umstände mitbedenken: zuvörderst die Verwendung der automatischen (in manchen Programmen unabstellbaren) Rechtschreibkorrektur usw., Anweisungen der Arbeitgeber, noch grundlegender die unhinterfragte Annahme, daß dem Staat die »Regelungsgewalt« in dieser Sache zukomme (keineswegs, wie oft behauptet, eine typisch deutsche Auffassung), ferner die hier bereits thematisierte Politik der beharrlichen Ignorierung einer vielfältig artikulierten Mehrheitsmeinung, von der ja vor allem das Signal ausgeht, daß Widerstand zwecklos ist. Wenn man sich das Jahr zwischen der offiziellen Reformeinführung und der Presseumstellung in Erinnerung ruft, kann von echtem Eifer kaum die Rede sein. Seinerzeit war die Reformschreibung – immerhin bis zu drei Jahre nach ihrer vorfristigen Einführung an den Schulen – in der Erwachsenenwelt praktisch inexistent. Eifer hat, soweit erinnerlich, damals bloß Die Woche an den Tag gelegt – sie ist dann noch vor Ausbruch der Pressekrise eingegangen, und ihr Chefredakteur hat nachträglich (im August 2004, es ging damals ein wenig unter) den Fehler eingestanden. Jetzt spürt man Eifer bei Frau Kaiser. Das ist psychologisch nicht schwer zu erklären und wohl kaum repräsentativ.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 10.04.2006 um 05.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3903

Zu #3895: "Im Politischen hingegen ist Vertrauen pure Torheit." David Schah, zitiert von Frau Pfeiffer-Stolz und von mir hier nochmal zitiert, weil ich mir Gedanken mache, weshalb letzten Grundes die Kultusminister so entschieden haben, wie sie so geschlossen und ohne Diskussion der Sache selbst entschieden haben, und wieso das Grundgesetz vorschreibt, daß Kultur Sache der einzelnen Länder sein soll.

Dazu auch eine Karikatur dieses Wochenende in *USA Today* (7. Apr. 06, S.13A):
Ein bärtiges, also schön dauerhaftes Mitglied des US-Kongresses ernst hinter seinem Schreibtisch am Telefon:
"Auch Hunderttausende von Demonstranten beeinflussen nicht meine Entscheidung zur Einwanderungsreform..." [zur Zeit in den USA ein heißes Thema],
und auf einem zweiten Bild der gleiche Abgeordnete mit erhobenem Zeigefinger und freundlich lächelnd: "Sagen Sie ihnen, sie sollen einen Lobby-Vertreter anheuern."

Und dazu kommt in Deutschland wohl auch, daß in der Politik, verglichen mit deren Verwaltung des wirklich großen öffentlichen Geldes, die Kultur bei allem großen Lippenbekenntnis doch nur eine lächerlich kleine Rolle spielt. Auch unser Freund Jochems rät uns: "Was nun die Kritik an den staatlichen Institutionen und an den darin agierenden Personen angeht, sollte man die Proportionen sehen." Genau das versuche ich, wenn ich auch etwas auf die Psyche dieser so entschieden handelnden Vorschreiber blicke. Jochems fühlt sich dabei "ermutigt [...], hoffnungsfroh nach vorn zu schauen." Ich bin nicht so sicher. Oder aber er meint, es kann doch nur noch aufwärtsgehen. Aber auch damit fühle ich mich nicht so sicher.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.04.2006 um 08.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3904

Respekt vor den Institutionen ist das eine, Kritik an den Amtsinhabern das andere. Es ist bekanntlich eine ständige Gefährdung der Demokratie, daß die Gewählten sich mehr und mehr ihrer eigenen Kaste zugehörig fühlen und im Wahlvolk nur noch Stimmvieh sehen, das für die nächste Wahl bei Laune gehalten werden muß. Der Abgeordnete gerät unter allerlei Einfluß, neben dem Eigeninteresse der politischen Klasse als solcher, die ja viele Privilegien genießt (und sie, nebenbei bemerkt, unter einer großen Koalition noch ausbauen kann).
Man muß nicht gleich das imperative Mandat fordern, um die Verselbständigung der Volksvertreter zu kritisieren, die ja im Gegenzug keineswegs ihrem "Gewissen" folgen, wie die übliche Beschwörungsformel will. Wie aufmüpfige Abgeordnete im deutschen Bundestag zur Räson gebracht wurden, ist noch in schlechter Erinnerung, ich habe Fälle wie Jelena Hoffmann und andere in meinem neuen Buch dokumentiert. Und dabei ging es nur um die Rechtschreibung! Die Partei- und Fraktionsvorsitzenden haben dennoch keine Mühe gescheut, jeden Widerstand zu ersticken.

Nehmen wir folgenden Fall. Aus dem bekannten Brief der BER-Vorsitzenden Renate Hendricks an KMK-Präsidenten Lemke vom 13.08.2000: „Die Eltern in der Bundesrepublik haben sich ehedem für ein baldiges Ende des Streits um die Rechtschreibung ausgesprochen und sehen auch jetzt keinerlei Veranlassung, sich mit dem eher peripheren Thema "Rechtschreibung" erneut auseinander zu setzen. Die jetzige Diskussion wird von den meisten Eltern kaum verstanden, da ihre Kinder seit nunmehr fünf Jahren ohne Probleme und mit gutem Erfolg die neue Rechtschreibung in den Schulen lernen.“ Usw.

Irgendwie ist auch der BER mitsamt seiner Vorsitzenden „demokratisch“ gewählt, obwohl die meisten Eltern gar nicht wissen, daß es so etwas gibt. Aber spricht Hendricks für „die Eltern in der Bundesrepublik“? Was der jetzige Vorsitzende von sich gab, ist noch krasser.

Spricht Hoberg für die Mitglieder der GfdS? Eckinger für die deutschen Lehrer? Mancher vertritt die Interessen der Verlage und weiß es nicht einmal ...

Natürlich könnte man andere Repräsentanten wählen, aber das ist bekanntlich gar nicht so einfach. Die Kandidaten müßten erst einmal aufgestellt werden, sie müßten Werbeaufwand treiben und Zeit haben usw. Insofern ist der Spruch, jedes Volk (usw.) habe die Vertreter, die es verdient, nicht ganz fair. Volksbegehren sollten einen gewissen Ausgleich bieten, aber wir wissen ja, wie schwer es ihnen gemacht wird.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 10.04.2006 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3906

Professor Ickler schreibt heute in seinem "Rechtschreibtagebuch": Welcher Lehrer kennt die herkömmliche Schreibweise wirklich? Welcher Lehrer kann sie von der Dudendarstellung unterscheiden? Wer kann den Sinn der herkömmlichen s-Schreibung erklären? Wer kennt die reformierte Rechtschreibung in ihren bisher vier deutlich verschiedenen Fassungen und kann erklären, warum vom ersten Tage an daran herumrepariert werden mußte?
Ich lese dies in allen Teilen als nüchterne Zustandsbeschreibung, nicht etwa als den Vorwurf, mit der fachlichen Kompetenz sei es in dieser Berufsgruppe nicht weit her. Nehmen wir gleich die Hochschulgermanisten dazu und auf der Seite der Praktiker die Schriftsteller, die Journalisten und warum nicht auch die Sekretärinnen, dazu natürlich das Heer der Sachbearbeiter in der Wirtschaft und bei den Behörden, die selbständig ihre Texte an der Computertastatur verfassen. Ihnen allen wird niemand unterstellen wollen, orthographisch Stümper zu sein. Tatsächlich sind sie ja auch über jeden Zweifel erhaben sattelfest in den Bereichen, in denen unsere Rechtschreibung sich ihrer Struktur nach nicht von der anderer Sprachen unterscheidet. Niemand von ihnen schaut wegen Karriere, aber Karikatur ins Wörterbuch, parallel, aber rationell bereitet ihnen keine Schwierigkeiten, selbst brillant hat sich ihnen eingeprägt, obwohl sie in englischen Texten immer wieder das der Aussprache besser entsprechende brilliant sehen. In allen diesen Fällen würde natürlich auch die Rechtschreibkontrolle des Computers für Klarheit sorgen, unabhängig von der Einstellung auf neue oder alte Rechtschreibung. Dies sollten wir zunächst einmal festhalten: An der Schreibung der vielen zigtausend einfacher Wörter und funktionaler Morpheme hat niemand gerüttelt; ihr sicherer Besitz zeichnet weiterhin den kompetenten Schreiber aus.

Nicht so sicher sind sich etliche der Genannten bei umso oder um so, sodaß oder so daß, vielzuwenig oder viel zu wenig usw., insgesamt nebensächliche Quisquilien. Aber es kommt noch schlimmer: Gebildete erwachsene Schreiber müssen wegen sich bereit erklären oder sich bereiterklären den Duden aufschlagen, als ganzes oder als Ganzes läßt sie stocken, von der einzelne oder der Einzelne und dergleichen ganz zu schweigen. Hier wird gelegentlich die Rechnung aufgemacht, wieviel Arbeitsstunden durch die unselige Rechtschreibreform nutzlos verloren gehen. Wie das Sündenregister unserer klassischen Rechtschreibung in dieser Hinsicht aussieht, wird nicht bedacht. Wäre es also nicht vernünftiger gewesen, im Jahre 1985 zu fragen: An welchen Stellen ist unsere Rechtschreibung unnötig kompliziert, ohne daß damit ein erkennbarer Vorteil verbunden wäre? Die Antwort hätte gewiß nicht gelautet: bei Tolpatsch, schneuzen und greulich. Auf diesen Unsinn sind die Reformer offenbar erst verfallen, als sie nicht in ihrem Sinne reformieren durften.

Nun zwingt nach zehn Jahren der Zwischenstand des Unternehmens, die Reform nachzuholen, die 1996, eigentlich aber schon 1985 versäumt wurde. Der erste Schub ist gerade abgeschlossen. Für die Verbzusatzkonstruktionen und für die Verbindungen mit Partizipien benötigt kein halbwegs intelligenter Schreiber mehr ein Wörterbuch, wenn ihm einmal in seinem Leben erklärt worden ist, wie es geht. Das läßt sich für die Randfälle der Groß- und Kleinschreibung wiederholen; besser wäre es gewesen, der Zehetmair-Rat hätte das in einem Aufwisch mitgeschafft. Dann bleibt noch etlicher Kleinkram, womit eine selbstbewußte Schreibgemeinschaft jedoch ohne Nachhilfe fertig werden sollte. Nun sage niemand: Eine einheitliche Rechtschreibung wird das gewiß nicht, aber ohne staatliche Oberaufsicht ist das Chaos garantiert. Eine Rechtschreibung mit einer langen Geschichte wie die deutsche läßt sich überhaupt nicht so durcheinanderbringen, daß sie am Ende nicht mehr funktionstüchtig ist. Ein Konsens ist aber wichtig: Wer anders schreibt, ist weder ein Depp, noch ein Opportunist, noch ein Asozialer. Rechtschreibung ist zwar mehr als ein Werkzeug, aber nichts auf Kulthöhen zu Verehrendes.


Kommentar von R. M., verfaßt am 10.04.2006 um 12.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3908

Da diese nicht sehr überzeugenden Thesen ersichtlich nichts mehr mit dem hier zu kommentierenden Text zu tun haben, sei, um zum Thema zurückzukommen, der Hinweis auf einige hehre Worte Frau Kaisers gestattet.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.04.2006 um 17.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3910

Zu Herrn Jochems: Nein, als Vorwurf war das nicht gemeint, es ist einfach eine Feststellung. Warum auch sollten Lehrer sich um so etwas kümmern?
Im übrigen aber: Die Probleme mit "bereit erklären/bereiterklären" waren keine solchen der bisherigen Rechtschreibung, sondern Mängel des Duden. Das habe ich nun schon so oft gesagt. Nötig war also eine Dudenreform, keine Rechtschreibreform. Drosdowski hat es gelegentlich selbst ausgesprochen. Nicht die deutsche Rechtschreibung hatte sich fehlentwickelt, sondern die Dudenkodifikation, und zwar im Zusammenhang mit der staatlichen Privilegierung. Wer den Grundgedanken erfaßt hat, wird nie und nimmer wegen "bereiterklären" in einem Rechtschreibwörterbuch nachschlagen.


Kommentar von H. J., verfaßt am 10.04.2006 um 19.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3911

Gerade schreibt der Vorsitzende der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (zugleich Moderator dieses Forums) zu einem der letzten Beiträge: Da diese nicht sehr überzeugenden Thesen ersichtlich nichts mehr mit dem hier zu kommentierenden Text zu tun haben, sei, um zum Thema zurückzukommen, der Hinweis auf einige hehre Worte Frau Kaisers gestattet. Letztere passen in der Tat ausgezeichnet in unseren Zusammenhang:

Die besten Regeln nützen nichts, wenn sie nicht bekannt sind.
Die besten Regeln sind häufig die, die man sich selbst auferlegt.
Die besten Regeln nützen nichts, wenn man nicht darüber redet.

Das gilt wohl auch für "Schrift und Rede", weshalb ich sehr dafür plädiere, Ulrike Kaisers Vorschlag aufzugreifen.

Professor Ickler kommentiert meinen Beitrag so: Nötig war also eine Dudenreform, keine Rechtschreibreform. [...] Nicht die deutsche Rechtschreibung hatte sich fehlentwickelt, sondern die Dudenkodifikation, und zwar im Zusammenhang mit der staatlichen Privilegierung. Genau dies sage ich etwas umständlicher und mit Blick auf das jetzt erforderliche Handeln. Professor Icklers Normale deutsche Rechtschreibung (Regeln und Wörterverzeichnis) haben die Dudenreform schon vollzogen. Wenn man dies Befürwortern und Gegnern des Mißgriffs von 1996 begreiflich machen könnte, wäre alles gewonnen.


Kommentar von R. M., verfaßt am 10.04.2006 um 20.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3912

Die möglicherweise nicht jedem vertraute Grundregel ist ganz einfach: Die Kommentarfunktion dient der Kommentierung.


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 10.04.2006 um 23.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3913

R.M. hat ja im Grundsatz vollkommen recht. Nur kann man aber wohl sicherlich die Kommentare kommentieren und die Kommentare zu den Kommentaren kommentieren usw. Das führt zwangsläufig vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Hinzu kommen strukturelle Eigenheiten dieses Forums. Die Hauptdiskussion findet nun mal zum Tagebuch von Prof. Ickler und zu den Nachrichten statt. Wer will, daß seine Beiträge gelesen werden und nicht in einem Schwarzen Loch verschwinden, der schreibt dort und nicht im Diskussionsforum.
Warum kann z.B. eigentlich jeder Depp anonym seine unmaßgebliche Meinung zu den Beiträgen von Prof. Ickler äußern, während man sich für das Diskussionsforum erst registrieren, gewissermaßen einer Gesichtskontrolle unterziehen lassen muß? Die thematische Gliederung des Diskussionsforums ist auch wenig aktuell und für eine konsequent themenorientierte Diskussion wenig geeignet.
Ich bitte diese Bemerkungen nicht als Kritik an den Moderatoren dieses Forums zu verstehen. Ich weiß ihre freiwillige und unbezahlte gemeinnützige Tätigkeit sehr zu schätzen. Zur Kritik würde ich mich nur dann befugt halten, wenn ich selbst bereit und in der Lage wäre, mir eine solche Last aufzubürden, und wenn ich wüßte, wie man es besser machen könnte.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 10.04.2006 um 23.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3915

Ich habe etwas gegen Personenkult, aber der Zuspruch, den das Diskussionsforum findet, hängt sicherlich auch davon ab, welche unserer Koryphäen sich wie oft dort blicken lassen.


Kommentar von R. M., verfaßt am 11.04.2006 um 00.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3916

Daß die Diskussionen hauptsächlich im Kommentarteil stattfinden, hat seine guten wie schlechten Gründe, ist aber nicht weiter bedenklich. Jedoch sollte der Artikel von Frau Kaiser eigentlich interessant genug sein, um über das Symptomatische gerade dieses Textes nachzudenken, statt wieder einmal Platten aufzulegen, die schon mehr Kratzer als Rillen haben. Andererseits ist es auch wieder verständlich, daß man sich mit Frau Kaisers Darstellung nicht näher auseinandersetzen will.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2006 um 06.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3917

Ich hatte mir gedacht, es wäre ganz gut, das Diskussionsforum als icklerfreie Zone zu erhalten, weil ich ja so schon ein ungeheures Privileg genieße.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 11.04.2006 um 07.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3918

Also, ich fand den Text von Frau Kaiser ziemlich unerträglich. Diese Mischung aus unverstandenen Gegenständen und aufklärerischem Habitus, demonstrativ locker-flockig und mit sozial engagiertem Einschlag formuliert ("Ich schreite euch voran und mach das auch noch ganz easy") – nein danke. Wenn man auf diesen längeren Text eingehen würde, hätten wir gleich noch zehn Kratzer mehr in unseren Platten mit Richtigstellungen und grundsätzlichen Darlegungen zum Wesen von Rechtschreibung oder Demokratie.

Wir können nicht jeden Tag inhaltlich etwas Neues sagen. Sollen wir die Nachrichten vom Typ "Der neueste Blödsinn der Rechtschreibreform" unkommentiert lassen, nur weil jene Tatsachen, die dem tagesaktuellen Symptom der um sich greifenden Desorientierung entgegenzustellen wären, stabil und verläßlich und damit auf die Dauer langweilig sind? Professor Ickler hat auch schon zum hundertsten Mal gesagt, daß die vor der Reform allgemein übliche Rechtschreibung nicht dasselbe ist wie ihre verfälschende Darstellung im Duden vor der Reform. Es war jeweils nötig. Wenn man überhaupt kommentiert und aufklärt, sind diese ständigen Wiederholungen unvermeidlich.

Ich frage mich ernsthaft, ob es angemessen wäre, vorübergehend weniger Nachrichten und Tagebucheinträge zu bringen und die Seiten erst dann wieder auf volle Touren zu bringen, wenn etwas Wesentliches passiert, zum Beispiel ein neues Wörterbuch. Das würde den Eindruck des Leerlaufs vielleicht mindern.


Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 11.04.2006 um 08.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3921

Gerade im Forum gibt es ja keine Privilegierung. Es mag sein, daß meine Platte kratzt. Allerdings sollten sich auch die Moderatoren um einen guten Ton bemühen.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 11.04.2006 um 16.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3925

K. Achenbach: »Die thematische Gliederung des Diskussionsforums ist auch wenig aktuell und für eine konsequent themenorientierte Diskussion wenig geeignet.«

Das kann ich nicht nachvollziehen, denn meines Erachtens deckt die Gliederung des Forums zum einen alle Themen ab, zum anderen zwingt sie zur konsequent themenorientierten Diskussion – eben weil das Forum frei von tagesaktuellen Dingen ist; die können ja in den jeweiligen Kommentarspalten gewürdigt werden. Es kommt also nur darauf an, rechtzeitig von den tagesaktuellen Kommentaren ins Forum zu wechseln. Das habe ich in letzter Zeit einige Male versucht, aber leider ohne nachhaltige Wirkung.

Dabei wären die meisten Beiträge von Herrn Jochems sowie sämtliche Äußerungen zur s-Schreibung dort besser aufgehoben (reine Beispiele für Falschschreibungen unter „Belege für die Fehleranfälligkeit ...“, Inhaltliches unter „Heyse als Variante“). Und wegen der dortigen Aufrufmöglichkeit der letzten soundsoviel Beiträge will ich Herrn Achenbach auch hierin widersprechen:

»Wer will, daß seine Beiträge gelesen werden und nicht in einem Schwarzen Loch verschwinden, der schreibt dort [im Icklerschen Tagebuch und bei den Nachrichten; J.-M. W.] und nicht im Diskussionsforum.«

Eine Verlagerung des Schwerpunktes des Meinungsaustauschs ins Diskussionsforum würde zudem dazu beitragen, Wiederholungen zu vermeiden, weil jedes Thema nur in jeweils einem Diskussionsfaden zur Sprache käme und nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder aufgetischt werden müßte. Statt dessen könnte man dann in den Kommentaren zu den tagesaktuellen Meldungen bzw. im Icklerschen Tagebuch einfach einen kleinen Vermerk anbringen, der auf das zugehörige Thema im Diskussionsforum verweist.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 11.04.2006 um 17.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3926

Ich vergaß als weiteren Vorteil des Forums zu erwähnen, daß man dort seine Beiträge korrigieren kann. Und bei dieser Gelegenheit möchte gleich auf meinen dortigen jüngsten Beitrag zur s-Schreibung hinweisen – auf daß dieses Thema hier nicht weiter verfolgt wird, sondern dort.


Kommentar von ub, verfaßt am 04.05.2006 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=453#3978

Leserreaktionen auf Frau Kaisers Friedensbotschaft hat es übrigens keine gegeben, jedenfalls keine, die sich im Maiheft des DJV-Verbandsorgans niederschlagen.



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