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22.09.2005
Thomas Groß
Auf dem Reitwagen in die Heimat
Eine Mannheimer Linguistin untersucht die Sprache der Rußlanddeutschen
Sie sagen, etwas sei „wiischt“, wenn sie es als schlecht kennzeichnen wollen. Sie „fazeele“, wo andere einfach sprechen.
Sie "luren" statt zu warten. Sie waschen sich die "Fies" statt die Füße. Sie sagen "ich wees", wenn sie etwas wissen, und verlangen schon mal im Kaufhaus nach einer "Schachtel", wenn sie eine Plastikbox für Fotos oder Dias kaufen wollen. Was schnell ist, nennen sie "scharf", und statt auf ein Fahrrad setzen sie sich auf einen "Reitwagen". Die Sprache der Rußlanddeutschen ist dialektal geprägt und klingt immer ein wenig altertümlich. Ihre Sprecher haben viele Wörter bewahrt, die ihre pfälzischen, schwäbischen, bayerischen oder hessischen Vorfahren im 18. Jahrhundert samt ihrer deutschen Mundart nach Rußland mitnahmen. Die für eine veraltete Wortwahl benutzte Kennzeichnung "altfränkisch" - sie paßt im Falle des Rußlanddeutschen buchstäblich.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind 2,5 Millionen Rußlanddeutsche nach Deutschland übergesiedelt. 800 000 leben noch heute in der Russischen Föderation, weitere in der Ukraine oder in Kasachstan. Die Rußlanddeutschen waren und sind die größte deutschsprechende Minderheit im Ausland, doch ihre Sprache ist bis heute nicht richtig erforscht. Zwar gebe es etwa eine Geschichte der deutschen Sprache in Skandinavien, doch etwas Vergleichbares existiere nicht fürs Deutsche in Rußland, sagt Nina Berend vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Die 53 Jahre alte wissenschaftliche Angestellte, die als Privatdozentin in Heidelberg lehrt, weiß, wovon sie spricht. Sie selber ist Rußlanddeutsche, kam 1989 nach Deutschland und ist Mitautorin des Standardwerks "Deutsche Mundarten in der Sowjetunion" aus dem Jahr 1990.
Dieses Buch ist aber nur eine Forschungsgeschichte mit bibliographischem Anhang. Einen systematischen Überblick über die Mundarten will Berend nun in dem Projekt "Sprache und Dialekte der Deutschen in Rußland in Geschichte und Gegenwart" erarbeiten, das vom Kulturstaatsministerium in Berlin gefördert wird. Das Projekt versteht sich auch ganz praktisch als eine Maßnahme zur besseren Integration von Spätaussiedlern und soll in Kooperation mit russischen Linguisten gedeihen.
Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Eine einzige rußlanddeutsche Sprache gibt es so wenig, wie es die deutsche Sprache gibt. Es gibt nur viele Varietäten einer Sprache, im Falle des Rußlanddeutschen sogar unzählig viele. "Sprachinseln" nennen Dialektforscher abgetrennte Bereiche, wo die jeweilige Mundart gepflegt wurde und sich mit russischen Einflüssen verband. Allein unter Zarin Katharina II. gründeten seit 1763 deutsche Wirtschaftsflüchtlinge 105 deutsche Kolonien, die alle ihre eigene Sprache ausgeprägt haben.
Alle diese Dialekte leiten sich erstens von deutschen Mundarten her und kombinieren zweitens Deutsches und Russisches miteinander. Vom Russischen ist die Aussprache geprägt, und oft werden russische Konjunktionen entlehnt. Wenn man eine Konsequenz im Sinne des deutschen "also so" ausdrücken will, heißt es dann "vot so" - "vot" ist die russische Entsprechung zu "also". Russische Verben werden nach deutschem Muster flektiert: Will der rußlanddeutsche Sprecher wissen, ob sein Gegenüber heute schon telefoniert hat, so fragt er: "Hoscht woll hait schun gswonijt?" Die typische Bildung des Partizip Perfekt mit der Vorsilbe "ge-" und dem das Perfekt schwacher Verben anzeigenden "t" am Wortende wird auf das russische Wort übertragen. Den Plural russischer Substantive bilden Rußlanddeutsche gerne mit der deutschen Pluralendung "-e".
Beim Rußlanddeutschen handelt es sich um "dachlose Außendialekte": Sie entwickelten sich ohne Einfluß der Standardsprache, was zur Vielzahl ihrer Varietäten beigetragen hat. Das macht die Erforschung des Rußlanddeutschen schwierig, aber auch wissenschaftlich interessant. Mundarten, so Berend, seien hier "wie in einem Labor" in ihren Ursprüngen zu beobachten.
Lebendig sind solche Dialekte noch heute in ländlichen Gebieten. Allerdings haben die Deportationen von Rußlanddeutschen während des Ersten Weltkriegs und besonders dann unter Stalin nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 auch sprachlich deutliche Spuren hinterlassen, zwangsweise kam es zu Einflüssen. In den Städten dagegen wird die deutsche Muttersprache kaum gesprochen. Spätaussiedler brächten vielfach noch lebendige Dialekte mit, sagt Berend. Sie veränderten sich unter hochdeutschem Einfluß aber schnell. Der Inselstatus geht verloren.
Nina Berend hofft, mit ihrem Projekt für die Rußlanddeutschen in Deutschland wie in der ehemaligen Sowjetunion ein Stück sprachlicher Heimat zurückzugewinnen. Ergebnisse der Forschung eigneten sich auch als Handreichungen für Deutschlehrer. Berend sagt, rußlanddeutsche Studentinnen besuchten ihre Seminare über rußlanddeutsche Sprachvarietäten mit großer Freude. "Sie waren froh, etwas über ihre Geschichte und ihre Sprachkultur zu erfahren." Berend verwundert das nicht. Sie weiß auch aus eigener Erfahrung: "Das Interesse an der eigenen Herkunft wächst um so stärker, je länger man hier ist."
(F.A.Z., 22. 9. 2005)
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