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31.07.2005
Manfred Papst
Jetzt müssen die Lehrer Mut und Augenmass beweisen
Niemand weiss, was in der vom 1. August an verbindlichen Rechtschreibung gilt. Deshalb darf sie nicht notenwirksam werden.
NZZ am Sonntag 31. Juli 2005, S. 13
Kinder, jetzt wird’s ernst! Morgen Montag tritt an allen Schweizer Schulen die neue Rechtschreibung in Kraft. Fehler, die bisher, während der achtjährigen „Übergangszeit“, nur eine milde Ermahnung nach sich zogen, werden nun rot angestrichen und, so der Fachausdruck, notenwirksam. Zwar werden sich morgen vermutlich weder viele Schüler noch viele Lehrer ins Schulhaus verirren, denn erstens ist Nationalfeiertag, und wzeitens sind Ferien. Aber beide werden bald vorbei sein, und dann gibt es kein Erbarmen mehr.
Dumm ist nur, dass niemand so recht sagen kann, welche Regeln denn eigentlich gelten. Selbst die Lehrer wissen es nicht. Die Rechtschreibung präsentiert sich derzeit in einem Zustand, für den der Begriff „Baustelle“ ein Euphemismus ist; schweizerdeutsch wäre von einem „Puff“ zu sprechen. Verbindlich wird nämlich nicht die Reform von 1996, auf der gegenwärtig alle Schulbücher beruhen, sondern die reformierte Reform vom Juni 2004, zu der es bis auf eine etwas wacklige Internetseite noch kaum Lehrmittel gibt. Doch selbst diese zweite Fassung ist derzeit wieder im Umbau begriffen. Nach dem Scheitern der Reformkommission hat der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ die Aufgabe übernommen, drei zentrale Teile des Regelwerks nochmals zu überarbeiten: die Getrennt- und Zusammenschreibung samt ihren Folgen für die Gross- und Kleinschreibung (damit wir nicht mehr schreiben müssen, dass „die allein Stehenden sich zusammensetzen, um mit den Leid Tragenden Eis zu laufen“), die Worttrennung (damit wir um die „Nusse-cke“ herumkommen) sowie die Zeichensetzung.
Im Sommer 2006 soll die Reform der reformierten Reform, von der man nicht nur Modifikationen, sondern grundlegende Änderungen erwartet, vorliegen. Bis dahin dauert das Interregnum de facto an; Nachschlagewerke wie die Duden-Ausgabe 2004 und ein für August angekündigtes Wörterbuch von Bertelsmann werden dann bereits wieder überholt sein. Soll man sie unter diesen Umständen überhaupt im Unterricht verwenden und zum Kauf empfehlen?
Mit diesen Misslichkeiten ist das Durcheinander aber noch nicht hinlänglich beschrieben. Der ehemalige bayrische Kultusminister Hans Zehetmair, der den Rat für Rechtschreibung präsidiert, hat angekündigt, dass im laufenden dritten Reformschritt auch jene Regeln, die derzeit als unstrittig gelten, nochmals überprüft werden sollen. Zudem nahben mit Nordrhein-Westfalen und Bayern die beiden grössten deutschen Bundesländer beschlossen, die Reform am 1. August nicht einzuführen. In der Schweiz hat der Kanton Bern bei der Erziehungsdirektorenkonferenz um eine Verlängerung der Einführungsfrist nachgesucht, und Bundeskanzlei sowie Staatsschreiberkonferenz haben beschlossen, angesichts der unübersichtlichen Lage vorerst auf die Inkraftsetzung der neuen Regeln in der Bundesverwaltung und in den kantonalen Verwaltungen zu verzichten. Behörden und Schulen werden also unterschiedlich schreiben!
Hinzu kommt, dass in Deutschland wie in der Schweiz die Reform von massgebenden Medien nicht mitgetragen wird: Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ist schon im Juli 2000 zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt, „Süddeutsche“, „Spiegel“ und die Springer-Presse (mit der „Bild-Zeitung“ als Vox Populi) haben es ihr nachgetan. In der Schweiz haben die Blätter des Hauses NZZ ihren eigenen, gemässigten Reformkurs verfolgt, und inzwischen haben auch die Nachrichtenagenturen, die zuvor aus arbeitsökonomischen Gründen der Reform folgten, sich in wesentlichen Bereichen von ihr abgewandt.
Der Torso der neuen Regeln tritt also zu einem Zeitpunkt in Kraft, da die Lage so desolat ist wie noch nie. Dennoch scheint hier – einmal mehr – ein typisch helvetischer Mechanismus zu spielen: Die Schweiz hat die Reform zwar ausgesprochen lustlos mitvollzogen, aber nun, da sie einmal da ist, will man keine weitere Aufregung (schweizerdeutsch: „Gschtürm“) und schluckt die Kröte halt so verdrossen wie tapfer hinunter – selbst wenn sonst kaum mehr jemand mitmacht. Die Schüler sind frustriert und die Lehrer auch, doch die einen kuschen, und die andern walten ihres Amtes, auch wenn es sie sichtlich verdriesst (schweizerdeutsch: „angurkt“).
Vernünftig ist in dieser Situation nur eines: Die Lehrer müssen den Mut aufbringen, die Übergangsfrist von sich aus zu verlängern – stillschweigend, ein jeder in seinem Klassenzimmer, mit Umsicht und ohne Getöse, aber sowohl im Interesse der Schüler, auf die man dieses erbärmliche Flickwerk nicht anwenden darf (schon gar nicht als Selektionsmittel!), als auch in ihrem ureigensten Interesse. Denn es macht weder Spass, noch hat es irgendeinen Sinn, der Jugend etwas einzutrichtern, das in einem Jahr schon Schall und Rauch sein wird.
Quelle: NZZ am Sonntag
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Kommentar von Die Welt, 1. 8. 2005, verfaßt am 31.07.2005 um 20.14 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=317#1400
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Schweizer und Österreicher boykottieren Schreibreform
Von Dankwart Guratzsch
Berlin - Am Tag ihrer verbindlichen Einführung in 14 deutschen Bundesländern sowie in Österreich und der Schweiz ist der Widerstand gegen die neue Rechtschreibung weiter gewachsen. Nach dem Muster von Bayern und Nordrhein-Westfalen fordert jetzt auch der schweizerische Hauptstadtkanton Bern eine Verlängerung der Einführungsfrist. Führende Schweizer Behörden haben demonstrativ auf die Inkraftsetzung der neuen Regeln verzichtet. In Österreich verlangen namhafte Schriftsteller eine Aufschiebung der Reform.
Anlaß für die Proteste und Absetzbewegungen ist die Tatsache, daß der für alle drei Länder eingesetzte Rat für deutsche Rechtschreibung an einer grundlegenden "Reform der Reform" arbeitet, die noch nicht abgeschlossen ist. Danach sollen weite Bereiche der neuen Rechtschreibung wegen ihrer Unbrauchbarkeit und mangelnden Akzeptanz wieder zurückgenommen werden. Die Überarbeitung wird nach Ankündigung des Ratsvorsitzenden Hans Zehetmair ausdrücklich auch solche Teile der Reform umfassen, die die Kultusminister vorschnell als "unstrittig" bezeichnet und für verbindlich erklärt hatten. Die Schweizer Bundeskanzlei und die Schweizer Staatsschreiberkonferenz haben darauf beschlossen, die Regeln nicht in Kraft zu setzen. Der Kanton Bern fordert die Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz auf, von der Verbindlichkeit abzusehen. Die Schweizer Nachrichtenagenturen sind nach einem Bericht der "Neuen Zürcher Zeitung" "in wesentlichen Bereichen" bereits von den neuen Schreibweisen abgerückt. Die Zeitung selbst fordert die Lehrer auf, die Reform "stillschweigend" nicht mitzumachen. Den Protest der österreichischen Schriftsteller an die Regierung in Wien haben Friedericke Mayröcker, Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Julian Schutting und Marlene Streeruwitz unterschrieben. Unter der Überschrift "Schluß! Aus! Ende! Finito!" verlangen sie "Maßnahmen, die den sprachlichen Reichtum" retten.
(Die Welt, 1. August 2005)
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Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 01.08.2005 um 04.51 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=317#1405
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Warum wird eigentlich immer wiedergekäut, daß Springer, Spiegel und Süddeutsche zur alten Schreibung zurückgekehrt sind?
Springer ist mit m.W. allen Publikationen zurückgekehrt,
der Spiegel hat wieder den Schwanz eingekniffen (wird in seiner Hausorthographie allerdings immer konservativer)
-- und bei der Süddeutschen ist überhaupt nichts passiert, wenn ich als Selten-Leser das richtig interpretiere.
Kann man einen solchen Beitrag ernstnehmen?
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Kommentar von NZZ / Leserbriefe, verfaßt am 22.08.2005 um 19.57 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=317#1550
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»Herr Journalistin!
«Jetzt müssen die Lehrer Mut und Augenmass beweisen» / NZZ am Sonntag vom 31. Juli
Lieber Manfred Papst: Ist Ihr nomen omen? Oder wie stehen Sie zu uns Frauen? Sie haben sicher schon gemerkt, dass es in unseren Schulen Lehrerinnen gibt und vor allem auch Schülerinnen, für die die neue Rechtschreibung zum Problem wird. Ebenso kümmern sich Verlage auch um Autorinnen. Überhaupt: Sie als Journalistin sollten sich um eine geschlechtergerechte Schreibe bemühen. Sonst muss ich mich als Leser zu sehr ärgern. Prof. Ingrid Ohlsen, Zürich
Als Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung möchte ich Manfred Papst besonders danken. Nur einen kleinen Irrtum hat er begangen: Der «Spiegel» und die «Süddeutsche»haben leider ihre versprochene Rückumstellung nicht wahr gemacht, sondern dem Druck nachgegeben, zur grossen Enttäuschung der Leser. Nun wird es also an den meisten Schulen Pflicht, die Muttersprache falsch zu gebrauchen. Und der richtige Gebrauch wird als Fehler bestraft - das ist in der Geschichte einmalig. Prof. Dr. Theodor Ickler, Universität Erlangen-Nürnberg«
( NZZ am Sonntag, 7. August 2005 )
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