Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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17.07.2005
Vorstoß im Berner Kantonsparlament
„Rechtschreibreform: Unverzüglich stoppen!“
Wie die deutschen Kultusminister geraten auch die Schweizer Erziehungsdirektoren immer mehr ins Abseits.
In der Forderung und Begründung der Berner Abgeordneten meldet sich die Vernunft zu Wort. Sie wird sich Gehör verschaffen, wenn die Sommer- und Ferientage vorbei sind und es nach einigen Gewittern wieder kühler ist.
Kanton Bern
Kantonsparlament
Motion Stalder (FDP)
Für dringlich erklärt. Wird behandelt.
Rechtschreibreform: Einführung unverzüglich stoppen!
Der Regierungsrat wird aufgefordert,
1. auf die Einführung der Rechtschreibreform im Kanton Bern per 1. August 2005 zu verzichten;
2. insbesondere zu verhindern, dass teure Sprachlexika angeschafft werden, welche auf der Rechtschreibreform von 1996 basieren;
3. bei der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) im gleichen Sinne vorstellig zu werden, um im gesamten deutschschweizerischen Sprachraum eine übereilte Einführung der Rechtschreibreform zu verhindern.
Begründung
1. Die in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts vorangetriebene Rechtschreibreform sollte nach dem Willen der zuständigen politischen Gremien auf den 1. August 2005, also in weniger als zwei Monaten, in Kraft gesetzt werden. Das würde bedeuten, dass ab diesem Zeitpunkt herkömmliche Schreibweisen, die nicht mit dem Reformwerk übereinstimmen, von den Lehrkräften als falsch beurteilt und entsprechend korrigiert und benotet werden müssten.
2. Nachdem dem Reformwerk namentlich in den letzten drei Jahren begründete Kritik erwachsen ist – insbesondere in den Bereichen Gross- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung – und nachdem zusätzlich zu massgebenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern des deutschsprachigen Raumes wichtige Verlage und Zeitungen beschlossen haben, die Reform abzulehnen und die bisherige Schreibung beizubehalten, ist im nachhinein – spät, aber nicht zu spät – ein breit abgestützter Rat für Rechtschreibung eingesetzt worden mit dem Auftrag, die Rechtschreibreform kritisch zu überprüfen. Die Schweiz ist in diesem Rat vertreten.
3. Vor zehn Tagen hat der Rat für Rechtschreibung eine revidierte Fassung der Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung verabschiedet. Insbesondere dürfen zusammengesetzte Wörter mit einem Verb am Schluss wieder als ein Wort geschrieben werden. Einer der ärgsten und ärgerlichsten Schnitzer der Rechtschreibreform wird damit wieder korrigiert. Weitere strittige Punkte der Refom werden im Laufe der nächsten Monate durch Ausschüsse des genannten Rates ebenfalls überprüft, und es ist zu erwarten, dass etliche bisher geltende, bewährte Regeln wieder in Kraft gesetzt werden.
4. Bei diesem Stand der Dinge wäre es widersinnig und nicht zu verantworten, die Rechtschreibreform auf den 1. August 2005 in Kraft zu setzen. Ebenso ist auf eine teilweise Inkraftsetzung zu verzichten, so lange noch nicht klar ist, welche Teile der Reform rückgängig gemacht werden. Staatspolitische Klugheit und Aspekte der Rechtssicherheit gebieten zwingend, mit der Einführung neuer Regelungen zuzuwarten, bis Klarheit über den Umfang der Reform besteht.
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Kommentar von Neue Zürcher Zeitung, 22. 7. 2005, verfaßt am 22.07.2005 um 11.25 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=300#1282
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Herausgegriffen
Seldwyla in der Schulstube
rom. In den Reformbemühungen um die deutsche Rechtschreibung steckte von allem Anfang an der Wurm. Literaten und Professoren rebellierten vergeblich gegen den Unsinn, den übereifrige Linguisten austüftelten, andere an der Schriftsprache Interessierte wollten gar nicht glauben, dass jemand die inkohärente Pseudoreform einmal zum Nennwert nehmen könnte. Nur den Politikern war es bitterernst, obwohl sie gemeinhin kaum als Hirsche der deutschen Sprache gelten. Am untauglichen Objekt versuchen sie nun aber, wenn nicht Kompetenz, so doch Durchsetzungskraft zu markieren. Die an den Schulen provisorisch eingeschleuste neue Rechtschreibung, die in der Zwischenzeit teilweise wieder zurückbuchstabiert wurde, soll nach dem Entscheid der zuständigen Gremien in Deutschland und der Schweiz ab dem 1.August 2005 definitiv gelten – aber wiederum nur partiell. Sogenannt definitiv eingeführt wird nämlich nur ein Teilbereich, weil die im Rat für deutsche Rechtschreibung versammelten Experten zur Zeit immer noch damit beschäftigt sind, die gröbsten Böcke der Reform auszumerzen. Der gesunde Menschenverstand würde somit raten, die geltende Übergangsfrist zu verlängern, bis das neue Regelwerk definitiv abgesegnet ist, statt Lehrer und Schüler mit einem neuen Provisorium zu plagen. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) folgt allerdings lieber fremden Leithammeln aus Deutschland als dem gesunden Menschenverstand. Immerhin haben nach den Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen nun auch in der Schweiz gewisse Kreise gemerkt, welcher Unfug im Anzug ist. Der Kanton Bern hat bei der EDK um eine Verlängerung der Einführungsfrist der Reform ersucht. Man wolle nicht mit einer neuen Übergangslösung noch mehr Verwirrung stiften, heisst es. Noch gewichtiger ist ein eben gefällter Beschluss der Bundeskanzlei und der Staatsschreiberkonferenz. Angesichts der laufenden Flickarbeiten an der Rechtschreibereform verzichten die Bundesverwaltung und die kantonalen Verwaltungen auf eine Teilinkraftsetzung des neuen Regelwerks auf den 1.August und verlängern die Übergangsfrist bis zu dem Zeitpunkt, da der Rat für deutsche Rechtschreibung seine Arbeiten abgeschlossen hat und die zuständigen Behörden die Resultate genehmigt haben. Damit setzen also die Verwaltungen der einzelnen Erziehungsdirektoren nicht um, was diese den Schülern und Lehrern zumuten wollen. Quod licet Iovi, non licet bovi – frei übersetzt: Oben gelten andere Massstäbe als unten. Anders gesagt: Was nicht einmal der Verwaltung schmeckt, wird den Schulkindern verfüttert.
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Kommentar von Gabriele Ahrens, verfaßt am 22.07.2005 um 11.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=300#1280
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"Die politisch Verantwortlichen sind in den Ferien."
Besser kann man die Handlungsunfähigkeit der Politik wohl kaum ausdrücken.
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Kommentar von Bieler Tagblatt Schweiz Online, verfaßt am 22.07.2005 um 11.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=300#1279
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Bern erhält keinen Aufschub
Der Kanton Bern läuft mit seiner Forderung nach einem Aufschub der Rechtschreibreform auf. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) wird Bern in den nächsten Tagen eine Absage erteilen.
Markus Brotschi
«Es gibt keinen Grund, etwas am Zeitplan zu ändern. Die EDK bleibt beim Einführungstermin vom 1. August», sagte Claudia Meier, stellvertretende EDK-Kommunikationsbeauftragte, gestern auf Anfrage. Der Kanton Bern hatte in einem Schreiben vom 15. Juli von der EDK verlangt, die bisherige Übergangsregelung weiterzuführen. Demnach würde zwar an der Volksschule nach der neuen Rechtschreibreform unterrichtet, aber die alte Schreibweise den Schülerinnen und Schülern nicht als Fehler angekreidet.
Nach dem Willen der EDK gilt nun ab dem neuen Schuljahr wie in 14 deutschen Bundesländern und Österreich nur noch in einem Teilbereich eine Übergangslösung: Bei Zeichensetzung, Worttrennung am Zeilenende, der Getrennt-/Zusammenschreibung sowie im Überschneidungsbereich zwischen Getrennt-/Zusammen- und Gross-/ Klein-Schreibung gelten die alten Schreibweisen nach wie vor nicht als Fehler. Für diese Bereiche muss der Rat der deutschen Rechtschreibung noch Lösungen finden.
«Nicht praxistauglich»
Mit diesen Unklarheiten begründet der Kanton Bern sein Ersuchen um einen Aufschub. Der Kanton Bern halte die Lösung der EDK «für nicht praxistauglich», sagt Johannes Kipfer, Vorsteher der Abteilung Volksschule. Werde jetzt eine neue Übergangslösung eingeführt, schaffe dies eine weitere Verunsicherung bei Lehrerschaft und Schülern. Der Kanton Bern strebe aber keinen Alleingang an.
Erziehungsdirektor Mario Annoni werde nach Erhalt der EDK-Antwort über das weitere Vorgehen entscheiden. Dass Bern erst zwei Wochen vor dem Einführungstermin an die EDK gelangt, begründet Kipfer mit dem EDK-Schreiben, in dem Ende Juni den Kantonen der definitive Einführungstermin mit der Ausnahmenregelung mitgeteilt wurde. Weiter verweist Kipfer auf die in der Junisession eingereichte Motion von FDP-Grossrat Stalder (siehe nebenstehenden Text), der den sofortigen Stopp der Reform verlangt.
Aus den anderen Kantonen kommt wenig Unterstützung für Bern. Zürich hält die noch bestehenden Ausnahmen für zu wenig gewichtig, um von der internationalen Vereinbarung abzuweichen. Auch die EDK verweist auf die grosse Mehrheit der deutschen Bundesländer und Österreich, die auf 1. August die neue Rechtschreibung definitiv einführen. Ausser Bern habe kein anderer Kanton einen Stopp der Rechtschreibreform verlangt, sagt Meier. Dagegen heisst es beim Kanton Bern, auch andere Kantone hätten Bedenken geäussert. Doch klar ist: Die kantonalen Erziehungsdirektoren werden trotz Berns Ersuchen nicht nochmals zu einer Sitzung zusammentreffen - in der gegenwärtigen Ferienzeit wäre das ohnehin kaum möglich. «Die politisch Verantwortlichen sind in den Ferien. Es gibt keine politische Entscheidung zum Gesuch Berns», sagt Meier.
Bern wie Bayern
Verbündete hat Bern immerhin in Deutschland. Die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen haben ein Moratorium beschlossen, bis der Rat für deutsche Rechtschreibung alle Bereiche bereinigt hat - voraussichtlich also bis Ende 2006.
Notbremse ziehen
otto zutter
Auf sieben Jahre war die Übergangszeit bemessen. Seit sieben Jahren wissen die Bildungspolitiker in diesem Land: Ab 1. August 2005 wird es ernst mit der neuen Rechtschreibung. Aber noch immer sind Teile der Reform schwer umstritten. Trotzdem will sie die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) am 1. August definitiv in Kraft setzen.
Die kantonalen Erziehungsdirektoren, welche die EDK bilden, müssen sich die Frage gefallen lassen: Warum haben sieben Jahre Übergangszeit nicht ausgereicht? Und was soll die plötzliche Eile, wo doch Teile der Reform reformiert werden sollen? Der Kanton Bern möchte den Termin hinausschieben und mit der Übergangsregelung, die auch die alte Schreibweise gelten lässt, fortfahren. Und zwar so lange, bis jene strittigen Problemfelder der neuen Rechtschreibung geklärt sind, die von Schulfachleuten als «nicht praxistauglich» kritisiert werden.
Das macht Sinn, Bayern und Nordrhein-Westfalen tun es auch. Es wäre ja gelacht, wenn ausgerechnet die Schüler, deretwegen man die Rechtschreibung vereinfachen wollte, die Leid Tragenden würden. Denn sie müssten umstrittene Regeln büffeln, die in absehbarer Zeit doch wieder geändert werden.
Was die Berner wollen
Grossrat Christoph Stalder verlangte letzten Juni einen «unverzüglichen Stopp» der Rechtschreibreform.
oz. Eigentlich könnte sich der freisinnige Stadtberner Grossrat Christoph Stalder getrost zurücklehnen. Wann schon erfüllt die bernische Regierung einem Grossrat einen Herzenswunsch, bevor überhaupt der Grosse Rat dazu Stellung genommen hat? Denn die Erziehungsdirektion ist bereits bei der EDK mittels Brief vorstellig geworden und monierte dort, was auch Stalder in seinem Vorstoss im Grossen Rat moniert: Auf die Einführung der Rechtschreibreform auf den 1. August 2005 sei zu verzichten, und die Regierung solle sich im gleichen Sinn bei der EDK vernehmen lassen.
Ferner soll die Regierung laut Stalder verhindern, dass teure Sprachlexika angeschafft würden, die auf der Rechtschreibreform von 1996 beruhten. Denn der letztlich zuständige Rat für Rechtschreibung, dem auch Schweizer angehören, habe eben erst eine revidierte Fassung einiger dieser 96er-Regeln verabschiedet. Stalder habe bereits vor Jahresfrist einen Vorstoss zu dieser Reform eingereicht. Ohne damit aber eine grosse Wirkung zu erzielen.
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