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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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03.06.2005
 

Halb voll oder halbleer?
Zwei Weisen, die jüngsten Beschlüsse zu interpretieren

Hans Zehetmair gab sich auf seiner Mannheimer Pressekonferenz demonstrativ optimistisch.

Als seine Trophäenliste führte er vor: eis­lau­fen, fer­tig­machen, hei­lig­spre­chen, abwärts­glei­ten, dazwi­schen­kom­men, abhan­den­kom­men leid­tun, lang­gehen und ste­hen­blei­ben. Diese Zusammenschreibungen sind die Ergebnisse der Revision eines einzigen Paragraphen des Reformregelwerks. dpa läßt sich gleichwohl herab, das Ergebnis von Mannheim als ersten großen Erfolg der Sprach­wäch­ter zu werten.

Thomas Steinfeld hingegen kommentiert im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung: »Nach den jüngsten Windungen der Kultusministerkonferenz wird es eine verbindliche, gesellschaftlich durchgesetzte deutsche Rechtschreibung nicht mehr geben, und die Schule wird an ihrer Aufgabe scheitern, eine einheitliche Schriftsprache zu vermitteln.« Dankwart Guratzsch resümiert in der Welt: »Ein Rechtschreibfrieden ist so nicht zu erreichen.« In der Berliner Morgenpost fordert er: »Schluß mit dem Rechtschreibspuk«!



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Kommentare zu »Halb voll oder halbleer?«
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Kommentar von Pressestimmen (säuerlich), verfaßt am 04.06.2005 um 08.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#787


»Kein Reform-Chaos

Von Thomas Groß

Natürlich muss man Herrn Kraus zustimmen. Es wäre besser, wenn endlich ein schlüssiges Endergebnis vorliegen würde, wenn man endlich wüsste, was künftig als korrekte neue Rechtschreibung zu gelten hat und was in Schulen als fehlerhaft zu werten ist. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hat auch Recht, wenn er sagt, es wäre besser gewesen, den Rat für Rechtschreibung "noch ein Jahr konsequent und solide arbeiten zu lassen", ehe man ihm Ergebnisse abnötigt.

Das Problem ist nur, dass beide Standpunkte schlecht unter einen Hut zu bringen sind. Mal werden die "Reformreformer" zur Eile gemahnt, mal sollen sie behutsam und mit Bedacht schlüssige Ergebnisse vortragen. Angesichts dessen ist das vorliegende vorläufige, nicht amtliche Ergebnis recht beachtlich, das dem Wortsinn wieder mehr zum Recht verhilft. Und die Kultusministerkonferenz konnte schlicht nicht anders, als die Übergangsfristen, in denen alte und neue Schreibungen nebeneinander stehen können, teilweise zu verlängern.

Die Sprachgemeinschaft sollte gelassen bleiben, es wenigstens versuchen. Das Benutzen der neuen Regeln steht den Meisten frei. Kein Großschriftsteller und kein Verfasser kleiner Anschreiben oder Briefe ist dazu gezwungen. Ein (zeitlich begrenztes) Nebeneinander ist weder Unordnung noch gar Chaos. Sich als Durchlauferhitzer der Erregungsgesellschaft betätigende reformfeindliche Medien tragen mehr zum "Rechtschreibunfrieden" bei als zu den ersehnten geordneten Zuständen.«


( Mannheimer Morgen, 04.06.2005 )


»Klare Kante

Von Martin Jasper

Ach, wären alle Streitfälle dieser Welt so harmlos wie die Rechtschreibung, wären alle Reformen so folgenlos für das Glück oder Unglück der Menschheit wie die Rechtschreib-Reform!

Aber nun sollte Schluss sein mit dem Lamentieren. Sprache ist im Fluss. Goethe würde heute nur Sechsen im Diktat kassieren. Und selbst der strenge Konrad Duden hat seinem Regelwerk den Hinweis beigegeben, dass es weiterzuentwickeln sei. Hinzu kommt, dass das Bild unserer Sprache heute weit mehr von Anglizismen sowie Neuerungen aus der Technik-, Werbe- und Jugendsprache verzerrt wird als durch die dezenten und in vielen Fällen auch schlüssigen Änderungen der Rechtschreibung. Davon geht Deutschland nicht unter.

Mit der neuen Schreibung lässt sich ganz gut leben. Das beweisen nicht zuletzt Millionen von Schülern, die sie ganz selbstverständlich lernen.

Allerdings sollte die Kultusministerkonferenz jetzt auch klare Kante machen, statt in deutscher Bedenkenträger-Manier "umstrittene Teile" überarbeiten zu lassen und Kommissionen mit endlosen Debatten zu beschäftigen. Das erweckt den Eindruck des inkonsequenten Verwässerns.

Eine Teil der Regeln für verbindlich zu erklären, den anderen aber nicht, muss vor allem an den Schulen für Chaos sorgen. Deshalb: Möglichst rasche Verbindlichkeit aller neuen Regeln. Und wer das so schrecklich findet, soll meinetwegen nach den alten Regeln weiterschreiben. Davon geht Deutschland auch nicht unter.«


( Braunschweiger Zeitung, Samstag, 04.06.2005 )


»Naiver Ruf nach einem Naturzustand

Nein, sie geben immer noch nicht Ruhe. Zwar haben die deutschen Kultusminister gestern in seltener Entschlussfreude ein Machtwort gesprochen und die Rechtschreibreform mit ein paar kleinen Änderungen zum kommenden Schuljahr endgültig für verbindlich erklärt. Doch die Gegner der Reform wollen sich damit nicht abfinden und fordern unverdrossen die "Rückkehr zur klassischen deutschen Rechtschreibung".

Was aber, bitte schön, ist "klassisch"? Zur Zeit der klassischen deutschen Literatur gab es eine verbindliche Rechtschreibung jedenfalls noch nicht, und deren spätere Durchsetzung war von ähnlichen Widerständen begleitet wie die heutige Reform. Denn eine "natürliche" Schreibweise existiert schlichtweg nicht. Jede "Recht"-Schreibung setzt, wie der Name schon sagt, die Setzung einer absolut künstlichen Norm voraus - so künstlich und in seiner praktischen Umsetzung zugleich so chaotisch, wie es alle Prozesse einer hoch entwickelten Zivilisation nun einmal sind. Gerade deshalb aber ist der naive Wunsch nach einer Rückkehr zum angeblichen Naturzustand überaus populär - wie auch die kuriose Debatte um eine Abschaffung des Euro zeigt, die eine Hamburger Illustrierte diese Woche lostrat. Der Euro gilt als "künstlich", weil er so verschiedene Wirtschaftsräume wie Griechenland und Deutschland unter eine Währung zwingt.

Geflissentlich übersehen wird dabei, dass die Einführung einer deutschen Einheitswährung im 19. Jahrhundert nicht minder künstlich war. Die Inflationsrate unterscheidet sich auch zwischen Leipzig und München, trotzdem rief keiner nach der Abschaffung der Deutschen Mark.

"Der Neuordner hat alle die zu Feinden, die sich in der alten Ordnung wohlbefinden", wusste der florentinische Politikberater Niccolò Machiavelli schon vor fünfhundert Jahren, "und laue Mitstreiter in denen, welche bei der Neuordnung zu gewinnen hoffen." Deshalb bleibt es wohl künftigen Generationen vorbehalten, die "neue" Rechtschreibung von heute dereinst als "klassisch" zu verteidigen. RALPH BOLLMANN«


( taz Nr. 7681 vom 4.6.2005 )


»Die Zeichen sind viel versprechend
Befürworter und Gegner der Rechtschreibreform arbeiten an einer gemeinsamen Lösung


Von Tim Schleider

Achtung, es gibt eine gute Nachricht zum Thema Rechtschreibreform! Seit Freitag arbeitet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung doch noch mit im Expertenrat für Rechtschreibung. Damit haben nun auch die beinahe schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform von 1996 ihre Bereitschaft bekundet, an einem Kompromiss in allen strittigen Fällen der neuen Rechtschreibung mitzuwirken - und diesen hinterher auch mitzutragen! Und noch besser: indirekt ist damit ja das Eingeständnis der Akademie verbunden, dass bestimmte Teile der Rechtschreibreform eigentlich unstrittig und vermutlich sogar ganz gut sind. Ja, wer sagt"s denn! So nah waren die Lager schon ewig nicht mehr beisammen.

Als unstrittig gelten mithin: die Laut-Buchstaben-Zuordnung (Doppel-s statt ß nach kurzem Vokal, wie bei Kuss), das Beibehalten dreier Konsonanten bei Wortzusammensetzungen (wie bei Schifffahrt), die Laut-Buchstaben-Zuordnung (Delfin, Katarr; aufwändig statt aufwendig), die Schreibung mit Bindestrich (Ich-Sucht) sowie die Groß- oder Kleinschreibung (der Einzelne). Und wenn Schüler sich in Klassenarbeiten daran nicht halten, obwohl seit mindestens sieben Jahren an deutschen Schulen nichts anderes gelehrt wird, so gilt dies vom 1. August an unmissverständlich als Fehler. Alte Schreibweisen werden nicht mehr toleriert. So hat es die Kultusministerkonferenz auf ihrer Tagung in Quedlinburg gerade nochmals beschlossen.

Als Fehler angestrichen, aber weiter toleriert werden dagegen alte Schreibweisen überall dort, wo besagter Expertenrat für Rechtschreibung unter Vorsitz von Hans Zehetmair noch an Kompromissen arbeitet. Dies betrifft das Getrennt- oder Zusammenschreiben (zum Beispiel bei viel versprechend), die Worttrennung (Donners-tag) und die Zeichensetzung. Die Arbeit in diesem 33 Köpfe starken Gremium ist derart mühsam - Entscheidungen bedürfen einer Zweidrittelmehrheit -, dass man wohl bis in den Winter hinein wird miteinander ringen müssen.

Immerhin konnte der frühere bayerische Innenminister Zehetmair gestern in Mannheim weiterführende Ergebnisse zum Thema Getrenntschreibung präsentieren. Demnach sollen immer dann, wenn zwei Wörter einen weiterführenden Sinn ergeben, diese Wörter künftig wieder zusammen geschrieben werden. Also zum Beispiel doch wieder "abwärtsgleiten" statt "abwärts gleiten"; eislaufen; fertigmachen, heiligsprechen. Oder auch: vielversprechend. Zehetmaier gab auf einer Pressekonferenz zu, dass solches Zusammenschreiben innerhalb des Gesamtregelwerks der Rechtschreibung zwar unlogisch sei, aber eben dem "mehrheitlichen Sprachgefühl" entspreche. "Der Sprachgebrauch steht vor systematischen Regeln."

Diese und alle noch folgenden Empfehlungen des Expertenrates sind aber nun keineswegs automatisch in Kraft. Zuvor will die Kultusministerkonferenz noch Lehrer- und Elternverbände anhören. Zehetmair hofft, dass dann im Laufe des kommenden Schuljahres endlich eine einheitliche Korrekturpraxis erlangt werden kann.«


( Stuttgarter Zeitung, 04.06.05 )

Außerdem:

Erbitterter Kampf gegen ein "Reförmchen" von Mirjam Mohr ( AP / Frankfurter Rundschau )


Kommentar von Pressestimmen (skeptisch), verfaßt am 04.06.2005 um 09.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#788

»Geben Sie Schreibfreiheit!

Zuerst die gute Nachricht: Die Bürokraten der Kultusministerkonferenz haben ihr Gesicht gewahrt - einerseits. Und die Experten des Rates für Rechtschreibung haben Änderungen in Teilen der Rechtschreibreform durchgesetzt - andererseits. So ist zustande gekommen, was man einen Kompromiss nennt. Dem gemeinen Volk kann die politische Seite des nun schon sieben Jahre währenden Streits um die rechte Schreibung der deutschen Sprache allerdings egal sein. Und damit zur schlechten Nachricht: Glaubte man bisher, die Verwirrung im Glaubenskrieg um das neue Regelwerk habe ihren unüberbietbaren Höhepunkt erreicht, muss man nun schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, dass es zu Klarheit und Transparenz in der Orthographie vermutlich nie mehr kommen wird. Der - angeblich - unstrittige Teil der Reform soll wie geplant am 1. August in Kraft treten, der andere irgendwann einmal. Zwischenzeitlich soll es eine Handreichung für Lehrer geben, damit sie wissen, welche Fehler im Diktat (einstweilen? für immer?) gewertet werden müssen. Natürlich können die Gegner der Reform das Einlenken der Kultusminister bei der Zusammen- und Getrenntschreibung als Teilerfolg feiern. Nur: Ist damit etwas gewonnen? Bei der größten Fehlerquelle Groß- und Kleinschreibung jedenfalls nichts. Es bleibt eigentlich nur ein Ausweg aus dem Chaos: Meine Damen und Herren, geben Sie Rechtschreibfreiheit! Bettina Schulte«


( Badische Zeitung vom Samstag, 4. Juni 2005 )

»Unstrittige Rechtschreibung?

gü. «Kennenlernen» darf - aber muss nicht - wieder in einem Wort geschrieben werden, ohne dass man dabei gegen die Rechtschreibreform verstösst. Mit grosser Mehrheit hat gestern der Rat für Rechtschreibung an seiner Sitzung in Mannheim die Vorschläge gebilligt, welche eine von ihm eingesetzte Arbeitsgruppe zur Neufassung des Paragraphen 34 des Regelwerks erarbeitet hatte. Der Paragraph, der nach dem Willen der Reformer bei Komposita mit Verben die Getrenntschreibung forderte, wo früher zur Kennzeichnung übertragener Wortbedeutungen zusammengeschrieben wurde, hat seit je den besonderen Zorn der Reformkritiker provoziert. Nun ist die Zusammenschreibung fast überall wieder in ihre alten Rechte eingesetzt.

Obgleich der Rat seine Revisionen noch längst nicht abgeschlossen hat, wird es keine generelle Verlängerung der Übergangszeit für die Rechtschreibreform geben. Die deutsche Kultusministerkonferenz hat (in Abstimmung mit ihren österreichischen und Schweizer Partnern) beschlossen, die «unstrittigen» Teile der Reform zum 1. August 2005 an den Schulen umzusetzen. Alte Schreibungen haben die Lehrer dann als Fehler zu werten. Eine «Toleranzfrist» gilt für die vom Rat noch zu überarbeitenden Bereiche wie Zeichensetzung und Silbentrennung. Bei der Laut- Buchstaben-Zuordnung, der Schreibung mit Bindestrich sowie der Gross- und Kleinschreibung hingegen will die Politik Ruhe und nicht mehr mit Änderungswünschen konfrontiert werden. Ein frommer Wunsch. Denn der Rat, dem jetzt auch die vorher obstruktive Deutsche Akademie für Sprache und Literatur beigetreten ist, betont seine Unabhängigkeit von politischen Beschlüssen.«


( Neue Zürcher Zeitung, 4. Juni 2005 )

Außerdem:

- Kein Rechtschreibfrieden von Torsten Harmsen ( Berliner Zeitung )

- Mischmasch stiftet maximale Verwirrung" ( Leipziger Volkszeitung )

- Wieder nichts Fertiges ( Deutschlandradio )


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 04.06.2005 um 10.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#789

Es liegt jetzt an den Zeitungen, entweder einer Unsinn vorschreibenden Obrigkeit oder dem deutlich gewordenen Sachverstand des Rats zu folgen und zum guten Schriftdeutsch zurückzukehren. Jammern hilft nichts.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 04.06.2005 um 13.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#790

[Leserbrief an die Siegener Zeitung, Veröffentlichung ungewiß]

In der Siegener Zeitung vom 13. 11. 1996 kommentierten "Dudi und Dudeline" den "Reform-Dschungel" alias Rechtschreibreform folgendermaßen: "Ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Wege zu beschreiten, bereitet offenkundig sogar einigen Spaß, ...weil bisher Richtiges nunmehr falsch und Falsches plötzlich richtig ist." Dieses Urteil von Realschülern aus dem Freien Grund ist die beste Charakterisierung des Phänomens, die in der langen Zeitspanne zwischen damals und den gestrigen Beschlüssen zu hören war. Werden die heutigen Schülerinnen und Schüler genauso heiter reagieren, wenn sie demnächst das achteinhalb Jahre lang "richtig Falsche" wieder "echt richtig" schreiben müssen? Über die neuen "Handreichungen", die die Präsidentin der Kultusministerkonferenz gestern in Quedlinburg ankündigte, werden sich auch ihre Lehrer die Augen reiben. Soviel vorweg: Der Teil B der Neuregelung, "Getrennt- und Zusammenschreibung", ist restlos vom Tisch. Die zusammengesetzten Verben und Partizipien werden demnächst wieder "richtig" zusammengeschrieben, es gelten also nicht mehr die formalen "Proben" (Steigerung, Erweiterung, Rücktransformierung), die meistens zur Getrenntschreibung führten. Für Zeitungsleser wird dieser Umschwung erst sichtbar werden, wenn die Deutsche Presse-Agentur ihre Schreibungen revidiert. Heute schon haben die übertriebenen Getrenntschreibungen in den Zeitungen eher karikatureske Züge. Wir sollten übrigens nicht vergessen, daß wir die Wendung zum Guten zwei Politikern verdanken: Frau Schavan (Baden-Württemberg), die im vorigen Jahr die Kultusministerkonferenz bewog, die Zwischenstaatliche Kommission in die Wüste zu schicken und den Rat für deutsche Rechtschreibung einzurichten, und Herrn Zehetmair (Bayern), der seit einigen Monaten diesem Gremium präsidiert. Gestern erklärte er in Mannheim: „Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist nicht nur für die Schule, sondern auch für das Leben da." Die breite Öffentlichkeit müsse sich in ihrer geschrieben Sprache wohlfühlen und diese nicht als Fremdkörper ansehen. Das Motiv des Rates sei daher: „Wie sieht es der unverbildete Schreiber und Leser", betonte Zehetmair: „Wir müssen den Menschen zeigen, es ist ihre Sprache." So etwas hat man aus Politikermund seit 1996 nicht mehr gehört. Was auch immer die Unbelehrbaren in diesen Tagen schreiben, die am Linguistentisch entworfene und kultusbürokratisch durchgesetzte Rechtschreib-Reglementierung hat keine Zukunft.



Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 04.06.2005 um 16.22 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#792

Da muß man sich wirklich die Augen reiben, sollten Grammatikfehler wie "heute Abend" ein Zeichen der Zivilisation sein (zu Herrn Bollmann)? Das Schlimmste am Trauerspiel der Rechtschreibreform ist wohl, daß sie die Unfähigkeit der Journalisten hierzulande bloßgestellt hat ...

Es müßte einem Journalisten doch einleuchten, daß es einen Unterschied zwischen deskriptiven und präskriptiven Regeln gibt. (Bitte hinschauen, Herr Bollmann oder im Lexikon nachschauen). Nach dieser Erkenntnis müßte er doch dann im Sinne des investigativen Journalismus auch in der Lage sein, seine Leser entsprechend zu informieren.

Ich sage nur, "armes Deutschland", wenn die sogenannte vierte Macht nunmehr durch Ignoranten vertreten wird. Wo soll das enden ...




Kommentar von Ruth Salber-Buchmüller, verfaßt am 04.06.2005 um 18.38 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#793

...ich rieb mir auch soeben die Augen
bei der Lektüre der SZ von heute.
"Ohne Kopf durch die Wand" von Thomas Steinfeld.

Nach dieser ungeschminkten Wahrheit kann es sich die SZ
überhaupt nicht mehr leisten, bei dem Schwachsinn
zu bleiben. Dann hieße es auch für sie: Ohne Kopf durch
die Wand.


Kommentar von Orthographisches Denkbüchlein, verfaßt am 04.06.2005 um 21.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#794

Florilegium zum denkwürdigen deutschen Rechtschreibfreitag 3. Juni 2005

[Becker, Peter von - Tagesspiegel - 5.6.05] Zwar gehört das Thema Rechtschreibreform zur realen Politik. Doch haftet diesem Projekt bis heute noch etwas lebensfern Konstruiertes an. Weil ausgerechnet das Lebendigste, was wir zum Denken haben – unsere gesprochene und geschriebene Sprache –, die längste Zeit und gleichsam hinter den Kulissen der kulturellen und politisch-publizistischen Öffentlichkeit in die Hände von bürokratischen Schildbürgern gefallen war. Spät erst haben die Kultusminister und der neu geschaffene Rechtschreibrat gegenüber etlichen schon eingeschlichenen Verballhornungen einer inzwischen entmachteten Didaktiker-Kommission die Notbremse gezogen.

[Bollmann, Ralph - taz - 4.6.05] Jede "Recht"-Schreibung setzt, wie der Name schon sagt, die Setzung einer absolut künstlichen Norm voraus - so künstlich und in seiner praktischen Umsetzung zugleich so chaotisch, wie es alle Prozesse einer hoch entwickelten Zivilisation nun einmal sind.

[Demmer, Marianne - dpa - 4.6.05] Die Schüler seien «verunsichert, müssen mehrgleisig lernen und im schlimmsten Fall wieder umlernen», sagte die Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, auf dpa-Anfrage. Den Schulen bleibe jetzt nichts anders übrig, «als Toleranz zu üben und mehrere Rechtschreibmöglichkeiten zuzulassen».

[Dinges-Dierig, Alexandra - Hamburger Abendblatt - 4.6.05] "Die Neuregelung macht Sinn, weil sie manches vereinfacht, vieles logischer gestaltet", sagte die Hamburger Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig. "Der Rat für Rechtschreibung hat gute Arbeit geleistet und wird auch für die noch zu diskutierenden Bereiche abschließende Regelungen treffen. Bis dahin können Schülerinnen und Schüler die neuen oder alten Regeln verwenden, ohne daß dies auf Benotungen Einfluß hat."

[Eckinger, Ludwig - dpa - 4.6.05] Der Vorsitzendes des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Ludwig Eckinger sprach dagegen von einem «ärgerlichen» Appell an die «Toleranz» der Lehrer. Mit ihrem Beschluss schaffe die KMK «gerade keine Klarheit für Lehrer und Schüler». Zugleich sei der Beschluss «ein massiver Eingriff in die Arbeit des Rechtschreibrates und beschädigt die Unabhängigkeit des Gremiums».

[Erziehungsdirektorenkonferenz - sda - 3.6.05] Die KMK hatte bereits am Donnerstag beschlossen, für die strittigen, vom Rat noch diskutierten Fälle die Toleranz über den 1. August 2005 hinaus zu verlängern. Auch das EDK sieht laut einer Mitteilung dieses Vorgehen als sinnvoll an. Beschlossen sei aber noch nichts. Nur in den unbestrittenen Fällen werden Schulkindern der deutschsprachigen Länder also ab 1. August Fehler angerechnet. In den übrigen Ländern werden alte beziehungsweise falsche Schreibweisen weiter wie während der 7-jährigen Übergangsfrist zwar angestrichen, aber nicht gewertet. Neben der Getrennt- und Zusammenschreibung wollen die Sprachhüter auch Änderungen zur Silbentrennung und Zeichensetzung sowie zur Eindeutschung von Fremdwörtern vorlegen. Für die Laut-Buchstaben-Zuordnung, die Schreibweise mit Bindestrich sowie die Gross- und Kleinschreibung endet aber am 31. Juli die Übergangszeit bei der Fehlerkorrektur. Hier werden vom Rat keine Abänderungswünsche erwartet.

[FDS - S&R - 5.6.05] Die Grundschwierigkeit für den Rat besteht darin, daß er vom neuen Regelwerk ausgehen und gleichsam ein irrtümlich unter Denkmalschutz gestelltes Gebäude vollständig auskernen und im Innern neu bauen muß. Wer sich vor Augen führt, daß bei diesem Umbau etliche einst stolze Reformer und Verteidiger der Reform mitmachen, entweder selber Hand anlegend oder sich überstimmen lassend, der findet sich nach neun Jahren Umgang mit diesem Blödsinn auf einem weiteren Höhepunkt des Staunens. Mitmachen ist wichtiger als siegen. Einige Reformer im Rat gehen bei ihren Anträgen immer noch vom Regelwerk 1996 aus und haben offenbar vergessen, daß sie selber es im letzten Juni gründlich verändert haben.

[Forstbauer, Nikolai B. - Stuttgarter Nachrichten - 6.6.05] Was, wenn nicht ein langer ruhiger Fluss mit überraschenden Strudeln können Sprache und Sprachentwicklung sein? Ihre ständige Entwicklung ist Motor, Basis wie Teil jeder Sprache. Und so könnten gerade unter diesen Vorzeichen die Mitglieder der Kultusministerkonferenz und des Rats für Rechtschreibung den Schulterschluss wagen. Denn wer Neues in der Sprache möglich macht, muss deren Reichtum in der Gegenwart schätzen. Die Dichter und Dramatiker der Gegenwart haben guten Grund, diesen Reichtum zu verteidigen - und müssen doch bestätigen, dass auch dieser einer bloßen Systematik abgetrotzt ist. Die Reform ist eine neue Herausforderung für die Literatur, keine Blockade. Was bleibt? Die Unhöflichkeit etwa, die man sich mit dem kleingeschriebenen Du in der schriftlichen Anrede erlaubt. Eine unnötige Verengung der so gerne zitierten Umgangsformen.«

[Fussy, Herbert - APA - 3.6.05] Kritisch äußert sich zu den Änderungsplänen des Rates Herbert Fussy, verantwortlicher Redakteur des Österreichischen Wörterbuches: "Für Schüler und Lehrer ist das katastrophal. Seit Jahren wird nach den neuen Regeln unterrichtet - völlig problemlos. Das ewige Herumdoktern ist sinnlos - es wird dadurch alles nur anders, aber nicht besser." Das Hauptübel sei, dass ein von zahlreichen Gremien beschlossenes Projekt nach drei Jahrzehnten Diskussion kurz vor dem In-Kraft-Treten zum Teil fallen soll.

[Glebe, Bernd - dpa - 4.6.05] Nach dem Vorschlag der 36-köpfigen Runde soll nun die Devise gelten: Es soll wieder mehr zusammengeschrieben werden, was zusammengehört. Die Einigung kann als erster großer Erfolg der Sprachwächter angesehen werden, deren Gremium im vergangenen Jahr auf Druck der Öffentlichkeit von der Kultusministerkonferenz ins Leben gerufen worden war.

[Groß, Thomas - Mannheimer Morgen - 4.6.05] Die Sprachgemeinschaft sollte gelassen bleiben, es wenigstens versuchen. Das Benutzen der neuen Regeln steht den Meisten frei. Kein Großschriftsteller und kein Verfasser kleiner Anschreiben oder Briefe ist dazu gezwungen. Ein (zeitlich begrenztes) Nebeneinander ist weder Unordnung noch gar Chaos.

[Großmann, Karin - Sächsische Zeitung - 4.6.05] Es hat alles nichts genützt: Der Stängel bleibt. Der Stengel kehrt nicht zurück. Die Kultusminister finden diese Regel unstrittig. Sie erkennen auch einige andere Festlegungen der Rechtschreibreform an. Deshalb erklärten sie gestern diese Reform für verbindlich. Sie gilt wie geplant ab 1. August für Behörden und Schulen. Fehler werden nicht mehr nur angemerkt, sondern bewertet. Damit endet eine fast sieben Jahre währende Übergangsfrist mit einem zulässigen Nebeneinander von alter und neuer Schreibweise.

[Güntner, Joachim - Neue Zürcher Zeitung - 4.6.05] Der Paragraph, der nach dem Willen der Reformer bei Komposita mit Verben die Getrenntschreibung forderte, wo früher zur Kennzeichnung übertragener Wortbedeutungen zusammengeschrieben wurde, hat seit je den besonderen Zorn der Reformkritiker provoziert. Nun ist die Zusammenschreibung fast überall wieder in ihre alten Rechte eingesetzt.

[Guratzsch, Dankwart - DIE WELT - 4.6.05] Nein, strittig sind alle Bereiche der neuen Rechtschreibung: Große Verlage sind zur bewährten herkömmlichen Schreibweise zurückgekehrt, andere haben "Hausorthographien" eingeführt. Führende Schriftsteller, der deutsche Pen und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung haben das neue Regelwerk für Nonsens erklärt.

[Guratzsch, Dankwart - Berliner Morgenpost - 5.6.05] Müßten jetzt nicht endlich die Ministerpräsidenten die Sache an sich nehmen und die Kujonierung einer Sprachgemeinschaft von 100 Millionen Menschen durch eine Handvoll Buchstaben- und Kommaklauber in letzter Minute stoppen? Keine Schreibweise, kein Schulbuch, kein Duden ist mehr verbindlich. Die Schüler werden gezwungen, nicht für das Leben, sondern für die Schule zu lernen. Macht Schluß mit dem Spuk!

[Guratzsch, Dankwart - DIE WELT - 6.6.05] Die wichtigste Nachricht über die Rechtschreibreform ist am Wochenende fast untergegangen: Es wird einen radikalen Rückschnitt der neuen Regeln geben. Danach soll die neue Getrenntschreibung weitgehend wieder abgeschafft werden. Auch die Silbentrennung am Zeilenende und die Zeichensetzung werden völlig überarbeitet. Das zumindest empfiehlt der 36köpfige Rat für deutsche Rechtschreibung, den die Kultusminister eingesetzt hatten, um die strittige Reform zu retten. Allerdings: Diese "Reform der Reform" tritt nicht mit dem übrigen Reformwerk am 1. August in Kraft, sondern zu einem nicht genannten späteren Zeitpunkt. Dafür werden die übrigen Neuerungen wie Groß- und Kleinschreibung sowie Laut-Buchstaben-Zuordnung schon jetzt für "verbindlich" erklärt - obwohl gerade auch diese Neuerungen von Ungereimtheiten strotzen. Das hat zu einer fast einhelligen Ablehnung der Beschlüsse der KMK in den Medien und bei den Reformkritikern geführt.

[Guratzsch, Dankwart - DIE WELT - 6.6.05] Die viel einfachere und kostengünstigere Lösung wäre es demgegenüber, den Reformpfusch zu beenden und zur bewährten herkömmlichen Rechtschreibung zurückzukehren. Eine solche Kurskorrektur hätte nicht zuletzt einen fruchtbaren gesellschaftlichen Effekt. Die Schüler wüchsen nicht in der Schizophrenie einer klassenspezifisch geprägten Orthographie auf: hier die "hochsprachlichen" Schreibweisen, wie sie im klassischen und historischen Schriftgut überliefert ist und wie sie die Schriftsteller und Mitglieder der Wissenschaftsakademien pflegen, dort die "mediokren" Discountschreibweisen, wie sie an den Schulen verabreicht werden. Die eine und einzige, auf gute Traditionen gegründete und über hundert Jahre bewährte Rechtschreibung könnte wieder das sein, was sie früher war: ein hervorragendes Instrument der Integration.

[Güthert, Kerstin - Börsenblatt - 3.6.05) Wie Kerstin Güthert sagte, hat der Rat die Regeln der Getrennt- und Zusammenschreibung vereinheitlicht und in vielen Fällen eine Schreibweise gewählt, die sich an der Sprachpraxis orientiert. In bestimmten Fällen ist der Rat zu früheren Schreibweisen zurückgekehrt ("aufeinanderbeißen") oder hat Schreibvarianten zugelassen ("kennenlernen" / "kennen lernen"; "blankputzen" / "blank putzen"). Auch die Zusammenschreibung von idiomatisierten Adjektiv-Verb-Verbindungen wie "kaltstellen" oder "heiligsprechen" wird künftig wieder erlaubt sein. Nur noch klein und zusammengeschrieben werden darf künftig "leidtun", "kopfstehen" und "wundernehmen". Die meisten Beschlüsse der heutigen Ratssitzung seien, so Güthert, mit großer Mehrheit gefasst worden – teilweise sogar einstimmig. Offenbar ist es in einigen Fällen gelungen, selbst entschiedene Gegner der Reform für eine Konsenslösung zu gewinnen.

[Hanneken, Markus - Soester Anzeiger - 4.6.05] Man möchte verzweifeln angesichts solch einfältiger politischer Bockschüsse. Da brütet ein von den Kultusministern höchstselbst eingesetzter Expertenrat (und diesmal sind es tatsächlich Experten) mit qualmenden Köpfen über möglichen Korrekturen an der Rechtschreibreform - und noch bevor überhaupt die Empfehlungen komplett auf dem Tisch liegen, verkünden die Minister das verbindliche Inkrafttreten der ihrer Ansicht nach unstrittigen Fälle. Unabhängig von Sinn und Unsinn der betreffenden Fälle ist das eine Missachtung der Kompetenz des Rates, der nicht weniger als eine Mehrheit der Menschen in diesem Land vertritt. Als hätte die Umsetzung der im Kern nach wie vor sinnvollen Reform nicht schon genug Dilettantismus gesehen. Den meisten Bürgern mag es ja egal sein, wie sie schreiben, doch zehntausende Lehrer und Schüler (deren Beurteilung auch an der Rechtschreibleistung hängt!) müssen nun ebenso wie verzweifelte, kostengebeutelte Verlage mit einem weiteren linguistischen Provisorium leben. Beschämend.

[Harmsen, Torsten - Berliner Zeitung - 4.6.05] Die KMK-Präsidentin Johanna Wanka sagte am Freitag, irgendwann müsse auch in Deutschland eine Reform zum Ende kommen. Die Schüler würden "jetzt schon fast sieben Jahre nach den neuen Regeln ohne Probleme unterrichtet", und die Lehrer bekämen Handreichungen für die Übergangsphase. Aber es ist zu befürchten, dass der "Krieg" weitergeht, gerade weil Sprache ein organisches Gebilde ist und kein Feld für Experimente und Verordnungen. Im neuen Schuljahr könnte es zu einer Welle von Klagen kommen, weil Fehler in der Rechtschreibung für Schüler notenrelevant werden, obwohl in vielen Medien - Büchern und Zeitungen - noch immer alte Varianten gelten.

[Harmsen, Torsten - Berliner Zeitung - 4.6.05] Trotz des Erfolgs der Gegner einer sinnlosen Reformiererei zeigt sich, wie verfahren die Situation ist. Denn die KMK verkündete am selben Tag ihren Beschluss, dass jene Teile der Reform, die ihrer Meinung nach unstrittig seien, bereits zum 1. August eingeführt werden. Falsche Schreibweisen gelten von diesem Zeitpunkt an als Fehler. Für die strittigen Teile dagegen soll an den Schulen weiter eine Toleranzklausel gelten.

[Herles, Helmut - General-Anzeiger Bonn - 4.6.05] Gegenwärtig hätte es Willy Brandt mit seinem Satz „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen sorgen" schwer. Denn die Reformer selbst haben durch den Widerstreit von Anspruch und Wirklichkeit dafür gesorgt, dass „Reform" eher als etwas Bedrohliches empfunden wird. Zu dieser Gefühlslage, die zum Politikum geworden ist und notwendige Veränderungen behindert, gehört das Hin und Her um die Rechtschreibreform.

[Jasper, Martin - Braunschweiger Zeitung - 4.6.05] Eine Teil der Regeln für verbindlich zu erklären, den anderen aber nicht, muss vor allem an den Schulen für Chaos sorgen. Deshalb: Möglichst rasche Verbindlichkeit aller neuen Regeln. Und wer das so schrecklich findet, soll meinetwegen nach den alten Regeln weiterschreiben. Davon geht Deutschland auch nicht unter.

[Kohkemper, Ralph - Kölnische Rundschau - 3.6.05] Schüler und Behördenmitarbeiter, die nach dem 1. August weiterhin „daß" statt „dass" schreiben, schreiben falsch. Denn Teile der neuen Rechtschreibregeln gelten dann als verbindlich. Es gilt das Stammprinzip. Alle Wörter einer Wortfamilie werden gleich geschrieben. Aus dem Stengel (alt) zu Stange wird der Stängel, aus überschwenglich (alt) zu Überschwank wird überschwänglich. Und entsprechend ist ein Aufwand nun auch aufwändig. Aber, Ausnahme: aufwendig ist weiterhin auch richtig.

[Limberg, Margarete - Deutschlandfunk - 3.6.05] Aber damit ist die unendliche Geschichte der Rechtschreibreform noch nicht zu Ende. Sie bleibt ein Ärgernis, sie war es von Anfang an. Verantwortlich dafür sind die Reformeiferer, die sich gegen alle Einwände taub stellten, ebenso wie die Reformgegner, die, begleitet von einem publizistischen Trommelfeuer ohnegleichen, den Untergang des Abendlandes heraufbeschworen und von Schlechtschreibreform tönten. Schuld sind ebenso die Politiker, die auch berechtigte Kritik zunächst stur ignorierten und die nun in Gestalt der Kultusministerkonferenz eine Teilreform in Kraft gesetzt haben.

[Male, Eva - Die Presse - 6.6.05] Die Entscheidung der Deutschen Kultusministerkonferenz, der sich auch Österreich anschließen dürfte, scheint ein vernünftiger Kompromiss zu sein. Dort wo sich die Reform in der Praxis als unbrauchbar erwies - eben in der Frage der Getrennt- und Zusammenschreibung - schaltet man nun nicht auf stur, sondern modifiziert die Regeln. Bei strittigen Wörtern will man die Schreibweise bis zur Klärung durch ein Expertengremium, den Rat für Deutsche Rechtschreibung, freistellen. Letzteres ist ohnehin die Lieblingsvariante der Schüler .

[Meidinger, Heinz-Peter - dpa - 4.6.05] Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, nannte den Beschluss «nachvollziehbar». Meidinger: «Wir können damit gut leben.» Weder die Kultusminister noch der Rat sollten sich durch die «regelmäßigen Querschüsse von Fundamentalgegnern der Reform verunsichern lassen.»

[Meraner, Rudolf - Südtirol Online - 7.6.05] "Der Rat für Rechtschreibung legte den Grundstein für ein Ende des Streites um die Rechtschreibreform. Im umstrittensten Teil, dem der Getrennt- und Zusammenschreibung der Verben, wurde ein Kompromiss gefunden, der eine breite Mehrheit fand und auch die meisten Reformgegner zufrieden stellt", so bewertet der Direktor des Pädagogischen Instituts, Rudolf Meraner, die Ergebnisse der jüngsten Sitzung des Rates für Rechtschreibung. Meraner vertritt Südtirol in diesem Gremium, in dem er seit der jüngsten Sitzung auch über Stimmrecht verfügt. Die Neuregelung berücksichtigt stärker den Sprachgebrauch und das Sprachgefühl der Schreibenden, führt aber gleichzeitig dazu, dass die Regeln komplizierter werden und die Lernenden wieder vermehrt Ausnahmen berücksichtigen müssen.

[Mohr, Mirjam - Frankfurter Rundschau - 4.6.05] Dem ständigen Druck gab die für das "Reförmchen" zuständige KMK im vergangenen Jahr teilweise nach und erlaubte, dass die besonders strittigen Bereiche einer Überprüfung unterzogen werden. Länger als ursprünglich geplant brütet seither der Rat für deutsche Rechtschreibung darüber, ob bei Getrennt- und Zusammenschreibung, Worttrennung und Interpunktion doch wieder die "bewährten" Regeln gelten sollen. Da es bisher noch keine Entscheidungen gibt, bleiben diese Bereiche auch nach dem 1. August zunächst noch unverbindlich.

[Olbertz, Jan - Stadtanzeiger für Quedlinburg - 5.6.05] In den Schulen wird bereits seit mehr als fünf Jahren nach dem neuen Regelwerk unterrichtet. Die neue Rechtschreibung, die als Jahrhundertreform gedacht war, aber allein in den sechs Jahren ihres Bestehens vor allem eines gestiftet: Unfrieden und endlosen Streit, gilt nicht zwingend im Privatgebrauch. Das hob Sachsen-Anhalts Kultusminister Prof. Jan Olbertz hervor. "Dort können sie schreiben, wie sie wollen", sagte er. Allerdings ermahnte er noch einmal vor allem die Print-Medien, sich der Reform nicht zu verweigern. Die Verbreitung der neuen Rechtschreibung durch Zeitungen und Zeitschriften sei eine wichtige gesellschaftliche Verantwortung, hob er hervor. Jugendliche und Kinder dürften gerade in ihrer Muttersprache nicht in ein "Wirrwarr" gestürzt werden.

[Otto, Hans-Joachim - FDP-Bundestagsfraktion - 3.6.05] Es ist eine Absurdität, daß die Kultusminister einige, angeblich "unstrittige" Teilbereiche der Rechtschreibreform in Kraft setzen, während an anderen Bereichen noch gearbeitet wird. Dies gilt um so mehr, als die strittigen und die nur vorgeblich unstrittigen Bereiche mitnichten klar voneinander abzugrenzen sind. Vor allem aber zeugt die Entscheidung von einem erschreckenden Bild, das die KMK von der deutschen Sprache haben muß. Es handelt sich schließlich nicht um ein künstlich gesetztes Regelwerk, sondern um eine gewachsene Sprache, deren Regeln sich nicht nach bürokratischem Gutdünken teilen lassen.

[Rüttgers, Jürgen - Welt am Sonntag - 5.6.05] Während der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, den KMK-Beschluß als nachvollziehbar und praxisorientiert begrüßte, bezeichnete der CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers die von der Kultusministerkonferenz gefaßten Beschlüsse zur Rechtschreibreform als "nicht ausgereift". Der "Welt am Sonntag" sagte er: "Ich frage mich, warum die Kultusministerkonferenz wichtige Entscheidungen um ein Jahr vertagt hat. Jetzt soll der Rat für Rechtschreibung erneut Vorschläge machen, um die verkorkste Reform zu reparieren. Schüler, Lehrer und Studenten brauchen endlich Klarheit über die Rechtschreibung. Die Reform darf nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. Ich bleibe bei meiner Auffassung, daß es bedenklich ist, wenn sich politische Gremien wie die KMK über den Rat von Experten hinwegsetzen, wie es bei der Rechtschreibreform seit Jahren praktiziert wird."

[Saurer, Otto - Südtirol Online - 7.6.05] Bildungslandesrat Otto Saurer, der sich dafür eingesetzt hatte, dass Südtirol ein Mitspracherecht im Rat für Rechtschreibung eingeräumt wurde und dadurch auch Informationen aus erster Hand erhält, erwartet sich, dass mit dem Kompromissvorschlag, die jahrelangen Diskussionen um die Rechtschreibreform beendet werden und Sicherheit für die Schulen geschaffen wird. Wenn tatsächlich ein Sprachfrieden im gesamten deutschen Sprachraum eintritt, können die Kompromissvorschläge akzeptiert werden.

[Schleider, Tim - Stuttgarter Zeitung - 4.6.05] Achtung, es gibt eine gute Nachricht zum Thema Rechtschreibreform! Seit Freitag arbeitet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung doch noch mit im Expertenrat für Rechtschreibung. Damit haben nun auch die beinahe schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform von 1996 ihre Bereitschaft bekundet, an einem Kompromiss in allen strittigen Fällen der neuen Rechtschreibung mitzuwirken - und diesen hinterher auch mitzutragen!

[Schleider, Tim - Stuttgarter Zeitung - 4.6.05] Zehetmaier gab auf einer Pressekonferenz zu, dass solches Zusammenschreiben innerhalb des Gesamtregelwerks der Rechtschreibung zwar unlogisch sei, aber eben dem "mehrheitlichen Sprachgefühl" entspreche. "Der Sprachgebrauch steht vor systematischen Regeln."

[Schmidt, Helmut - DIE ZEIT - 9.6.05] Das Ausweichen in immer neue Gesetze und Paragrafen nützt niemandem, kommen sie nun aus Brüssel oder aus Berlin. Wenn deutsche Länderparlamente sich mit der Umsetzung (in deutsches Recht) einer überflüssigen europäischen Richtlinie für die Gestaltung von Seilbahnen beschäftigen müssen oder wenn die deutsche Kultusministerkonferenz zum wiederholten Male, aber immer überflüssigerweise, die Rechtschreibung neu ordnen will, dann liegt dem die überall in Europa grassierende Sucht zugrunde, alles und jedes regulieren und verordnen zu wollen.

[Schmoll, Heike - Frankfurter Allgemeine - 3.6.05] Offensichtlich haben die Kultusminister nichts aus ihrem größten politischen Fehler gelernt, der staatlichen Einmischung in die Sprachentwicklung. Hatte die Rücknahme der neuen Regeln der Getrennt- und Zusammenschreibung durch den Rat für deutsche Rechtschreibung die Hoffnung genährt, daß nun nicht mehr die Kultusbürokratie und der Schulgebrauch sowie falsche Rücksichten auf Schulbuchverlage maßgeblich sind, sondern der Sprachgebrauch und seine sprachwissenschaftliche Richtigkeit, so kann der jüngste Beschluß der Kultusminister nur als Rückschlag gewertet werden.

[Schmoll, Heike - Frankfurter Allgemeine - 3.6.05] Unter diesen Bedingungen ist Schülern nicht begreiflich zu machen, daß Rechtschreibung mit Sprache zu tun hat und nicht geschmäcklerisch von Fall zu Fall entschieden werden kann. Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat wohl zu große Unabhängigkeit bewiesen und soll nun wieder gezügelt werden, war er doch zur Besänftigung der Reformgegner gedacht. Widersetzt der Rat sich nicht, gerät er unweigerlich in die Rolle des Hofnarren.

[Schulte, Bettina - Badische Zeitung - 4.6.05] Zuerst die gute Nachricht: Die Bürokraten der Kultusministerkonferenz haben ihr Gesicht gewahrt - einerseits. Und die Experten des Rates für Rechtschreibung haben Änderungen in Teilen der Rechtschreibreform durchgesetzt - andererseits. So ist zustande gekommen, was man einen Kompromiss nennt. Dem gemeinen Volk kann die politische Seite des nun schon sieben Jahre währenden Streits um die rechte Schreibung der deutschen Sprache allerdings egal sein.

[Spiegel, Hubert - Frankfurter Allgemeine - 5.6.05] Es gibt keinen nennenswerten Bereich dieses Reformwerks, der nicht umstritten wäre. Diese Tatsache läßt sich von keinem Kultusminister aus der Welt lügen. Wie aber ist dieses ans Wahnhafte grenzende Narrenspiel der Minister zu erklären? Zunächst die gute Nachricht: Es läßt sich erklären, denn es waltet Kalkül in ihm. Und die schlechte Nachricht? Dieses Kalkül ist von größter Infamie. Die Kultusminister haben geglaubt, sie hätten mit dem Rat für Rechtschreibung ein willfähriges Instrument geschaffen. Mehrheitlich besteht der Rat, der Beschlüsse nur mit Zweidrittelmehrheit fassen kann, aus den Konstrukteuren der Reform. An seine Spitze wurde mit Hans Zehetmair ein Kollege berufen, der als ehemaliger Kultusminister Bayerns die Reform selbst über Jahre befördert hatte. Was sollte da noch passieren? Zehetmair hat das wahrlich unbequeme Amt des Ratsvorsitzenden jedoch aus einem Motiv übernommen, das offenbar jenseits der Vorstellungskraft seiner Politikerkollegen liegt: Er möchte eine Fehlentwicklung, an der er beteiligt war, zum Besseren wenden. Und der Rat hat den Mut und die Kraft gefunden, ihm auf diesem Weg zu folgen.

[Spiegel, Hubert - Frankfurter Allgemeine - 5.6.05] Drei Befunde liegen seit dem Wochenende auf dem Tisch. Erstens: Die Einheit der Rechtschreibung wird auch nach dem 1. August nicht gegeben sein, nicht im Bereich der Schulen, geschweige denn in der Öffentlichkeit. Zweitens: Der Rat für Rechtschreibung hat bewiesen, daß er zu unabhängiger und konstruktiver Arbeit fähig ist. Drittens: Die Kultusministerkonferenz ist und bleibt eine Versammlung blindwütiger Flickschuster.

[Steinfeld, Thomas - Süddeutsche Zeitung - 4.6.05] Der schönste Satz in der Verlautbarung zur deutschen Rechtschreibung, mit der die deutschen Kultusminister am gestrigen Freitag an die Öffentlichkeit gegangen sind, ist dieser: "Der aktuelle Stand des Regelwerks und das Wörterverzeichnis ist im Internet zugänglich."

[Steinfeld, Thomas - Süddeutsche Zeitung - 4.6.05] Eine große Zahl von Möglichkeiten tut sich hier auf, und nur eines ist gewiss: Keine von ihnen wird die verbindliche, einheitliche Rechtschreibung wiederherstellen, wie es sie bis 1996 ganz selbstverständlich gegeben hatte. Sie ist verloren und wird verloren bleiben, bis sich, vielleicht in einer Generation oder in fünfzig Jahren, alle sinnwidrigen und ungrammatikalischen Regelungen abgeschliffen haben werden.

[Steinfeld, Thomas - Süddeutsche Zeitung - 4.6.05] Und so ist vor allem eines gewiss: Eine verbindliche, gesellschaftlich durchgesetzte deutsche Rechtschreibung gibt es nicht mehr, und die Schule wird an ihrer Aufgabe scheitern, eine einheitliche Schriftsprache zu vermitteln.

[Steinfeld, Thomas - Süddeutsche Zeitung - 4.6.05] Und warum dieser Quatsch? Weil die Kultusminister es nicht ertragen können, dass sich die Rechtschreibung dem amtlich Dekret entzieht. Weil sie meinen, es mit ihrem Amt nicht vereinbaren zu können, wenn ein Gremium von Experten und Betroffenen, das sie selbst eingesetzt haben, ihnen widerspricht.

[Wallet, Nobert - Kölnische Rundschau - 3.6.05] Jetzt hilft nichts mehr. Die seit 1996 beschlossene Rechtschreibreform wird nun verbindlich in Kraft treten. Die Sache hat nur einen Haken. Nach dem gestern offiziell verkündeten Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) gibt es auch weiterhin einen Toleranzbereich. Er betrifft laut KMK die Fragen, "in denen der Rat für deutsche Rechtschreibung seine Beratungen noch nicht abgeschlossen hat, jedoch Änderungsvorschläge zu erwarten sind".

[Zehetmair, Hans - dpa - 3.6.05] Mit den Änderungsvorschlägen trete der Rat der Tendenz der Rechtschreibreform entgegen, möglichst viel auseinander zu schreiben, erklärte Zehetmair. Die Sprache sei kein Verordnungsgegenstand, sondern ein organisches Gebilde. Die «Konsumenten» der Sprache seien nicht nur die Kinder und die Lehrer, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Der Sprachgebrauch stehe vor systematischen Regeln.

[Zehetmair, Hans - dpa - 4.6.05] Neben der guten Botschaft der Einigung hatte Zehetmair auch noch eine Botschaft parat: "Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist nicht nur für die Schule, sondern auch für das Leben da." Die breite Öffentlichkeit müsse sich in ihrer geschrieben Sprache wohlfühlen und diese nicht als Fremdkörper ansehen. Das Motiv des Rates sei daher: "Wie sieht es der unverbildete Schreiber und Leser", betonte Vorsitzende. "Wir müssen den Menschen zeigen, es ist ihre Sprache."

[Zehetmair, Hans - SPIEGEL - 6.6.05] SPIEGEL: Herr Zehetmair, die Kultusministerkonferenz (KMK) hat diese Woche beschlossen, die reformierte Rechtschreibung zum 1. August in Schulen und Behörden einzuführen – auch solche Teile, die Ihr Rat noch gar nicht geprüft hat, wie etwa die Groß- und Kleinschreibung. Fühlen Sie sich bloßgestellt? Zehetmair: Ich unterstelle der KMK nicht, dass sie uns düpieren wollte. Sie hat uns schließlich letztes Jahr beauftragt, die strittigen Regeln der Rechtschreibrefom zu prüfen. Man muss den Kultusministern aber schon raten, besonders behutsam und zurückhaltend mit Fragen der Rechtschreibung umzugehen. Wir werden uns wie geplant gegen Ende des Jahres auch die Groß- und Kleinschreibung vornehmen. Wir sind ein völlig unabhängiges Gremium.

[Zehetmair, Hans - SPIEGEL - 6.6.05] SPIEGEL: Eine Reform wird teilweise eingeführt, muss dann eventuell nach Ihrem Votum wieder teilweise zurückgenommen werden – wie soll irgendjemand das beispielsweise Schülern noch vermitteln? Zehetmair: Es droht ein gewisses Durcheinander, aber am schlechtesten wäre es gewesen, die Reform vollständig in Kraft treten zu lassen. Und die KMK-Verwaltung hat ja tatsächlich darüber nachgedacht, für die gesamte Reform ein Moratorium zu erwirken. Keine schlechte Idee, doch wir brauchen für unsere Arbeit noch Jahre.

[Zehetmair, Hans - SPIEGEL - 6.6.05] SPIEGEL: Wird es dann eine Reform der Reform geben? Zehetmair: Es kann sogar sein, dass es mehrere Reformen geben wird, da wir ja auch die Sprachentwicklung über die Jahre beobachten und dann sehen, was sich im Sprachgebrauch durchsetzt. Außerdem ist es mir gelungen, drei prominente Reformgegner für den Rat zu gewinnen. Wir werden zu Mehrheitsentscheidungen über vernünftige Korrekturen kommen – und diese dann auch durchsetzen.

[Zehtmair, Hans - Focus - 6.6.05] Es handle sich aber nicht um eine „Rolle rückwärts", so Zehetmair. „Wir müssen den Menschen jedoch vermitteln, dass es ihre Sprache ist." Deutlich kritisierte er eine generell ablehnende Haltung gegenüber der Neuregelung. Man müsse vermeintliche Ruhmesäußerungen von Kritikern stoppen, die „sich um die neue Rechtschreibung nicht scheren und bei der alten bleiben wollen". Es seien dies Kritiker, die bis in politische Spitzen hineinreichen.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 04.06.2005 um 22.10 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#795

Bei dem Wort "das gemeine Volk" reißt es mich jedesmal. Es ist herabsetzend.


Kommentar von rrbth, verfaßt am 05.06.2005 um 14.23 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#805

Zweifelhafte Übung
Die Sächsische Zeitung hat auch eine Online-Version.

Dort kommentiert „Karin Großmann“ „alte und neue Rechtschreibregeln“ in einer Art und Weise, daß man nicht weiß, soll man lachen oder weinen:

Zur Sicherung des Rechtschreibfriedens finanziert die Bundesregierung sogar ihre Gegner selbst, einen „Rat für deutsche Rechtschreibung“.

Normalerweise hab ich keine Probleme Ironie zu erkennen. Hier bin ich mir aber nicht sicher.



Kommentar von Financial Times, verfaßt am 05.06.2005 um 15.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#808

Auch der Bericht der Financial Times Deutschland widerlegt die tollkühne Behauptung der Kultusminister von den "unstrittigen" Bereichen der Rechtschreibreform, die jetzt in Kraft treten könnten. Eine Umfrage ergab, daß nur wenige Leser mit der neuen Rechtschreibung zurechtkommen. Da fragt man sich, weshalb die FTD sie dann damit plagt.


Kommentar von FAZ, verfaßt am 05.06.2005 um 18.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#810


»Die Marktführer


Es war Mark Twain, der die Wahrheit als unser kostbarstes Gut bezeichnete und empfahl, möglichst sparsam damit umzugehen. Nirgendwo dürfte diese Maxime auf fruchtbareren Boden gefallen sein als bei den deutschen Kultusministern, den Weltmarktführern in Sachen Einfalt und Schamlosigkeit. Hatten die Kultusminister den Schülern, Eltern und Lehrern nicht versprochen, daß zum 1. August eine verbindliche Rechtschreibung in Kraft treten würde, die alle Unsicherheiten beseitigen sollte? Statt dessen hat die Kultusministerkonferenz nach ihrer Sitzung am Freitag einen Torso präsentiert: Die neue Rechtschreibung wird zum Stichtag in weiten Teilen verbindlich, aber die besonders gewichtigen Bereiche der Getrennt- und Zusammenschreibung bleiben davon vorerst ausgenommen. Am selben Tag hat der von den Kultusministern eingesetzte Rat für Rechtschreibung beschlossen, für diese Bereiche die Rückkehr zu den bewährten Regeln zu empfehlen. Und noch schlimmer: Die Kultusminister erklärten die "unstrittigen Teile" des Regelwerks für verbindlich, während ihre Experten ankündigten, sich in den nächsten Sitzungen ebendieser Bereiche annehmen zu wollen. Denn es gibt keinen nennenswerten Bereich dieses Reformwerks, der nicht umstritten wäre. Diese Tatsache läßt sich von keinem Kultusminister aus der Welt lügen. Wie aber ist dieses ans Wahnhafte grenzende Narrenspiel der Minister zu erklären? Zunächst die gute Nachricht: Es läßt sich erklären, denn es waltet Kalkül in ihm. Und die schlechte Nachricht? Dieses Kalkül ist von größter Infamie. Die Kultusminister haben geglaubt, sie hätten mit dem Rat für Rechtschreibung ein willfähriges Instrument geschaffen. Mehrheitlich besteht der Rat, der Beschlüsse nur mit Zweidrittelmehrheit fassen kann, aus den Konstrukteuren der Reform. An seine Spitze wurde mit Hans Zehetmair ein Kollege berufen, der als ehemaliger Kultusminister Bayerns die Reform selbst über Jahre befördert hatte. Was sollte da noch passieren? Zehetmair hat das wahrlich unbequeme Amt des Ratsvorsitzenden jedoch aus einem Motiv übernommen, das offenbar jenseits der Vorstellungskraft seiner Politikerkollegen liegt: Er möchte eine Fehlentwicklung, an der er beteiligt war, zum Besseren wenden. Und der Rat hat den Mut und die Kraft gefunden, ihm auf diesem Weg zu folgen. Was tut in dieser Situation die KMK? Sie verkündet ihre konterkarierenden Beschlüsse, während der Rat noch tagt. Deutlicher kann man die Geringschätzung eines Gremiums nicht demonstrieren. Aber es geht um mehr als nur Geringschätzung: Die Kultusminister wollen den Rat zermürben und desavouieren, bevor er in der Öffentlichkeit jene Position einnimmt, die ihm die Minister selbst einmal zugedacht hatten. Der Rat sollte die Entwicklung der deutschen Sprache und ihres Gebrauchs beobachten und kommentieren und die Kultusministerkonferenz in ihren Beschlüssen beraten. Die Legitimation, die er dazu benötigt, kann ihm nicht verliehen werden, sie will erworben sein. Genau dies wollen die Kultusminister nun verhindern, denn ein Gremium, das nicht nach ihrer Pfeife tanzt, darf es nicht geben. Drei Befunde liegen seit dem Wochenende auf dem Tisch. Erstens: Die Einheit der Rechtschreibung wird auch nach dem 1. August nicht gegeben sein, nicht im Bereich der Schulen, geschweige denn in der Öffentlichkeit. Zweitens: Der Rat für Rechtschreibung hat bewiesen, daß er zu unabhängiger und konstruktiver Arbeit fähig ist. Drittens: Die Kultusministerkonferenz ist und bleibt eine Versammlung blindwütiger Flickschuster. igl«


( F.A.Z., 06.06.2005, Nr. 128 / Seite 29 )


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 05.06.2005 um 22.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#813

Bemerkenswert ist, daß sich in der Redaktion der als Qualitätszeitung renommierenden "Frankfurter Rundschau" niemand bereitfand bzw. dazu in der Lage befand, einen solchen Unsinn zu verzapfen, wie ihn die Agentur AP in ihrem mit "Mirjam Mohr" namentlich gekennzeichneten Beitrag geliefert hat. Das ist so oder so eine gute Nachricht: auch dann, wenn sich der Rückgriff auf Fremdmaterial aus der wohl immer noch prekären wirtschaftlichen Lage dieses reformbeflissenen Blattes erklärt - und in diesem Falle gerade eben deshalb. (Kleiner Trost für Freunde der FR: Immerhin hat sie ihre Abhängigkeit von vorfabrizierter Meinung nicht zu kaschieren versucht. Viele andere Zeitungen unterdrücken in solchen Fällen die Angabe der Agentur und geben den Text als Korrespondenten- oder Mitarbeiterbeitrag aus.) Aufschlußreich für eine Einschätzung der Lage bei den Tageszeitungen wäre es, zu erfahren, welche Zeitungen sonst noch den AP-Text ins Blatt gehoben haben. Meines Wissens ist der Artikel von Mirjam Mohr der einzige Meinungsbeitrag, den deutsche Nachrichtenagenturen am Freitag für die Samstagsausgaben (4.6.) angeboten haben.


Kommentar von rrbth, verfaßt am 06.06.2005 um 10.55 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#816

Im Spiegel (23/2005, S. 21) antwortet Hans Zehetmair, der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, auf die Frage:
SPIEGEL: Wird es dann eine Reform der Reform geben?
Zehetmair: Es kann sogar sein, dass es mehrere Reformen geben wird, da wir ja auch die Sprachentwicklung über die Jahre beobachten und dann sehen, was sich im Sprachgebrauch durchsetzt. Außerdem ist es mir gelungen, drei prominente Reformgegner für den Rat zu gewinnen. Wir werden zu Mehrheitsentscheidungen über vernünftige Korrekturen kommen – und diese dann auch durchsetzen.“

Na also!


Kommentar von Berliner Zeitung, 4. 6. 2005, verfaßt am 07.06.2005 um 18.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#847

Dunkle Energie

Wir haben kurz darüber berichtet: Ein Supercomputer im bayerischen Garching hat die Entstehung des Universums simuliert, das heißt: die Geschichte von zwanzig Millionen Galaxien. Die Simulation bestätigte, dass das Universum zu etwa 70 Prozent aus "dunkler Energie" besteht, einem mysteriösen Kraftfeld, dessen Struktur man noch nicht erfassen kann.
Der Erfolg trieb jetzt die Wissenschaftler auf eine höhere Stufe. Sie begannen, den Computer mit Daten der deutschen Politik zu füttern: mit gigantischen schwarzen Haushaltslöchern; mit Zeit und Raum beherrschenden Streithaufen unter Namen wie Rente, Krankenkassen, Pflege, Kopfpauschale, Mehrwertsteuer, Dosenpfand; mit astronomischen Blasen wie dem Elite-Uni-Wettbewerb oder mit substanzzerstörenden Prozessen wie der Rechtschreibreform.

Leider hat der Computer schlappgemacht. Das Weltall ist eben einfacher zu berechnen als das Politik-Universum. Forscher, die vor dem Absturz noch einen Blick auf die ersten Messergebnisse werfen konnten, bestätigen, das auch hier viel "dunkle Energie" zu finden war. Torsten Harmsen


Kommentar von Stuttgarter Nachrichten, verfaßt am 08.06.2005 um 11.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#853

»Lasst Wörter blühen
VON NIKOLAI B. FORSTBAUER


Ausreden gibt es jetzt keine mehr, von 1. August an gilt endgültig, dass aufwändig ist, was mit Aufwand verbunden ist, und dass eine Schifffahrt nochmal so schön ist, wenn sie mit einem Kuss verbunden wird. 1996 beschlossen, seit 1998 Praxis an deutschen Schulen, tritt die Rechtschreibreform nun offiziell in Kraft - so will es die Kultusministerkonferenz, und so will es, oh Wunder, auch der von Bayerns Ex-Kultusminister Klaus
[sic!] Zehetmair geleitete Rat für Rechtschreibung. Die Logik ist verblüffend: Gerade weil die Rechtschreibreform in Kraft tritt, bleibt Raum für Änderungen. Des Rätsels Lösung: Der Rat für Rechtschreibung agiert im Schulterschluss mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung - und damit sitzen die Kritiker der Reform nicht nur mit im Entscheidungsboot, sie dürfen auch ans Steuer.

Jedoch: Der eigentliche Kurs ist schon lange festgelegt. Da ist vor allem die Laut-Buchstaben-Zuordnung - womit Wortstammableitungen wie überschwänglich ebenso gemeint sind wie das doppelte s nach kurzem Vokal, die dreifachen Buchstaben bei zusammengesetzten Wörtern wie dem berühmten Betttuch, und schließlich auch das Ermessen, Fremdwörter zu schreiben wie sie gesprochen werden. Was etwa der Mayonnaise die Chance gibt, als Majonäse neu entdeckt zu werden. Und auch die Groß- und Kleinschreibung soll bleiben wie 1996 beschlossen, was Klaus Zehetmair am Beispiel Eis laufen - zu dieser Jahreszeit eher unüblich - zu der Bemerkung verleitete, es wäre ja auch nicht wirklich etwas gegen das Eislaufen einzuwenden. Denn: "Der aktive Gebrauch der Sprache hat Vorrang vor bloßer Systematik."

War also, ist also die Diskussion um die Rechtschreibreform, die befürchtete und in Teilen auch realisierte Reform der Reform, überflüssig? Keineswegs. Sie entspricht vielmehr jener einfachen Logik, dass Sprache, mithin auch streng geregelte Sprache, immer Wege findet, Blüten zu treiben, mit Sprache und durch Sprache eben diese versteckt oder offen in Frage zu stellen. Neun Jahre Debatte können nicht irritieren, da doch die Sprache ebenso in Jahrzehnten, Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, wie auch in wenigen Jahren, Monaten oder gar Tagen Neues gebiert, Altes in Frage stellt. Und keineswegs wäre es lächerlich gewesen, die rechtliche Praktizierung der Reform noch einmal um ein Jahr zu verschieben - um etwa im Ringen zwischen Kultusministerkonferenz und Rat für Rechtschreibung die kritischen Punkte der Groß- und Kleinschreibung detailliert zu erörtern.

Zugleich gilt: Die heute 13- oder 14-Jährigen können das Ringen der Erwachsenen um die wortreiche Lufthoheit über das richtige Schriftdeutsch kaum verstehen. Sie sind mit der Reform, über die Reform und durch die Reform hindurch in die nun gültige Schriftsprache hineingewachsen. Nimmt ihnen das die Möglichkeit, eben diese Schriftsprache auf den jetzigen Regelgrundlagen zu bereichern - mit Wortfindungen etwa? Wohl kaum. Und die Lehrer? Viele Pädagogen, so verbreiten es Reformgegner wie der Erlanger Germanist Theodor Ickler, hätten "es längst aufgegeben, den verschlungenen Wegen der permanenten Revision zu folgen".

Die Gegenfrage aber kann nur lauten: Was, wenn nicht ein langer ruhiger Fluss mit überraschenden Strudeln können Sprache und Sprachentwicklung sein? Ihre ständige Entwicklung ist Motor, Basis wie Teil jeder Sprache. Und so könnten gerade unter diesen Vorzeichen die Mitglieder der Kultusministerkonferenz und des Rats für Rechtschreibung den Schulterschluss wagen. Denn wer Neues in der Sprache möglich macht, muss deren Reichtum in der Gegenwart schätzen. Die Dichter und Dramatiker der Gegenwart haben guten Grund, diesen Reichtum zu verteidigen - und müssen doch bestätigen, dass auch dieser einer bloßen Systematik abgetrotzt ist. Die Reform ist eine neue Herausforderung für die Literatur, keine Blockade. Was bleibt? Die Unhöflichkeit etwa, die man sich mit dem kleingeschriebenen Du in der schriftlichen Anrede erlaubt. Eine unnötige Verengung der so gerne zitierten Umgangsformen.«


( Stuttgarter Nachrichten, 6. Juni 2005 )


Kommentar von Frankfurter Rundschau / Leserbriefe, verfaßt am 08.06.2005 um 15.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#857

»Zum Thema: Neue Rechtschreibung zum 1. August

Regeln umstritten


Die in Ihrer Meldung als "weitgehend unstrittig" bezeichneten Regeln sind es nicht. Die bedeutendsten Verlage und Autoren, unter ihnen die Literaturnobelpreisträger Grass und Jelinek, halten sich nicht an sie und fordern seit Jahren den Abbruch der Reform. Die Kultusministerkonferenz ist weder fähig noch befugt, die deutsche Rechtschreibung zu regeln. René Grube, Berlin«


( Frankfurter Rundschau / Leserbriefe, 04.06.2005 )


Kommentar von Jungle World, 8. 6. 2005, verfaßt am 09.06.2005 um 19.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#871

Jetzt geht’s los!

Rechtschreibreform. Kein Zurück mehr, die Rechtschreibreform wird ab 1. August verbindlich. Ganz sicher. Wahrscheinlich. Auch wenn das Ergebnis einer Konferenz der Kultusminister Entschlossenheit suggerieren soll, geht in Wahrheit das Kuddelmuddel ja weiter, das dürfte allen klar sein. Man wolle, so heißt es nach der Konferenz, die Reform nun tatsächlich verbindlich machen, bei ungeklärten Fällen sollen die Lehrer jedoch weiterhin »Toleranz« üben. Was so viel heißt wie: Das Chaos geht weiter, es soll höchstens weniger Chaos geben.

Gewonnen ist mit dieser Demonstration von Durchsetzungswillen schließlich gar nichts. Printmedien, die allesamt inzwischen zu privaten Formen der Rechtschreibung übergegangen sind, werden kaum ihre mühsam zusammengeklopften Regelwerke verwerfen, nur weil die Kultusminister mal wieder irgendetwas beschlossen haben, was eh wieder nur mit Einschränkungen gilt. Der Spaß mit der Rechtschreibreform wird also weitergehen. Jeder schreibt, wie er will, und Kommas werden nach selbst erfundenen Regeln gesetzt, die Anarchie in Deutschland kommt dann demnächst. (aha)


Kommentar von Börsenblatt, verfaßt am 09.06.2005 um 22.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#874

Schreibtoleranzen

Ab 1. August gibt es einen Punktabzug: Wer dann noch in der Schule »Stengel« statt »Stängel« schreibt, kann nicht mehr mit Nachsicht rechnen. Die nicht ganz so strittigen Teile der Orthografiereform treten zu diesem Zeitpunkt in Kraft, hat die Kultusministerkonferenz (KMK) vergangene Woche entschieden. Mit Rücksicht auf den Rat für deutsche Rechtschreibung soll aber für die besonders strittigen Teile (vor allem Worttrennung und Interpunktion) eine Toleranzklausel gelten. Ob die Kultusminister mit diesem Beschluss den Rechtschreibfrieden wiederherstellen können, bleibt offen. Für Andreas Baer, Geschäftsführer des VdS Bildungsmedien, ist die Entscheidung ein »logischer Schritt«. Es sei nun eine Konsenslösung gefunden, mit der alle Beteiligten gut leben könnten. Die angemessenen Übergangsfristen setzten die Verlage nicht unter Druck. Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS) hat hingegen in einer Entschließung vom 4. Juni – unter anderem mit den Stimmen des Verlegers Michael Klett und des Sprachwissenschaftlers Theodor Ickler (PEN-Vertreter im Rechtschreibrat) – ihre grundsätzliche Ablehnung der Reform unterstrichen.
Der inzwischen 38-köpfige Rat für deutsche Rechtschreibung (nun auch mit Vertretern aus Liechtenstein und Südtirol) hatte am 3. Juni das erste Änderungspaket zur Getrennt- und Zusammenschreibung (GZS) beschlossen. Wie die Geschäftsführerin des Gremiums, Frau Kerstin Güthert, sagte, habe der Rat die Regeln zur GZS vereinheitlicht und sich stärker an der Sprachpraxis orientiert. In bestimmten Fällen werden frühere Schreibweisen (»aufeinanderbeißen«) oder Schreibvarianten zugelassen (»kennenlernen« / »kennenlernen«). Auch die Zusammenschreibung idiomatischer Adjektiv-Verb-Verbindungen wie »kaltstellen« sei künftig wieder erlaubt. Die meisten Beschlüsse der Ratssitzung wurden, so Güthert, mit großer Mehrheit oder sogar einstimmig gefasst. (roe)




Kommentar von Der Tagesspiegel, verfaßt am 11.06.2005 um 09.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#882

»„Wir werden intuitiver entscheiden“
Hans Zehetmair, der Vorsitzende des Rats für Rechtschreibung, erklärt, was von der Reform geblieben ist


„Kennenlernen“ soll künftig wieder zusammengeschrieben werden, „spazieren gehen“ weiterhin getrennt und „sitzen bleiben“ wahlweise getrennt oder zusammen. Die schlichte Reform-Regel „Verb und Verb schreibt man stets getrennt“ gilt offenbar nicht mehr. Können Sie das erklären, Herr Zehetmair?

Das sind Beispiele dafür, dass wir nicht mehr Regeln in den Vordergrund stellen, sondern wieder mehr darauf achten, wie im deutschsprachigen Raum gesprochen wird. Grundsätzlich wird bei der Zusammenstellung zweier Infinitive aber noch immer getrennt geschrieben. Es bleibt bei „laufen lernen“, „baden gehen“ oder „spazieren gehen“. Ausnahmen bilden Verbindungen mit „bleiben“ oder „lassen“. Hier kann auch zusammengeschrieben werden, wenn eine übertragene Bedeutung vorliegt: Die Akten sind „liegengeblieben“, aber: Am Sonntag möchte ich gerne länger „liegen bleiben“.

Warum soll „kennen lernen“ dann wieder zusammengeschrieben werden?

„Kennenlernen“ haben wir wegen der ausschließlich übertragenen Bedeutung als Sonderfall in die Gruppe der Verbindungen mit „bleiben“ und „lassen“ aufgenommen. Man kann es aber auch getrennt schreiben. Auf diesen Kompromiss haben wir uns nach einer langen Diskussion geeinigt.

Auch die Regel, dass Adjektivverbindungen mit Verben getrennt geschrieben werden, wenn sie steigerbar oder erweiterbar sind, wurde gestrichen. So kann jetzt „blank putzen“ auch wieder zusammengeschrieben werden.

Die Steigerungsregel hat sich als nicht praktikabel erwiesen. Jetzt soll gelten: Es kann zusammen- wie auch getrennt geschrieben werden, wenn es um das Resultat eines Vorganges geht. Hier sind die Varianten sinnvoll, weil es Schüler überfordert zu unterscheiden, ob die Betonung nun auf „blank“ liegt oder auf dem Putzvorgang als solchem. Es ist aber eine schöne Aufgabe für Lehrkräfte, den Schülern solche Sinnunterschiede nahe zu bringen.

Die Schulen kommen allerdings gut mit den vereinfachten Regeln zurecht – und vielen Eltern und Lehrern graut davor, den Kindern jetzt wieder etliche Ausnahmen erklären zu müssen.

Dahinter steht unsere Philosophie, dass der Sprachgebrauch wieder Vorrang vor der Regelhaftigkeit hat. Das ist für Schüler und auch für Erwachsene eingängiger. Wir werden intuitiver entscheiden, was wir getrennt oder zusammenschreiben: „Heilig sprechen“ kann der Papst, „heiligsprechen“ wird man ihn später. Außerdem ging es um die Korrektur all dessen, was man in der Bevölkerung nicht verstanden hat. Sinnentstellende Schreibweisen wie „Leid tun“ oder „Not tun“ soll es nicht mehr geben.

Warum wird nicht durchgehend liberalisiert? Jetzt scheint es durcheinander zu gehen: „leidtun“ nur noch klein und zusammen, „eislaufen“ ebenso, aber bei „brustschwimmen“ kann man auch schreiben, „er schwimmt Brust“.

Die Schreibweisen „leidtun“ und „nottun“ sind jetzt unantastbar, weil die Groß- und Getrenntschreibung schlichtweg unsinnig wäre. Im Zusammenhang mit „eislaufen“ wurde in der Tat diskutiert, ob es auch heißen könnte, „sie läuft Eis“. Jetzt hat sich das nicht durchgesetzt, aber wenn sich dieser Sprachgebrauch in einigen Jahren festsetzt, könnte man es noch modifizieren. Bei „brustschwimmen“ sind wir liberaler – wenn der substantivische Bestandteil hinten steht.

Wie radikal sind also die Änderungen in der Getrennt- und Zusammenschreibung, die der Rat am vergangenen Freitag in Mannheim beschlossen hat? Wird die Rechtschreibreform in diesem Bereich „nahezu vollständig zurückgenommen“, wie der Sprachwissenschaftler Theodor Ickler schon im April frohlockte?

Es ist kein radikales Zurückschrauben, sondern ein moderates Ausgleichen der Unebenheiten und Ungereimtheiten. Da ist einiges auch im Sinne von Herrn Ickler. Aber federführend war Peter Eisenberg von der Akademie für deutsche Sprache, weil er schlüssige, ausgewogene und besonnene Vorschläge gemacht hat. Ich bin sehr froh, dass er seit vergangener Woche ordentliches Mitglied des Rats ist. Insgesamt ist unsere Arbeit ein entschiedenes Aufeinanderzugehen sehr heterogener Befindlichkeiten. Zur Getrennt- und Zusammenschreibung gab es am Schluss nur vier Gegenstimmen bei 33 Prostimmen.

Warum beschäftigt sich der Rat nicht auch mit der Groß- und Kleinschreibung?

Wir werden sie uns mit Sicherheit noch gesondert vornehmen. Einige Probleme der Groß- und Kleinschreibung sind mit der Getrennt- und Zusammenschreibung ja auch schon gelöst worden. In der ersten Phase wollen wir bis Herbst die beiden weiteren gravierenden Themen klären: Zeichensetzung und Silbentrennung. Ab Herbst, wenn wir die ersten drei großen Komplexe zur politischen Entscheidung weiterreichen, setzen wir für andere Bereiche der Reform, die zum 1. August amtlich werden, Arbeitsgruppen ein und beobachten die Sprachentwicklung – auch in der Groß- und Kleinschreibung. Einen Zeitplan für etwaige Änderungsvorschläge gibt es aber noch nicht. Der Rat in seiner jetzigen Zusammensetzung ist für sechs Jahre berufen.

Warum wird zum 1. August dieses Jahres nur ein Teil der Rechtschreibreform amtlich?

Die Kultusminister wollten das einmal gesetzte Datum 1. August 2005 unbedingt halten. Da haben sie sich eben durchgerungen, die Bereiche zurückzustellen, über die wir noch beraten. Unsere Vorschläge müssen wir noch mit Eltern- und Lehrerverbänden diskutieren, und dann befindet die Politik abschließend darüber.

Warum sind Sie nicht bis zum 1. August fertig geworden?

Weil wir unsere Aufgabe sehr ernst nehmen und in den Arbeitsgruppen intensiv diskutieren. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, das Ganze um ein Jahr zu verschieben. Dass die KMK anders entschieden hat, kritisiere ich nicht, aber ich mache es mir auch nicht zu Eigen. Das müssen die Kultusminister selber verantworten. Die Politik hat den Rat aus der Erkenntnis heraus eingesetzt, dass die Reform eines begleitenden kompetenten Gremiums bedarf, das unabhängig und in eigener Verantwortung arbeitet. Wer mit dem dynamischen Gefüge Sprache verantwortungsvoll umgehen will, braucht Zeit.

Und wann werden die Neuregelungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung, zur Silbentrennung und zur Zeichensetzung für Schulen verbindlich?

Ich gehe davon aus, dass die Länder die drei Komplexe zum August 2006 einführen. Um die Schüler nicht zu verwirren, sollte man das nicht mitten im Schuljahr machen – obwohl die Neuregelungen schon vorher stehen. Die Schule sollte aber nicht darauf kapriziert sein, an welchem Stichtag sie was als Fehler wertet.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Zeitungen, die sich der Rechtschreibreform mehr oder weniger verweigern?

In unserem Rat sitzen ja auch offizielle Vertreter der Journalistenverbände und der Zeitungsverleger. Angesichts der weitgehend positiven Reaktionen auf unsere Vorschläge bin ich guter Hoffnung, dass auch die Zeitungen, die sich besonders stark verweigern, wieder zum Common Sense zurückfinden.

Von Reformgegnern wird die Arbeit Ihrer Vorgänger, der Zwischenstaatlichen Kommission, weiterhin verteufelt. Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit im Rat von der in der Kommission?

Formal unterscheidet sich der Rat von der Kommission dadurch, dass er unabhängig ist. Die Kommission war als Hilfsinstrument von der Politik eingesetzt – für eine Reform, in die sich die Politik aus meiner heutigen Sicht gar nicht hätte einmischen sollen. Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat eine höhere Eigenverantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Wir arbeiten transparent und vermitteln nach jeder Sitzung in einer Pressekonferenz, was wir in der Abwägung langer Diskussionen als Erkenntnis gewonnen haben.

Steckt dahinter auch eine Philosophie?

Wir müssen gegenüber der sensibilisierten Öffentlichkeit alles tun, um den Eindruck zu vermeiden, dass Sprache aufgezwungen wird. Was wir zu tun haben, darf nicht von wissenschaftlicher Rechthaberei geleitet sein, sondern von tiefer Sensibilität für den Sprachgebrauch der Menschen.

Die Fragen stellte Amory Burchard.

Hans Zehetmair (68), 1986 bis 2003 CSU-Kultusminister in Bayern, ist seit Dezember 2004 Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung und leitet die Hanns-Seidel-Stiftung.«


( Der Tagesspiegel, 11. 06. 05 )



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.06.2005 um 18.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#887

Nach Lektüre des gesamten Interviews würde ich raten, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Gut verwertbar ist doch, was Herr Zehetmair über die Zwischenstaatliche Kommission sagt. Auch die Absurdität der KMK-Beschlüsse kommt recht deutlich heraus: Das, worüber wir gerade beraten, wird aufgeschoben, aber das, worüber wir im Herbst beraten werden, wird schon jetzt verbindlich. Unter diesen Voraussetzungen ist weder die Herstellung von Wörterbüchern noch ein ordentlicher Rechtschreibunterricht möglich.
Über die Sache mit dem "liegen bleiben" usw. ist auch noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Der offensichtlich voreingenommene Journalist hätte sich erkundigen sollen, welche Eltern- und Lehrerverbände noch gehört werden sollen. Es kommen ja nur Bundeselternrat und Deutscher Philologenverband in Frage, beide gehören zur "Verbändeallianz" der Schulbuchverlger und werden alle Veränderungen ablehnen.
Natürlich werden wir im Herbst nicht anfangen, die Groß- und Kleinschreibung zu "beobachten", sondern wir werden die frühere Schreibweise wiederherstellen. Aber wie gesagt, das sind Äußerungen, wie sie eben gesprächsweise getan werden, und es fließt noch einiges Wasser den Rhein bzw. die Isar hinunter, bis die Wirklichkeit sich geltend macht.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 11.06.2005 um 19.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#888

Herr Z. tritt sicher an den Sitzungen des Rechtschreibrates entschiedener und eindeutiger auf. Aber seine diversen Interviews nähren doch immer wieder, und gewiß nicht nur bei mir, leise Zweifel. Natürlich darf er die Kultusminister nicht unnötig reizen, läuft doch ohne sie letztlich gar nichts. So unnachgiebig und kompromißlos wie z.B. Prof. Ickler kann er sich nicht positionieren. Also doch alles nur Diplomatie? Hoffen wir es.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 11.06.2005 um 20.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#889

> Herr Z. und seine diversen Interviews

Die sind ziemlich nutzlos, außer wenn ...

wir mit einer bösen Überraschung zu rechnen haben.


Kommentar von Peter Müller, verfaßt am 11.06.2005 um 21.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#890

Die vom alten Duden vorgeschriebene Zusammenschreibung von liegenbleiben im Beispiel du mußt im Bett liegenbleiben war eine der Hauptsünden des Dudens gegen seine eigene Regel des "neuen Begriffs durch Zusammenschreibung".

Die andere bei Reformern so beliebte ist baden gehen, wo der Duden auch bei "übertragener" Bedeutung (scheitern) Getrenntschreibung verlangte. Solche Kritik läßt außer acht, daß "übertragene Bedeutung" oder "neuer Begriff" für Zusammenschreibung natürlich nicht genügt. Um Zusammenschreibung zu rechtfertigen, muß der Schreibusus (für die Festlegung auf ausschließliche Zusammenschreibung sogar der großmehrheitliche Schreibusus) dazukommen. Ich nehme mal an, daß Duden für badengehen keinen genügenden Schreibusus feststellen konnte.

Im gleichen Sinne: radfahren/Auto fahren.

Die Revision der Regel §34 erzeugt übrigens einen subtilen Unterschied zu den Regeln im Ickler. Dort ist die Schreibweise grundsätzlich frei, die Möglichkeit der Zusammenschreibung kann dazu benutzt werden, einen Bedeutungsunterschied auszudrücken (dargestellt an den Beispielen hängen bleiben/hängenbleiben und laufen lassen/laufenlassen). In §34 kann die Variante Zusammenschreibung nur bei übertragener Bedeutung benutzt werden, d.h.

du darfst [auf dem Stuhl] sitzenbleiben

wäre nach Ickler richtig, nach revidiertem §34 aber falsch.

Ist so etwas Schülern zu vermitteln?




Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.06.2005 um 05.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#893

Zum Interview mit Herrn Zehetmair im Tagesspiegel noch folgende Ergänzung:

Aufgaben der Zwischenstaatlichen Kommission (Gründungssitzung 25.3.1997):

Die Kommission für die Deutsche Rechtschreibung hat die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum auf der Grundlage des neuen orthographischen Regelwerks (Regeln und Wörterverzeichnis) zu bewahren und die Rechtschreibung in unerläßlichem Umfang zu entwickeln. Hierzu gehören insbesondere die Teilaufgaben:

Beobachtung der Umsetzung des Regelwerks während der vereinbarten Übergangszeit
Laufende Beobachtung der Sprachentwicklung, Klärung von Zweifelsfällen auf der Grundlage der geltenden Rechtschreibung
Erarbeitung und wissenschaftliche Begründung von Empfehlungen zur Anpassung des Regelwerks an den allgemeinen Sprachwandel, wobei auch Gesichtspunkte der Sprachkultur zu berücksichtigen sind

Aufgaben des Rates laut Statut:

Dieser Rat hat die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren und die Rechtschreibung auf der Grundlage des orthografischen Regelwerks (Regeln und Wörterverzeichnis von 1996 in der Fassung von 2004) im unerlässlichen Umfang weiterzuentwickeln.

Hierzu gehören insbesondere

die ständige Beobachtung der Schreibentwicklung,
die Klärung von Zweifelsfällen (der Rechtschreibung)
die Erarbeitung und wissenschaftliche Begründung von Vorschlägen zur Anpassung des Regelwerks an den allgemeinen Wandel der Sprache


Es gibt also keinen wesentlichen Unterschied, weder was den Status, noch was den Auftrag betrifft. Beide Gremien sind auf die amtliche Neuregelung als „Grundlage“ verpflichtet. Beide dürfen Vorschläge machen, aber die Entscheidung liegt bei der ministeriellen Arbeitsgruppe, die niemand kennt. In beiden Fällen wird auch bestritten, daß die Reparatur des Regelwerks zu den Aufgaben des jeweiligen Gremiums gehöre, obwohl jedermann weiß, daß es um nichts anderes geht. In keinem Fall wird die Voraussetzung, nämlich die Mißratenheit der Neuregelung, beim Namen genannt. Dieses Versteckspiel ist der Grundzug des gesamten Vorgehens seit acht Jahren.
Die Transparenz hält sich in Grenzen. Die Sitzungen sind nicht öffentlich, die Vorlagen stehen nicht im Internet und dürfen auch von den Teilnehmern nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. Die betroffene Bevölkerung erfährt nicht, wer die Bremser und Blockierer im Rat sind. Sie hat keine Möglichkeit, anders als durch Entgegennahme der Ergebnisse an der Diskussion teilzunehmen. Die Reformdurchsetzer sind immer dabei, durch im Statut vorgesehene „Beobachter“. Eine öffentliche Kontrolle findet nicht statt.

Der Absicht nach ist der Rat einfach eine Fortsetzung der Kommission und sollte genau wie diese die weitere Durchsetzung der Reform sicherstellen. Das hat auch der VdS Bildungsmedien sofort erkannt, indem er den Rat als Zusammenfassung von Kommission und Beiräten bezeichnete. Daß sich die Dinge anders entwickelten, überraschte die KMK und veranlaßte sie zu energischen Gegenmaßnahmen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.06.2005 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#894

Tatsache ist, daß es eine starke Tendenz der Sprachgemeinschaft gibt, Positionsverben mit "lassen" und "bleiben" zusammenzuschreiben. Die Theorie dazu (Idiomatisierung, Aktionsartdifferenzierung) ist sekundär. "kennenlernen" ist der Anfang des Kennens, "hängenbleiben" vielleicht der Anfang des Hängens usw. Das könnte die noch halb verborgene Systematik sein, aber es ist sicher kein Stoff für die Schule. Auf keinen Fall darf diese Entwicklung staatlicherseits unterbunden werden, wie Schaeder wollte.

Die Konstruktion von "bleiben" mit dem Infinitiv gehört gewissermaßen zur Randgrammatik des Deutschen. Man könnte sich eine Grammatik vorstellen, nach der es nicht analysierbar ist, und eine andere Grammatik, nach der die ganze Gruppe eindrucksvoll genug ist, um ein eigenes Kapitel zu bekommen, und nach dem ist sie dann doch analysierbar. Das zeigt, daß man auf diesem Wege nicht zu einer Entscheidung kommt. Sie kann nur beim Usus tyrannus (Horaz) gesucht werden.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 13.06.2005 um 08.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#899

"lassen" und "bleiben" können andauernd (unvollendet, durativ) oder einmalig (vollendet) sein. Wenn sie unvollendet sind, beschreibt auch der nachfolgende Infinitiv eine in der Gegenwart fortdauernde (durative) Handlung. Wenn sie einmalig sind, beschreibt der nachfolgende Infinitiv eine jetzt beginnende und in der unmittelbaren Zukunft liegende Handlung. Ähnliche, nur anders umschriebene Ausdrucksweisen gibt es auch in vielen anderen Sprachen, sodaß sie den Schülern mit Fremdsprachenkenntnissen nicht ganz fremd sind. Zum Beispiel ist in den romanischen Sprachen und im Englischen die Umschreibung der unmittelbaren Zukunft mit "gehen" ("je vais" oder "I'm going to") schon sehr alt, aber jetzt immer üblicher.


Kommentar von Badische Zeitung (Leserbriefe), verfaßt am 16.06.2005 um 15.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#951

»RECHTSCHREIBREFORM
Diese Forderung ist Unfug

Zu: "Geben Sie Schreibfreiheit!", Tagesspiegel von Bettina Schulte (Politik, 4. Juni):


"Geben Sie Schreibfreiheit!" mag im Schillerjahr ein nahe liegendes Bonmot zur Rechtschreibung sein. Sachlich ist diese Forderung allerdings Unfug: Wir alle lesen heute viel, und viele von uns sind genötigt, schnell zu lesen. Das können wir nur dank unserer halbwegs einheitlichen Orthographie. Es gibt frühe Luther-Texte, in denen das Wort "Stadt" auf fünf verschiedene Weisen geschrieben wird. Und schon Luther hat erkannt, dass es so nicht geht, wenn man die Menschen ans Lesen bringen will. Den Schreibenden wird ein gewisser Aufwand zugemutet, denn sie müssen sich an Regeln halten. Andererseits hat es auch etwas Entlastendes, wenn man seine Kreativität nicht auf die Wortschreibungen verschwenden muss. Die Aufgabe der Lesenden aber wird dadurch nicht nur erleichtert, sondern zügiges Lesen wird sogar erst ermöglicht: Die BZ können sie nur "überfliegen", weil unsere Orthographie einigermaßen einheitlich ist. Und da alle, die schreiben, auch lesen, amortisiert sich der Aufwand von selbst. Also: Gedankenfreiheit ja, Schreibfreiheit nein. Prof. Dr. Jürgen Dittmann, Freiburg«


( Badische Zeitung vom Donnerstag, 16. Juni 2005 )


Kommentar von Süddeutsche Zeitung (Leserbriefe), verfaßt am 16.06.2005 um 15.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#952

»Thema Rechtschreibung gestrichen
Ohne Kopf durch die Wand / SZ vom 4./5. Juni


Thomas Steinfeld kommentiert die Entscheidung der Kultusminister, Teile der Rechtschreibreform zum 1. August an Schulen für verbindlich zu erklären. Ärgerlich ist, dass die neue Rechtschreibung, eine natürlich nicht perfekte, aber im Grunde sinnvolle Sache, im letzten Sommerloch von profilierungssüchtigen Politikern mit wenig Sachverstand, aber viel Populismus wieder in Frage gestellt wurde.
Ärgerlich ist auch, dass der schon Anfang Oktober eingesetzte Rat für deutsche Rechtschreibung, obwohl damals der 1. August 2005 als Termin bereits feststand, nur alle heilige Zeit Lust zum Tagen fand: Erst um Weihnachten einigte man sich auf einen Vorsitzenden, erst um Ostern teilte man der Öffentlichkeit mit, dass man mit der Getrennt- und Zusammenschreibung nicht zufrieden sei; und erst jetzt nach Pfingsten kommen erste Ergebnisse. Versagt haben also irgendwie alle.
Mir als Deutschlehrer am Gymnasium ist das mittlerweile egal. Weder werde ich mir je nach öffentlicher Laune neue Lexika zulegen noch werde ich meine paar hundert Arbeitsblätter alle Nase lang überarbeiten. Dieses Schuljahr jedenfalls habe ich das Thema ¸¸Rechtschreibung", das mir früher überaus wichtig war, komplett gestrichen. Das war meinen Schülern am liebsten. Wolfgang Feiner, Regensburg

Der Beschluss der Kultusministerkonferenz ist - entgegen der Meinung Thomas Steinfelds - vorbehaltlos zu begrüßen. Endlich gibt es Sicherheit für Lehrer und Schüler, aber auch für alle, denen die deutsche Schriftsprache am Herzen liegt, dass das über etliche Jahre Gelehrte und Gelernte Bestand haben wird. Die im Vergleich zur Gesamtheit der Reform geringfügigen Korrekturen durch den Rat für deutsche Rechtschreibung wird man akzeptieren können. Auch früher gab es über die Jahre Änderungen - wenn auch nicht in dem Umfang wie heute -, die ebenfalls ¸¸von oben herab", damals allerdings durch die Duden-Redaktion, eingeführt wurden. Eine lebende Sprache ist immer Veränderungen ausgesetzt. Eine Verschiebung des Verbindlichwerdens der Reform würde das durch die verbissene Kritik von Puristen und Besserwissern angerichtete Chaos in den Schulen nur verlängern. Dr. Siegfried Wolff, Schenefeld

Angesichts des nicht enden wollenden Gezerres um die Rechtschreibreform möchte man der Kultusministerkonferenz und sämtlichen am Entscheidungsprozess beteiligten Gremien und Kommissionen am liebsten ins Stammbuch schreiben: ¸¸Die besten Reformer sind die, die mit sich selbst beginnen." Dabei stellt sich die Frage, wie lange wir es uns noch leisten können, dass eine arrogante Kaste von Besserwissern und selbst ernannten Sprachreformern ihr Kompetenzgerangel und ihre hochgeistigen Disputationen hauptsächlich auf dem Rücken von Schülern und Lehrern austrägt und dabei gleichzeitig dem weltweiten Ansehen unserer Sprache nicht unerheblichen Schaden zufügt.
Eine Ausweitung plebiszitärer Elemente wie Volksbegehren und Volksentscheid würde mit Sicherheit in kürzester Zeit Ruhe in diese künstlich hochstilisierte und aufgeblähte Debatte bringen und den Blick der Verantwortlichen endlich auf die weitaus drängenderen Probleme unseres Gemeinwesens richten. Wilfried Glaser, Königsbrunn

Blind und ratlos
Neue Rechtschreibung wird verbindlich / SZ vom 4./5. Juni


Der Wirbel, der von selbst erkorenen Experten um die neue Rechtschreibung gemacht wird, scheint mir von einer Blindheit oder Ratlosigkeit gegenüber den wesentlichen Herausforderungen in Deutschland und auf der Welt befördert zu sein. Jürgen Rüttgers findet es zudem bedenklich, „wenn sich politische Gremien über den Expertenrat hinwegsetzen". Das wiederum finde ich bedenklich. Von einem Expertenrat möchte wohl kein Bürger regiert werden, wenn er ihn nicht wählen darf. Und wenn Experten gehört werden sollen, dann bitte bei komplexeren Materien, wie etwa der Gestaltung von Zuwanderung; da würde ich Rüttgers schon eher beim Wort nehmen wollen. Andreas Fisch, Köln

Der Berg kreißt und gebiert ein - nein, kein Mäuslein, sondern ein Monster, eine Missgeburt: Wasserkopf und verkrüppelte Gliedmaßen, geistig behindert und körperbehindert, kann nicht richtig denken und kaum laufen. Schicken wir es in die Sonderschule?! Rüdiger B. Wolff, Mönchengladbach

Schüler als Geiseln
Neue Rechtschreibung wird verbindlich / SZ vom 4./5. Juni


„’Unstrittig’ ist nach Auffassung der Minister . . . die neue Groß- und Kleinschreibung, obwohl dies starke Kritik aus den Reihen der Sprachwissenschaft provozierte", berichtet Wolfgang Roth. Mit anderen Worten: Inkompetente Laien haben das Sagen und setzen sich über die Fachleute hinweg. Die Politik missachtet den Sachverstand. Das ist schlimm. Aber noch viel schlimmer ist, dass große Teile der freien (!) Presse eben diesen inkompetenten Kultusministern, die für den ganzen horrenden „Quatsch" (Thomas Steinfeld im Feuilleton der SZ vom 4./5. Juni: „Ohne Kopf durch die Wand") verantwortlich sind, brav gehorchen, immer noch gehorchen, obwohl die Minister in Sachen Rechtschreibung inzwischen jede Glaubwürdigkeit und jede Autorität verloren haben.
Deshalb eine Bitte an alle Zeitungen, vor allem an die SZ: Könnte die Presse nicht wenigstens (wenn sie schon entschlossen ist, in den angeblich unstrittigen Reformteilen weiterhin dem Machtwort inkompetenter, die Schüler als Geiseln nehmender Politiker zu gehorchen) in einem wichtigen Bereich, im allerwichtigsten Bereich sogar (ich meine die Zusammen- und Getrenntschreibung) zur besseren alten Regelung zurückkehren? Denn es ist ziemlich sicher, dass die Reform in diesem Teilbereich größtenteils oder sogar gänzlich annulliert wird.
Wie schön und hilfreich wäre es, wenn von sofort an alle Zeitungen die auch für die Schule vorbildliche, in wenigen Jahren für alle Schüler verpflichtende Zusammenschreibung wieder praktizierten. Denn noch verwenden sie, leider, die schlechtere und bald schon überholte Getrenntschreibung (sie unterschlägt die richtige Betonung und verhindert Differenzierungen) in einem pedantischen, das Pflichtsoll geradezu übererfüllenden Maße.
Ich zitiere solche Schreibungen aus den Seiten 1 bis 4 der SZ vom 4. / 5. Juni: „gleich käme" (= „bedeutete, entspräche"; ein Verstoß sogar gegen die neue Rechtschreibung!), „eine Hand voll Nischensender", „die allein stehende Mutter", „bei der viel zitierten Klage", „die glatt gezogenen schwarzen Haare", „die so genannten Skorpione", „die Unvernunft selbst ernannter Impfgegner", „eine ernst zu nehmende Erkrankung". Warum nicht so: gleichkäme, eine Handvoll Nischensender, die alleinstehende Mutter, bei der vielzitierten Klage, die glattgezogenen schwarzen Haare, die sogenannten Skorpione, die Unvernunft selbsternannter Impfgegner, eine ernstzunehmende Erkrankung?
Wie lange noch lassen sich die Zeitungen von Ministern, die mit dem Kopf durch die Wand wollen (Steinfeld), zum Narren halten? Wolfgang Illauer, Neusäß

Fehlerträchtige Sonderorthografie
Zweiteilige Rechtschreibreform / SZ vom 4./5. Juni


Eigentlich genügt es schon, dass 16 Kultusminister unsere Kinder und Enkel dazu zwingen, falsche, unzweckmäßige und lächerliche Schreibweisen anzunehmen: „Was wir im Voraus gesagt haben, zeigt sich im Nachhinein aufs Neue: Wir hatten jedes Mal Recht, mehr Recht als die anderen (auch: die Anderen) und Übrigen. Die Rechtschreibreform ist vollkommen zufrieden stellend. Schnäuzt euch behände, ihr Tollpatsche!"
Aber die Reform hat auch in vernünftigeren Köpfen Verwirrung gestiftet. Da liest man im Leitartikel nicht nur die inzwischen überholten Reformschreibungen „weit gehend" (erst 2000 erfunden) und „selbst geschaffen" (falsch nach Neuregelung, Paragraf 36,1: „selbst" steht ja für eine Wortgruppe); man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass nicht mehr bekannt ist, wie „früher" der Ausdruck „leid tun" geschrieben wurde. So nämlich: „Die Kinder begannen mir leid zu tun" (Thomas Mann, „Mario und der Zauberer").
Hermann Unterstöger meint überdies, man hätte „früher" nicht „Erdöl fördernd" oder „allein erziehend" schreiben dürfen. Regel 209 des alten Duden sagt es anders: Beides war freigestellt. Erst die Neuregelung brachte die rigide Einschränkung auf das Getrennte. Jetzt ist der alte Zustand wiederhergestellt.
Hans Zehetmair zeigt auf dem dpa-Foto „krankschreiben" (neu) und „krank schreiben" (alt). Das Beispiel ist jedoch eher untypisch. Denn im Vordergrund steht doch umgekehrt die Wiederherstellung der alten Zusammenschreibungen wie „lahmlegen", „kaltstellen", „schlechtmachen" gegenüber dem, was die Reform bisher diktierte: „lahm legen", „kalt stellen", „schlecht machen".
Das sind freilich nur Kleinigkeiten, gemessen an dem Ergebnis, dass die Schulkinder gezwungen werden, eine fehlerträchtige Sonderorthografie zu lernen, um damit einigen dreißig Politikern zu ermöglichen, den Schein des Rechthabens zu wahren. Dr. Martin String, Lüneburg

Von Chaos nichts zu sehen
Strittig - unstrittig - umstritten / SZ vom 3. Juni


Seit Thomas Steinfeld von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Süddeutschen Zeitung gewechselt hat, stelle ich mit wachsender Empörung fest, dass sich die SZ mehr und mehr zum Sprachrohr einer Gruppe von Rechtschreibreformgegnern um den Erlanger Professor Theodor Ickler entwickelt. Einen traurigen Höhepunkt hat die Artikelserie vom 3. und 4./5. Juni gebracht. Hier gingen einige SZ-Autoren dazu über, Falschmeldungen über die Rechtschreibreform zu verbreiten.
Gustav Seibt behauptet, dass man nach neuer Rechtschreibung „Nude-lauf-lauf" trennen dürfe. Das ist falsch! Auch nach neuer Rechtschreibung darf man einzelne Mitlaute nicht abtrennen. Nur die Trennung „Nudel-auf-lauf" ist also richtig. Ebenso behauptet er indirekt, dass die eingedeutschte Schreibweise „Majonäse" ein Ergebnis der Rechtschreibreform sei. Das ist falsch! Diese Schreibweise war schon lange vor der Reform gültig. Ein einziger Blick in einen alten Duden hätte das jedem längst gezeigt. Trotzdem wird gerade dieses Wort von den meisten Journalisten immer wieder als Beispiel für die neuen Fremdwortschreibungen gebracht.
Hermann Unterstöger behauptet, dass es in der alten Rechtschreibung das Verb „leidtun" gegeben habe. Das ist falsch! Nach alter Rechtschreibung durfte man nur „leid tun" schreiben. Die Zusammensetzung „leidtun" wurde erst vor einem Jahr neu in die Rechtschreibung eingeführt. Außerdem suggeriert Unterstöger in seinem Artikel, man hätte durch „und" beziehungsweise „oder" verbundene Hauptsätze nach der Reform nicht mehr durch ein Komma trennen dürfen. Das ist falsch! Jedes Komma darf auch nach der Reform noch so gesetzt werden wie vor der Reform. Viele Kommas müssen aber nicht mehr so gesetzt werden. In dem Satz „Der Vater aß(,) und die Mutter trank" darf also weiterhin ein Komma gesetzt werden, im Gegensatz zu früher muss man es aber nicht! Mit der Freiheit, etwas zu dürfen und nicht zu müssen, scheinen gerade die Rechtschreibreformgegner nicht zurechtzukommen.
Der Vorsitzende des Rats für deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair, hat nun angekündigt, dass er dafür eintrete, dass man bald wieder wie früher „krankschreiben" schreiben dürfe. Erst die Rechtschreibreformer haben aber die Zusammenschreibung „krankschreiben" eingeführt. Nach alter Rechtschreibung durfte man nur „krank schreiben" schreiben. Dass ausgerechnet dem ehemaligen Lehrer und bayerischen Kultusminister solch ein Fehler unterläuft, begreife ich nicht.
Von Rechtschreibreformgegnern wird gerne behauptet, dass an unseren Schulen ein Rechtschreib-Chaos herrsche. Ich bin Lehrer, habe aber bisher an keiner Schule ein derartiges Chaos feststellen können. Nach meiner Einschätzung wird es auch in Zukunft keines geben, und höchstens die fanatischsten Rechtschreibreformgegner werden sich ein solches Chaos wünschen. Klaus Schübel, Weilheim

Überstürzte Eile
Neue Rechtschreibung wird verbindlich / SZ vom 4./5. Juni


Geduld ist eine wesentliche Tugend der Pädagogik. Allgemein verbindliche Rechtschreibregeln sind notwendig. Wenn nun aber Regeln neu formuliert werden, so sollte dies so weit wie möglich plausibel sein. Das beflügelt die Bereitschaft, die Änderungen zu akzeptieren und anzuwenden. Tatsächlich sind aber im Rat für deutsche Rechtschreibung die meisten der anstehenden Fragen noch nicht genügend abgeklärt. In dieser Situation würde man gerade von den an der Beratung beteiligten Kultusministern erwarten, dass es ihnen als Meister der Pädagogik besonders am Herzen liegen müsste, noch ein wenig Geduld zu üben, bis die Logik der neuen Regeln so klar wie möglich herausgearbeitet und formuliert ist.
Umso unverständlicher ist es, dass nun in überstürzter Eile bereits zum 1. August neue Rechtschreibregeln verbindlich festgelegt werden, den Schülern und den Lehrern zur Pflicht. Es sind Regeln, die - zumindest nach Ansicht der nicht ministeriellen Fachleute dieses Arbeitskreises - noch keineswegs ausgereift sind. Bekommen wir auch hier schon wieder einmal von den politisch Verantwortlichen eine dieser neuen Verordnungen diktiert, die laufend durch Änderungen „verbessert" werden müssen? Unsere armen Kinder und ihre Lehrer! Oh Sancta Pisa, bitte für uns und unsere Kultusminister! Dr. Wolfgang Deinhart, Eichstätt

Was führten kompetente Leute nicht alles gegen die Neuregelung ins Feld, aber wider die Arroganz der Macht war nicht anzukommen. Zuletzt begründete die Ministerseite die Beibehaltung ihrer „Reform" vor allem damit, dass man den Schülern die Aufgabe der nun schon gewohnten Neuschreibung nicht zumuten dürfe. Die Schreibung einer Sprache kann doch nicht von der Schule her bestimmt werden. Die Neuschreibung brachte keine Verbesserung rechtschriftlicher Leistungen mit sich. Die Hinführung zur herkömmlichen Rechtschreibung war beim normal begabten Schüler nie ein Problem. Erst die Kultusbürokratie machte eines daraus. So scheute sich eine Ministerin nicht, im August 2004 öffentlich die absurde Behauptung aufzustellen: Die Politik habe handeln müssen, da die deutsche Sprache damals „kaum noch erlernbar" gewesen sei. Hans Sticht, Bamberg

Hat man überhaupt eine Ahnung, was die Unklarheit bei Schulkindern, die Probleme haben (Legastheniker) oder deren Muttersprache nicht Deutsch ist, anrichtet? Aus der Pisa-Studie nichts gelernt, setzen! Wer auf Kosten des Steuerzahlers Expertenkommissionen einberuft, aber nicht auf die Fachleute hört, handelt unwissenschaftlich, betreibt die Verschlechterung des Bildungsklimas und verschwendet öffentliche Gelder. Rolf Sintram, Hamburg«


( Süddeutsche Zeitung Nr.136, Donnerstag, den 16. Juni 2005 , Seite 10 )


Kommentar von R. M., verfaßt am 16.06.2005 um 15.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#954

»Früher schrieb man Tee-Ei und die Reformer empfehlen auch weiterhin diese Schreibweise. Es ändert sich hier also nichts. Die eindeutschende Schreibweise Majonäse steht schon seit mehr als 60 Jahren so im Duden. Sie ist nicht Bestandteil der Rechtschreibreform.« Das schrieb Klaus Schübel am 5. 8. 1999 dem Wiener Standard. Hat wohl nichts gebracht.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 17.06.2005 um 16.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#967

[Durch mein Verschulden hat Herr Markner mich mißverstanden. Im zweiten Teil meines Beitrags – jetzt durch den Absatz gekennzeichnet – geht es natürlich nicht mehr um Herrn Zehetmair.]

Klaus Schübel aus Weilheim meldet sich immer dann zu Wort, wenn mit falschen Beispielen der Rechtschreibreform am Zeuge geflickt werden soll. Vor sechs Jahren sollte er deshalb auf den Seiten für Rechtschreibung (Dräger) ausgesperrt werden; jetzt wendet er sich gegen Herrn Zehetmair. Lesern dieser Webseite ist hoffentlich nicht entgangen, mit welch abenteuerlichen Beispielen selbiger von der segensreichen Arbeit seines Rates für deutsche Rechtschreibung in Pressekonferenzen und Interviews und vor dem Kulturausschuß des Bundestags berichtet. Ein studierter Altphilologe sollte in der Lage sein, Texte über Rechtschreibung aus Linguistenhand zu lesen und zu verstehen. Offenbar hat ihn die Arbeitsüberlastung in der Vergangenheit davon abgehalten, und sie tut es heute noch. Herr Augst ist für die Medien uninteressant geworden. Sehr zu Unrecht. Er könnte seiner Zusammenstellung "Immer die falschen Beispiele" noch so manchen Nachtrag hinzufügen.

"Schrift und Rede" ist die Webseite der Forschungsgruppe Deutsche Sprache. Letzere ist zwar keine akademische Einrichtung, der Name impliziert aber doch einen Anspruch an wissenschaftlicher Redlichkeit, der für reformkritische Foren gerechterweise nicht erhoben werden kann. Wir lügen uns in die eigene Tasche, wenn wir über Nacht das Ende des deutschen Rechtschreibdilemmas erwarten. "Zurück zur traditionellen deutschen Rechtschreibung" ist allem Anschein nach heute nicht mehr mehrheitsfähig, da hilft auch das beharrlichste Wunschdenken nicht weiter. Die seit 1955 verschleppte und versäumte deutsche Rechtschreibreform könnte uns jetzt aus dem Dilemma herausführen. Wir kennen ja einige Namen, die dem entsprechenden Reformgremium zur Zierde gereichen würden. Offenbar fehlt aber der Mut und die Kraft, diesen erlösenden Schritt zu wagen. Es wird deshalb weitergehen, wie gehabt. Etwas anderes wäre es, wenn die schriftliche Kommunikation zusammenbräche. Davon kann jedoch keine Rede sein. Wegen Schreibästhetik oder Schreiblogik geht niemand auf die Barrikaden. Schon gar nicht, wenn andere gesellschaftliche Probleme wirklich wichtiger sind. This is the state of the nation.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 17.06.2005 um 17.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#968

Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen den von Hans Zehetmair im Munde geführten falschen Beispielen und den wissenschaftlichen Standards der FDS. Die Beispiele hat er nicht von uns. Vielleicht von Herrn Augst?


Kommentar von NZZ am Sonntag, 5. 6. 2005, verfaßt am 20.06.2005 um 17.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#981

Strittig oder unstrittig – Neues von der Rechtschreibreform

Zweierlei Nachrichten zur Rechtschreibreform, eine wissenschaftliche und eine politische, bescherte uns die zurückliegende Woche: So hat der Rat für Rechtschreibung in Mannheim, in welchem mit neun Fachleuten auch die Schweiz vertreten ist, die Rechtschreibreform in einem wesentlichen Punkt zurückgenommen. Am Freitag segnete das Gremium mit grosser Mehrheit eine revidierte Fassung der Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung ab. Betroffen sind zunächst Wortzusammensetzungen mit Verben am Ende, die nun wieder erlaubt sind und nicht länger getrennt werden müssen. Wir dürfen also wieder anstandslos «kennenlernen», «spazierengehen» oder «eislaufen». Wer als beinharter Reformer den Neuschrieb vorzieht und auf der Trennung der Komposita beharrt – bitte schön, auch gut.

Die Politik schafft Fakten

So weit, so liberal. Die Reformgegner könnten triumphieren über die wieder ins Recht gesetzte Zusammenschreibung, die ja besonders bei Wörtern mit übertragener Bedeutung erwünscht ist, man denke an «sitzenbleiben» vs. «sitzen bleiben». Grösser jedoch als die Freude ist die Wut vieler Reformkritiker über die Politik. Einen «babylonischen Irrsinn» schimpfen sie die am Donnerstag ergangene Entscheidung der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK), zum 1. August einen Teil der Rechtschreibreform bereits in Kraft zu setzen, während andere Teile noch überarbeitet werden. Die Verantwortlichen in Österreich und in der Schweiz haben diesem Vorgehen im Vorfeld zugestimmt, auch wenn sie jetzt erklären, beschlossen sei noch nichts. Ob es aber klug ist, die Schüler weiter einer Hängepartie auszusetzen?

Die Politik kann das Tricksen nicht lassen. Erst übte sie sich in einer vertrauensbildenden Massnahme und ersetzte die internationale Kommission, welche die Rechtschreibreform ausgetüftelt hatte und dafür heftig befehdet worden war, durch den eingangs erwähnten Rat für Rechtschreibung. Der pluralistisch besetzte Rat soll Kritiker einbinden, Vorschläge zur Verbesserung des an vielen Stellen missratenen Regelwerks erarbeiten und so für grössere Akzeptanz der Reform sorgen. Ein kluger Schachzug, wie es schien, diktiert von der Einsicht, dass sich eine von oben verordnete Änderung der Schreibweisen nicht gegen massive Widerstände und erst recht nicht gegen Sprachlogik und Grammatik durchsetzen lässt.

Wer aber glaubte, die Kulturpolitiker würden fortan orthographische Probleme allein dem dafür eingesetzten Rat und damit jenen überlassen, die als Wissenschafter, Schriftsteller und Lehrer mehr davon verstehen, sieht sich spätestens jetzt enttäuscht. Statt abzuwarten, wo überall der Rat auf Änderungen am Reformwerk drängt oder künftig drängen wird, schafft die Politik Fakten. Sie wünscht weder eine Totalrevision der neuen Schreibungen noch ein Moratorium bei der verbindlichen Umsetzung der Rechtschreibregeln in Verwaltungen und Schulen. Darum hat sie eine Definition vorgenommen und die Reform in «strittige» und «unstrittige» Teile zerlegt. Strittig sind danach bloss jene Bereiche, für die der Rechtschreib-Rat bereits Arbeitsgruppen eingerichtet hat: die Silbentrennung, die Zeichensetzung und natürlich die Getrennt- und Zusammenschreibung, das mit Abstand heisseste Eisen der Reform.

«Toleranzklausel»

Für diese Bereiche soll einstweilen eine «Toleranzklausel» gelten, die es den Schülern erlaubt, die alten, traditionellen Schreibungen zu benützen, ohne dass dies auf die Benotung durchschlägt. Abweichungen von der reformierten Schreibung werden zwar markiert, aber nicht als Fehler gewertet. Anders hingegen bei den angeblich «unstrittigen» Gebieten: der Gross- und Kleinschreibung, der Bildung von Bindestrich-Wörtern und der Laut- Buchstaben-Zuordnung (die uns z. B. die Austreibung des ph durch das f beschert hat [«Delfin»] oder auch drei aufeinander folgende Konsonanten wie in «Betttuch»). Für diese «unstrittigen» Regeln endet die Übergangsfrist wie 1996 geplant. Sieht ein Lehrer, dass auch nach dem 31. Juli 2005 ein Schüler von ihnen abweicht, so muss er den Verstoss als Fehler anstreichen. Es wird schwer sein, diese Festlegung, welche ausgewählte Teile der Reform von Revisionen ausnehmen soll, noch einmal zu kippen. Die KMK hat zu verstehen gegeben, sie wünsche vom Rat in Mannheim keine Änderungsvorschläge zu hören. Der Rat jedoch, dem nun auch die zuvor widerspenstige Deutsche Akademie für Sprache und Literatur beigetreten ist, will sich nicht an die Kandare nehmen lassen. Gerade auf dem Feld der Gross- und Kleinschreibung gibt es reichlich Korrekturbedarf. Joachim Güntner


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2019 um 06.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#11012

Aus dem Florilegium von Helmut Jochems (s. o.):

[Schleider, Tim - Stuttgarter Zeitung - 4.6.05] Zehetmaier gab auf einer Pressekonferenz zu, dass solches Zusammenschreiben innerhalb des Gesamtregelwerks der Rechtschreibung zwar unlogisch sei, aber eben dem "mehrheitlichen Sprachgefühl" entspreche. "Der Sprachgebrauch steht vor systematischen Regeln."
-
Zehetmair zeigt die verkehrte Denkweise der Reformer: In Wirklichkeit ist die Rechtschreibung zunächst eine vorgefundene Tatsache, nämlich ein historisch gewachsener Brauch (vergleichbar einer Religion). Man kann versuchen, sie auf "Regeln" zu bringen, aber wenn der Brauch den Regeln widerspricht, ist das schlimm für die Regeln, nicht für den Brauch. So ist es mit einigen Reformregeln bzw. dem Verständnis der Regeln, die sie ersetzen sollen. Die Reformer haben die überlieferte Rechtschreibung teilweise nicht richtig verstanden, daher gehen ihre Änderungsideen in die falsche Richtung.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.12.2019 um 05.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#11040

Zu http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=269#794

Wie will ein österreichischer Wörterbuchredakteur wissen, ob die Schulen „völlig problemlos“ die neue Rechtschreibung unterrichten? Worin würden denn allfallsige „Probleme“ bestehen – über die Probleme jedes Unterrichts und besonders jedes Rechtschreibunterrichts hinaus? Jeder Unterricht steht vor Problemen, sonst wäre er überflüssig, aber das ist kein Problem.

Die drei Jahrzehnte Diskussion (warum nicht dreihundert Jahre?) führte Fussy auch brieflich an, als er mir am 10.12.1997 vorhielt, ich hätte mich früher in die Diskussion einschalten müssen, statt eine „demokratisch“ zustande gekommene Neuregelung in undemokratischer Weise anzufechten.

Wie Fussy seinerzeit mitteilte, hatten einige Mitglieder des Reformarbeitskreises grammatische Bedenken gegen Das ist Erfolg versprechendusw., konnten sich aber nicht durchsetzen. Wie kommt man überhaupt darauf, über grammatische Tatsachen abstimmen zu lassen?




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