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13.11.2004
Warum lehren nicht die Dichter uns Deutsch?
Heinrich Federer und »unser großes, weises, geduldiges Deutsch«
In der von Stefan Stirnemann zur Verleihung des Preises 2004 der Stiftung für Abendländische Besinnung herausgegebenen Festschrift für Reiner Kunze »Im Wundergarten der Sprache« verhilft Pirmin Meier zur Entdeckung des Schweizer Schriftstellers Heinrich Federer (1866-1928).
Dessen vor gut 80 Jahren geäußerte Gedanken zum Sprachunterricht passen gut in unsere Zeit, die wir doch für so viel unseliger halten als die vergangenen:
»Wann gibt es einmal eine Schule und einen Lehrer, so lebendig, so deutsch, daß man endlich in das Wunder unserer Sprache hineingeführt und durch ihre scheinbare, aber jedenfalls herrliche labyrinthische Verwirrung an einem klaren, logischen Faden geleitet wird, durch alle Verästelungen ihres Satzes, in die letzten Launen und Schlüpfe, in die hintersten Möglichkeiten? Warum lehren nicht die Dichter uns Deutsch? Wie muß der Geiger sein Instrument, der Pianist das Klavier bis ins geringfügigste verstehen, ehe sie damit öffentlich auftreten können!«
In einem Vergleich des Lateinischen mit dem Deutschen beschreibt er dessen Eigentümlichkeiten so treffend und überraschend, wie sie wohl nur wenigen von uns bewußt sind:
»Die Logik des Lateins ist knappe Regelmäßigkeit, jene des Deutschen überreiche, beinahe wilde Freiheit. Das Latein setzt sich bestimmt so und so fest, das Deutsch lebt sich in einer gewissen, freilich niemals planlosen Willkür aus. Latein ist wunderbare Sparsamkeit, Deutsch gelassene Verschwendung. Wo alle syntaktischen Möglichkeiten des Lateinischen erschöpft sind, tut das Deutsch noch sieben Türen und Wege auf. Latein verlautet sich vor allem als Rede und Schilderung, Deutsch summt und brummt wie ein großes Märchen, episch und lyrisch zugleich.«
Im Vergleich mit der französischen und der italienischen Sprache findet Federer für die deutsche Sprache das Bild der Orgel:
»Französisch klingt wie ein elegantes Streichorchester, Italienisch hat mehr Cello dabei und sonores Blech. Aber die deutsche Sprache ist Orgelspiel. Nicht daß sie süßer singt als der gallische und melodiöser als der römische Mund. Sie hat weniger vom Einen, aber mehr von Allem, sie ist reicher an Tönen, an Wandlungen und vor allem an Kompositionsmöglichkeiten. Französisch ist ein edler Park, Italienisch ein großer, heller, bunter Wald. Aber Deutsch ist beinahe wie ein Urwald, so dicht und geheimnisvoll, so ohne großen Durchgang und doch tausendpfadig. (…) im Deutsch kann einer in vier, fünf Minuten im Dickicht verschwinden. Darum, weil der Weg so schwierig scheint, suchen die meisten möglichst geradlinig hindurchzumarschieren, was eigentlich gegen die Natur dieser Sprache ist. (…) Die deutsche Sprache war und ist heute noch das Aschenbrödel der Schule. Gerade die Mittelschule, das Gymnasium, ist die größte Sünderin an unserem Sprachgut.«
Das ist nicht nur so geblieben, sondern wirklich noch viel schlimmer geworden. In einer Erzählung mit dem Titel »Das deutscheste ABC« schildert Federer welche Unruhe in einem fiktiven Dorf entsteht, als ein neues ABC eingeführt werden soll durch den Staat, der, wie der Lehrer Flex seinen Schülern erklärt, »das ABC befiehlt, dem wir Lehrer folgen müssen wie ihr Buben uns Lehrern«:
»Ein solches ABC schrieb man hier nicht. Seit Urzeiten war man die runde, bequeme Lateinschrift gewöhnt, die wie ein glattes Ochsengespann die Straße hinrollt, mit dem Gefühl, daß sowohl der Ochse als der Wagen durchaus deutsch sei. Es kommt Streit ins Dorf: Wir haben keine Zeit, zwei ABC zu lernen, lärmten die Alten, wir haben an einem mehr als genug. Lerne der Lehrer zuerst das Leben buchstabieren, das tät‘ ihm not. – Ihr braucht auch nichts Neues zu lernen, entgegnete Flex wohlwollend. Nur eure Kinder, und die treiben es gern und haben das alte Geschreibe schon fast vergessen. – Aber Eltern und Kinder reden das gleiche Deutsch, zankten jene weiter; sie sollen auch das gleiche schreiben. Kein ABC soll Mutter und Kind trennen. Fängt man mit verschiedener Schrift an, so kommen die Bengel auch bald mit verschiedenen Ideen und Bräuchen, zupfen und zerren an uns Alten vom Kopf zum Fuß, der Familienfriede hört auf und die Dorfeintracht damit. – Oh, das wird nicht so gefährlich und nicht so einschneidend, begütigte Flex, ein wenig verwirrt und ungeduldig. Das ABC bildet ja nur eine Form, ein Gewand. Aber freilich ein deutsch geschnittenes, und nach und nach hilft es auch, den darin steckenden Menschen zu verdeutschen, immer reiner und tiefer zu verdeutschen… Ei, spottete man, dann ist’s wohl doch nicht bloße Form und Kleidung, wie Ihr sagt. Wir meinen jedenfalls, das Deutschsein habe nichts mit dem Gewändlein zu schaffen, das komme alleinig vom Herzen. (…) Deutscher können wir nicht werden, es wär‘ Krankheit. (…) Den Augen tut’s weh, es sticht und stupft wie Disteln. Nein, nein. Ihr sollt beim Alten bleiben.«
Sollte die hier beschriebene ABC-Reform offensichtlich einem verschärften deutschen Selbstverständnis Vorschub leisten, so sind die ungeschriebenen und den Urhebern möglicherweise gar nicht bewußten Zielrichtungen unserer modernen Rechtschreibreform anderer aber nicht minder kulturzerstörerischer Natur.
Wer einen virtuosen, unterhaltsamen und tiefsinnigen Organisten der deutschen Sprache kennenlernen will, dem sei die Lektüre der Bücher Heinrich Federers empfohlen, insbesondere seiner Jugenderinnerungen mit dem Titel »Am Fenster«.
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