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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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01.07.2006
 

Abgelenkt
Ich lese fast keine deutschen Bücher mehr

Gestern fiel mir plötzlich auf, daß ich in den letzten Jahren kaum noch deutsche Bücher gelesen habe. Höchstens noch unter dem Gesichtspunkt der Rechtschreibprüfung. Die reformierten Schreibweisen lenken mich zu sehr ab.
Vor einiger Zeit las ich die Katia-Mann-Biographie von Inge und Walter Jens. Jens hatte im Fernsehen verkündet, er werde nie etwas in Reformschreibung veröffentlichen. Bald darauf erschien das Buch – in Reformschreibung, noch dazu falsch und insgesamt schlimm. Als meine literaturbeflissene Tochter mich kürzlich etwas zum Thema fragte, stellte ich fest, daß ich absolut nichts von diesem Buch behalten hatte. Es muß daran liegen, daß ich zu sehr abgelenkt war, sozusagen immer in Erwartung weiterer Schnitzer las, was natürlich für die inhaltliche Verarbeitung tödlich ist.
Bücher, die ich wertvoll finde, sind manchmal noch in „alter“ Rechtschreibung gedruckt, zum Beispiel Peter Eisenbergs zweibändiger „Grundriß der deutschen Grammatik“. Das macht dann richtig Spaß, und man ist Eisenberg ewig dankbar, daß er keinen einzigen Text in der von ihm propagierten Kompromißschreibung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verfaßt hat. Weiter so!



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Kommentare zu »Abgelenkt«
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Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 03.07.2006 um 09.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4563

Es gehört zu den Kollateralschäden der Reform, daß sensiblen Lesern das Lesen von Neutexten verleidet wird. Zwar nicht bezifferbar, aber ungemein ärgerlich!
Aber auch die weniger sensiblen kommen nicht ohne Schaden davon: für sie entfällt der vorher gegebene Kollateralnutzen der weitgehend einheitlichen Schreibung: was man zigmal gesehen hat, prägt sich ohne Mühe ein und kann jederzeit ohne Nachdenken oder gar -schlagen abgerufen werden. Auch dieser Schaden ist nicht bezifferbar, aber wohl noch viel größer, weil er das deutschsprachige Textvolumen weiter qualitativ verschlechtert - noch ein Kollateralschaden.
Wir brauchen eine Bilanz, in der auch diese Posten nicht ausgespart werden.
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 03.07.2006 um 13.08 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4564

Es fällt auf, daß in den Medien keinerlei Mühe darauf verwendet wird, die "Kollateralschäden" zu begrenzen. Ganz im Gegenteil, anstatt sich wenigstens zu bemühen, noch nicht verstümmelte Wörter zu benutzen, strengt man sich offensichtlich an, solche "an den Haaren" herbeizuziehen. Gestern gelesen: "... die Salatstängel" - ich dachte bisher immer, der Salat hätte Blätter (und da wäre doch auch ein "ä" gewesen, wenn man das nun absolut hätte haben wollen). Wohlgemerkt, es hat sich hier nicht um eine botanische Beschreibung gehandelt, sondern um ein Rezept, bei dem ganz einfach Salatblätter benutzt werden sollten.

Ich denke, den Reformern ist da schon einiges geglückt. Zumindest hat man die Leute, die gerne lesen (und das können ja nur die abscheulichen "Bildungsbürger" sein), gründlich verprellt. Und da man nun gerade einige Generationen heranzieht, die nicht schreiben können, wird es ja wohl bald auch nichts "Unanstößiges" mehr zu lesen geben. Da wird man sich wohl mit dem begnügen müssen, was früher geschrieben wurde oder auf andere Sprachen ausweichen.

Es ist geradezu grotesk, daß Deutsch als Landessprache zu diesem Zeitpunkt nun verfassungsmäßigen Rang erhalten soll. Ich habe zuweilen das Gefühl, daß es sich hier nicht mehr um meine Muttersprache handelt.
 
 

Kommentar von Leseviel, verfaßt am 05.07.2006 um 15.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4577

Es ist kein Vergnügen mehr, am Sonnabend nachmittag durch Buchläden zu stromern und auf der Suche nach einem lesenswerten Buch mal hier, mal da ein paar Zeilen zu lesen. Die Neuschreibung verdirbt mir alles. Ich kann keinem Satz mehr inhaltlich folgen, keinen Gedanken weiterspinnen, wenn mir Neuschreibquatsch begegnet, weil ich sofort darüber nachdenken muß, was sich der Autor (Lektor? Verlag?) dabei gedacht hat. Wußte er, was er da tat? War es ihm egal? War ihm bewußt, daß die scheinbar neue Schreibung schon ehedem existierte und etwas anderes aussagte als hier mutmaßlich gewollt?
Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, ein Buch, das mir auffällt, auf die neue Rechtschreibung zu prüfen. Ist es in ihr gehalten, lege ich es weg, ohne mich inhaltlich damit zu befassen. Ich finde es zwar schade um manches Buch, aber andererseits habe ich die (sehr vage) Hoffnung, daß andere das auch so machen und Verlage mithin Bücher schlechter verkaufen, wenn sie in neuer Rechtschreibung verfaßt sind.
Im Augenblick bin ich beruflich gezwungen, ein Fachbuch über VBA für Excel zu lesen. Darin steht folgender Satz: "Damit Sie sich leichter zu Recht finden, können Sie auch einmal ..."
 
 

Kommentar von Bardioc, verfaßt am 05.07.2006 um 15.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4579

Kaufverweigerung

Leseviel schreibt:

''Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, ein Buch, das mir auffällt, auf die neue Rechtschreibung zu prüfen. Ist es in ihr gehalten, lege ich es weg, ohne mich inhaltlich damit zu befassen. Ich finde es zwar schade um manches Buch, aber andererseits habe ich die (sehr vage) Hoffnung, daß andere das auch so machen und Verlage mithin Bücher schlechter verkaufen, wenn sie in neuer Rechtschreibung verfaßt sind.''

Auch ich mache das meistens so. Bücher in Reformschrieb kaufe ich grundsätzlich nicht.
Wie halten es die anderen hier im Forum damit?
 
 

Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 05.07.2006 um 16.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4580

Ich kaufe Bücher in Reformschreibung nur, wenn es unbedingt sein muß. Mittlerweile weiche ich immer häufiger auf fremdsprachige Originale aus.
 
 

Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 05.07.2006 um 16.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4581

Diese Frage sollte eigentlich einem Marktforschungsinstitut mal eine repräsentative Umfrage wert sein. Den einen oder anderen Verlag, wenn auch nur wenige, könnte es ja interessieren. (Insgeheim werden viele Verlage die Reform längst verfluchen, nicht zuletzt aus diesem Grunde.)
 
 

Kommentar von jms, verfaßt am 05.07.2006 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4582

Ich mache vor dem Buchkauf grundsätzlich den Heyse-Test. Literatur, die ich ja genießen will, fällt fast hundertprozentig durch, wenn sie ihn nicht besteht. Glücklicherweise sind die hiesigen Autoren zumeist rücksichtsvoll und sprachsensibel (z.B. Hans-Josef Ortheil, Pascal Mercier, Georg Stefan Troller). Auch bei Übersetzungen von fremdsprachiger Literatur findet man einige löbliche Übersetzungen (z.B. Amos Oz). Bei neuen Sachbüchern ist die Orthographie jedoch zumeist miserabel, und das besagt im Grunde, daß auch inhaltliche Mängel zu erwarten sind. Also lasse ich sie fast immer liegen, weil es mich geradezu ekelt, Reformschrieb zu lesen. Es ist, als ob das Buch Mundgeruch hätte.
 
 

Kommentar von Heinz Erich Stiene, verfaßt am 05.07.2006 um 18.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4585

Grundsätzlich halte ich es ebenso wie Professor Ickler und die anderen Mitstreiter auf dieser Seite: ein Buch im Neuschrieb kaufe ich nicht. Auch meide ich die einförmigen Filialscheunen von "Weltbild" usw. mit ihren ewigen, öde gestapelten Reiseführern, Bestsellerromanen und Gesundheitsfibeln. Trotzdem geht mir der Lesestoff nicht aus, und ich habe in den letzten Jahren eine Reihe von deutschen Büchern gelesen, kürzlich noch Wolf Jobst Siedlers Anfang 2006 erschienene Aufsatzsammlung "Wider den Strich gedacht". Natürlich hängt es davon ab, was man sucht. Doch ich meine, daß in anspruchsvollen Verlagen noch viel unreformierte Literatur erscheint. Durch manche Bücher geht allerdings ein orthographischer Riß. Unreformiert erscheint E.T.A. Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi, erschienen 2001 in der Reihe Suhrkamp BasisBibliothek in Zusammenarbeit mit - - Cornelsen. Der Kommentar folgt dem Neuschrieb, wobei die zahlreichen Zitate aber wieder im unreformierten Original belassen sind. Die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky (Triumph und Tristesse), 2002 im Berliner Parthas-Verlag erschienen, berücksichtigen die Orthographie des Autors. Die Einleitung u.a. von Inge Jens (!) hingegen ist reformiert. (Offenbar hat das Ehepaar Jens im Neuschrieb eine irgendwie sich manifestierende emanzipatorische Kraft erkannt.) In diesen Tagen liefen einige soeben erschienene Fachbücher durch meine Hände, u.a. Andreas Capellanus, De amore, übersetzt von Fidel Rädle (Stuttgart, Hiersemann): allesamt unreformiert. Im übrigen bieten die Buchantiquariate ein Weltmeer an überaus lesenswerter Literatur in unbevormundeter Orthographie: Trouvaillen ohne Ende! Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre!
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 07.07.2006 um 17.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4619

"Maletristik" für Bücher in schlechter ("kranker") Rechtschreibung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.07.2006 um 18.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4620

Der Börsenverein will das Lesen fördern. Zum Vorlesewettbewerb begrüßt er die Kinder im Internet: "Wie findig seid ihr im Texte entziffern?"
"Im Autorentreff könnt ihr nachsehen wer das ist."
Auch KMK-Präsidentin Erdsiek-Rave will das Lesen fördern. Hoffentlich geht es ihr damit nicht so wie mit dem Schreiben, für das sie ja auch schon viel getan hat.
 
 

Kommentar von rrbth, verfaßt am 07.07.2006 um 21.34 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4624

Ein Beitrag zu meinem Kaufverhalten: siehe hier.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 08.07.2006 um 12.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4638

Ich kaufe überhaupt keine Bücher mehr, sondern lasse sie mir gratis zur Rezension kommen. Ein gutes Buch bekommt von mir alle Meriten. Ein wirklich schlechtes Buch bekommt ebenfalls viel publizierte Aufmerksamkeit. Ein Ding aber, das zu drucken man sich getrost hätte sparen können, fliegt hier schlicht und einfach zur Winterszeit in den Kaminofen; sowas hält die Wärme besser als ein lausitzer Brikett, und ich muß mir dann auch keine Sorgen machen, einem armen Ebayer für sein sauer verdientes Geld so einen Schrott angedreht zu haben.

Den Duden-Leuten habe ich schon vor längerer Zeit geschrieben, daß ich von ihnen prinzipiell nichts mehr haben will, dafür wäre mir selbst der Ofen zu schade, weil es den Kaminzug verrußt.

Sie werfen mir Bücherverbrennung vor? Oh nein, ich verbrenne nicht Bücher! Nur die als Buch verkleidete Prämakulatur!!
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 09.07.2006 um 15.57 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4656

Ich frage mich und die "Mitleser" hier, inwieweit die oft total verrückten Schreibfehler in den Medien der Tatsache zu verdanken sind, daß viele Zeitschriften und wohl auch einige Verlage das Lektorat aus Kostengründen abgeschaft haben und nun das Korrekturlesen offensichtlich den Korrekturprogrammen überlassen. Es ist wohl kaum möglich, daß Menschen mit deutscher Muttersprache und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte Konstruktionen wie ".... es hagelte Aprikosen und Tennisball große ..." (wie in einem anderen Strang erwähnt) zustande bringen.

Vielleich sollte die KMK-Präsidentin, falls sie das Lesen fördern will, bei den Medien (die ja sonst auch alles machen, was die KMK ihnen aufträgt) darauf drängen, wieder mehr Lektoren anzustellen. Bei mir und sicherlich vielen anderen würde das dem Lesen deutscher Zeitschriften und Bücher sehr förderlich sein.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 09.07.2006 um 19.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4659

Nonsensschreibungen wie die "Aprikosen und Tennisball großen Hagelkörner" kann man auch maschinell erzeugen, indem man das Korrekturprogramm "angemeckerte" Schreibungen automatisch durch Alternativvorschläge ersetzen läßt. In diesem Fall hätte der Text aber noch mehr derartige Fehler enthalten müssen. Es handelte sich hier um eine erste Zusammenfassung des Unwettergeschehens durch eine Nachrichtenagentur, die ein paar Stunden später durch eine korrigierte Version ersetzt wurde – zu spät freilich für diejenigen Online-Redaktionen, die im Vertrauen auf die Agentur den Unsinn bereits übernommen hatten und, wie beim ZDF, eine Aktualisierung versäumten. Es liegt hier wohl durchweg "menschliches Versagen" vor.

Tatsächlich haben, beginnend in den 90er Jahren, die meisten Verlage ihre Korrektorate zurückgebaut, um Kosten zu sparen – Kosten nämlich, die im Zuge der Digitalisierung von Textbearbeitung und Manuskripten unnötig zu werden schienen. Hierzu muß man wissen, daß der größte Teil des Korrekturaufwandes bei Papiermanuskripten nicht auf das Ausbessern von Fehlern oder Versäumnissen des Redakteurs entfiel, sondern darauf, das Ergebnis der Texterfassung durch die auf Tempo gedrillte – und bezeichnenderweise so genannte - "Tasterin" mit dem Manuskript wieder in Übereinstimmung zu bringen. Ergo: Je weniger Papier man zu bearbeiten hat, desto weniger Korrektoren braucht man.

Diese Rechnung der Verlage – Kosten zu sparen ohne Qualitätseinbuße – ist deshalb nicht aufgegangen, weil ihnen die Reform dazwischenkam. Eine paradoxe Folge der zeitlichen Überlappung von Digitalisierung und Reform ist übrigens, daß deren Freunde in der Branche die miserable orthographische Qualität reformierter Zeitungen auf die Einsparungen beim Korrektorat schieben zu können glauben (was für die Journalisten unter ihnen besonders peinlich ist). Allerdings sieht es in den Produkten aus Häusern, die ihre Korrektoren nicht dezimiert haben, kaum besser aus. Wie denn auch? Wenn ein Redakteur einen Satz wie "Die Leid Tragenden sind die Schüler" für normales Deutsch halten soll, muß man ihm auch die "Aprikosen großen Hagelkörner" nachsehen. Und wenn ein Redakteur Schwierigkeiten damit hat, zwischen erlaubtem, verbotenem und vorschriftsgemäßem Unfug zu unterscheiden, warum soll es einem Korrektor dann anders ergehen?
 
 

Kommentar von Zeilon, verfaßt am 09.07.2006 um 22.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4664

Oberste Regel: keine Romane in neuer ›Dreckschreibung‹, denn Romane lesen soll ja Spaß machen, und Romane in ›Dreckschreibung‹ machen nun mal keinen Spaß.
Sachbücher nur dann, wenn sie unverzichtbar sind und dann auch nur im ›Korrekturmodus‹. Das heißt, alles bis auf das Doppel-s (das ich gedanklich verbessere) wird mit dem Kuli korrigiert.
Das übt und trainiert die besseren Schreibweisen und ist wie ›Unkrautrupfen‹ im eigenen Garten der Schriftsprache.
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 09.07.2006 um 23.57 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4665

Vielen Dank, Urs Bärlein, so genau wußte ich es nicht ... aber dennoch apropos: "Wenn ein Redakteur einen Satz wie 'Die Leid Tragenden sind die Schüler' für normales Deutsch halten soll" – sollte man nicht von einem Redakteur annehmen, daß er "normales Deutsch" kann? Das ist es ja gerade, was so irritiert.
Ich habe einige Kunden, die von mir als Übersetzerin gerne "reformiertes Deutsch" haben möchten. Mehr als das "ss" bekommen sie nicht, denn es würde mir "nicht im Traum" einfallen, Aprikosen hageln zu lassen. Versuchen manche Redakteure vielleicht, ihre Verzweiflung über den derzeitigen Zustand der deutschen Sprache mit Alkohol zu kurieren? Sonst ist das kaum verständlich ...

Zu Zeilon: Das mit dem "Korrekturmodus" ist tatsächlich die einzige Möglichkeit, solche Bücher zu lesen – aber doch sehr mühsam. Ich mußte neulich eines lesen, da gab es die "Blutzucker senkende Medikamente produzierenden Hersteller" u.ä. auf fast jeder Seite. Ich mußte dann nach ca. 50 Korrekturen entnervt aufgegeben ...

Da ich keine Buchhandlungen mehr besuche (früher eine Lieblingsbeschäftigung), bestelle ich Bücher jetzt über Amazon, da erhält man leider keine Mitteilung darüber, ob das gewünschte Buch reformiert oder unreformiert ist. Eine Möglichkeit ist aber, beim Verlag direkt eine Leseprobe anzufordern (im Internet) und dann erst zu bestellen. (Für Sachbücher, die man aus irgendeinem Grund lesen muß, ist das natürlich keine Lösung.)

Kurz zusammengefaßt, die "Reform" macht nichts wie Ärger – aber das wußten wir ja schon.
 
 

Kommentar von Kaiser Günter, verfaßt am 10.07.2006 um 12.28 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4680

Daß dermaßen sprachkundige Menschen – wie in diesem Forum – ein so konsequentes "Nichtkaufverhalten" bezüglich Deppendeutschgedrucktem durchziehen, spendet Trost und dient vor allem als Kraftquelle.
 
 

Kommentar von Zeilon, verfaßt am 10.07.2006 um 13.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4684

Kann ich gut verstehen, Frau Morin, daß solche sprachlichen Kraterlandschaften wie »Blutzucker senkende Medikamente produzierenden Hersteller« usw. Ihnen die Lust am Lesen verderben. Geht mir ähnlich.
Beim Korrigieren schlechtschreiblicher Sachbücher motiviert mich der englische Komponist Benjamin Britten (1913–1976) mit den Worten: »Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück.«
Und hier geht es halt darum, durch wiederholte Übung die richtigen und besseren Schreibweisen nicht zu verlernen. Das ist der Lohn der Mühe.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 10.07.2006 um 22.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4696

Zur Ablehnung von Büchern in reformierter Schreibung schrieb ich heute an eine deutsche literarische Gesellschaft, wobei ich mich auf diesen Diskussionsfaden bezog:
>>Sehr richtig sieht [Ihr] Sprachausschuß "die eigentliche Gefahr für unsere Kultur" ... in der Veränderung des Leseverhaltens, im Verlust des Lesewillens und der Lesefähigkeit. Hier ist den Kultusministern die Rechtschreibreform besonders bös anzukreiden, denn gewollt oder ungewollt, aber auf jeden Fall effektiv wird jungen Leuten die Literatur im Bücherschrank als irgendwie eben "veraltet" vorgestellt, — und tatsächlich höre ich, daß auch vielen etablierten Lesern Texte im Neuschrieb derart zuwider sind (weil sie den Lesefluß und damit auch den Lesegenuß stören), daß sie keine Bücher in dieser Schreibung kaufen und lesen wollen. Da ist es etwas ganz anderes, wenn ich Sachen auf schwedisch lese: Da ist jede Schwierigkeit ein willkommener Lernprozeß. Beim wissenschaftlich nachgewiesenen Stolpern über "Schifffahrt" und "Schlussszene" (und sogar für Schweizer beim "Bussgeld"[!]) und über anderes, das alles nicht nötig ist und unnötig viel Geld kostet — und uns eben noch dazu von Nichtkönnern aufgezwungen worden ist —, ändern Leute eben doch auch ihr kulturelles Verhalten: Wir bemerken schon eine Art innere Emigration aus der aufgezwungenen Kultur der Kulturlosigkeit.<<

Zeilons durchaus beachtenswerte Anstreicharbeit ("Das übt und trainiert die besseren Schreibweisen und ist wie ›Unkrautrupfen‹ im eigenen Garten der Schriftsprache." [#4664]) ist bei mir schon nicht mehr drin. Ich lehre meine Studenten, daß die bewährte Rechtschreibung die solide und deshalb für ihre Lebzeit akzeptabel ist und daß die reformierte auf sehr wacklichen Füßen steht, was sich ja auch andauernd zeigt. (Ansonsten muß ich mit den Schreibfehlern leben, die sie als Ausländer sowieso machen.)
Aus Deutschland bekam ich dann auf meinen Schreiben oben hin ein Beispiel schriftlicher Mitteilung aus der Hand eines deutschen Studenten ("kein Türke, auch kein rußlanddeutscher Spätaussiedlersohn") in hohem Studiensemester (kurz vor der Abschlußprüfung also), das ich hier aber nicht zitiere, weil ich nicht weiß, wieweit solche Leistungen von noch Lernenden veröffentlicht werden dürfen. Aber man glaube mir, in jedem der drei durch Punkt gekennzeichneten "Sätze" (67 Wörter insgesamt) sind wenigstens vier so grobe Struktur- und Schreibfehler, daß wirklich nichts verständlich ist. Aber in den Augen seines Autors war der Text offenbar zur Mitteilung geeignet. Richtiges Lesen hat das Deutsch dieses fortgeschrittenen deutschen Studenten jedoch keinesfalls geschult.
Vielen Dank für das Britten-Zitat, Zeilon! So etwas hilft auch.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 12.07.2006 um 10.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#4725

Zum Abschied von den Lektoraten siehe hier:

http://www.glueck.hot2.be/lektorat.htm
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.12.2017 um 12.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#37324

Zu den überflüssigen Wörtern (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=987#21968) rechne ich auch Trouvaille, das ich gerade mit Widerwillen in der Zeitung lese. Habe ich noch nie gebraucht (wie auch Oeuvre). Komischerweise stellt Duden es auf dieselbe Häufigkeitsstufe wie, na, sagen wir Unkraut, über das ich heute morgen geschrieben habe. Das kann ja wohl nicht wahr sein.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 16.12.2017 um 13.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#37328

Viele französische Ausdrücke sind schon obsolet geworden, andere werden folgen – bekannt ist ja die politisch motivierte Ersetzung von Coupé durch Abteil usw., aber es gibt auch einen ganz allgemeinen Schwund. Wer würde heute noch Mannequin anstelle von Model sagen?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.12.2017 um 12.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#37330

Vielleicht geht auch die Ersetzung von Friseuse durch Friseurin in diese Richtung.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 17.12.2017 um 14.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=540#37331

Das ist wohl eher ein Fall aus der Euphemismus-Tretmühle. Die umgangssprachliche Friseuse („10 nackte Friseusen“, Micky Krause) ist jetzt eine seriöse Friseurin, die Sprechstundenhilfe ist jetzt Arzthelferin oder medizinische Fachassistentin, aus Bauern sind Landwirte und Agrarökonome geworden. So hat man schon vielen Berufen Geringschätzung bescheinigt.
 
 

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