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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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10.01.2015
 

Sprechstörungen
Eine ernste Sache

Die FAZ wies gestern auf das Stottern hin, brachte naturgemäß ein Szenenfoto aus "The King's Speech" mit dem vorzüglichen Colin Firth, aber der Artikel stellte hauptsächlich die "Kasseler Stottertherapie" vor. Die kann ich natürlich nicht beurteilen, glaube aber gern, daß sie der Beachtung wert ist.

Es gibt u. a. ein Video, auf dem der Begründer und Leiter, Alexander Wolff von Gudenberg, sein Unternehmen vorstellt. Er stottert immer noch, aber es geht. Ich weiß nicht warum, aber dieses kurze Video hat mich richtig erschüttert. Vielleicht weil ich mich besonders gut einfühlen kann, oder weil der Mann so tapfer wirkt. (vimeo.com/99611841)

Ich selbst habe als Kind zwar nicht gestottert, aber "gepoltert", wie man das seltsamerweise nennt. Vergessen hatt' ich's und vergaß es gern. Sprechstörungen sind eine üble Sache, der Leidensdruck ist enorm, wie mir gerade meine jüngste Tochter aus ihrer fortschreitenden Logopädie-Ausbildung bestätigt. Der genannte Film zeigt das sehr schön. Es sind viel mehr Jungen betroffen. Man bringt es mit der Lateralisierung in Verbindung, aber so richtig scheint es keiner zu wissen.

Vielleicht habe ich anderswo schon mal erwähnt, daß überdurchschnittlich viele Sprachwissenschaftler Stotterer sind. Aber Sprechstörungen verschiedener Art sind überhaupt häufiger, als man denkt; viele bleiben auch wegen der Ausweich- und Vermeidungsstrategien unauffällig oder ganz verborgen.

Bei mir hat sich das im Laufe der Pubertät ganz verloren, ich spreche zwar immer noch ziemlich schnell, aber wer mich kennt, weiß, daß ich viele Stunden am Stück reden kann, ohne heiser zu werden oder je hängenzubleiben, und das ist ja auch schon fast wieder behandlungsbedürftig, Berufskrankheit von Professoren eben.

Es gibt Millionen Menschen, denen man buchstäblich eine Stimme geben könnte und sollte, deshalb hat mir der Artikel gut gefallen.



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Kommentare zu »Sprechstörungen«
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Kommentar von Simplex, verfaßt am 13.01.2015 um 19.33 Uhr  
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Als Stotterer mit einem halben Jahrhundert Erfahrung möchte ich die Gelegenheit nutzen, meine Hochachtung und Bewunderung für Herrn Thilo Sarrazin kundzutun. Mir geht es dabei nicht um seine politischen Aussagen, sondern nur um seine Meisterschaft im Navigieren auf hoher See zwischen Blocks und Riffs, und das vor laufenden Kameras.

Wenn sich auch im Studio nicht alles so abspielt, wie es in den Wohnzimmern ankommt, so glaube ich schon, daß die ausgesprochen feindselige Haltung ihm gegenüber seine Bemühungen um gut verständliche Sprache und Argumentation zusätzlich erschwert. Er schlägt sich wirklich wacker!

Nicht unerwähnt lassen möchte ich Herrn Oliver Welke. Dieser Anti-Satiriker – er macht sich nicht über die Obrigkeit lustig, sondern über die, die an der Weisheit der Obrigkeit zweifeln – war sich nicht zu blöde, über Sarrazins Sprachfehler herzufallen. Ich kenne das aus der frühen Schulzeit, ab Sexta gab es das nicht mehr.

Meine Beschwerde an das ZDF blieb unbeantwortet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.01.2015 um 06.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#27788

Ein bekannter Literaturkritiker und Journalist hat seinen Interviewpartnern besonders ergiebige Auskünfte entlockt, weil sie ihm über sein Stottern hinweghelfen wollten und daher mehr von sich preisgaben, als sie es einem eloquenteren Interviewer gegenüber getan hätten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.03.2015 um 05.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#28281

Gerade lese ich, daß der Philosoph Wolfgang Wieland gestorben ist. Vorgestern habe ich meiner logopädischen Tochter noch von ihm erzählt. Ich hatte ihn vor 50 Jahren als jungen Philosophieprofessor in Marburg gehört und habe die Wirkung seines Seminars über die Vorrede zu Hegels Phänomenologie schon geschildert (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1540#24412). Wieland hatte offenbar einen Sprachfehler überwunden und artikulierte mit einer gewissen Bewußtheit, die ihm dabei half, ohne Stottern, aber irgendwie zögerlich vorzutragen. Er verließ Marburg bald wieder, und wir hörten, daß er ein Medizinstudium begonnen habe. Tatsächlich wurde er dann Arzt und dann wieder Professor mit dem Gebiet Medizinethik. Die FAZ widmet ihm einen schönen Nachruf.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.06.2015 um 20.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#29042

Meine logopädische Tochter weist mich auf dieses lehrreiche endoskopische Meisterwerk hin: www.youtube.com/watch?v=-XGds2GAvGQ .
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2016 um 07.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#31720

Wir hören in Wirklichkeit nur einen Bruchteil dessen, was wir zu hören glauben, nutzen die Redundanzen der gut beherrschten Sprache, um einen vollständigen Eindruck des Gehörten aufzubauen.
Das wird nirgendwo so klar wie beim Cochlea-Implantat. Zunächst werden aus den wenigen Kontakten zwischen Elektroden und Hörnerv äußerst defizitäre Frequenzen, die dann durch ein langes Lernen wieder zu vollständiger Rede usw. ergänzt werden müssen. Das kann man sich auch in zahlreichen Dokumentationen ansehen, z. B. in dieser recht glücklichen:
https://www.youtube.com/watch?v=VB99Et9f2ow
Es gibt auch Patienten, die das Ganze bedrückender erleben.
Die technischen Wunderwerke werden aber jedes Jahr weiterentwickelt, und man hat allen Grund, sehr gute Ergebnisse zu erwarten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.11.2017 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#37074

Betrachtet man die Haarzellen in unserer Hörschnecke, sollte man nicht meinen, daß sie ein geeignetes Empfangsorgan für die Leistungen unseres Gehörs sind (https://de.wikipedia.org/wiki/Hörschnecke). Ich trete vor die Haustür und höre zuerst das Grundrauschen der Stadt, die sich über einige Kilometer hinstreckt, angefangen von der Hauptstraße einige hundert Meter weiter. Es gibt auch schwer definierbare Geräusche in der Nähe, etwa von Ölheizungen oder von anderen Frühaufstehern. Im Regnitztal (drei bis vier Kilometer Luftlinie) ist das Durchfahren der Eisenbahn zu unterscheiden. Der Schalldruck nimmt im Quadrat der Entfernung ab. Wie wenig davon kommt in meinem Ohr an! Um so erstaunlicher auch die erlernte Unterscheidbarkeit der gleichzeitig eintreffenden Schwingungen nach ihrer Quelle. Wir können Hunderte von Personen an der Stimme erkennen; allerdings ist die Verzerrung am Telefon oder gar durch die Videofunktion des Smartphones beträchtlich, meist sogar zur Unkenntlichkeit führend.
Das Cochlea-Implantat vermittelt nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Hörspektrum, so daß der Operierte oft in Depression verfällt. Mit der Zeit lernt das Ohr jedoch, daraus wieder einen brauchbaren Input zu konstruieren. Auch der Sehsinn konstruiert ja aus höchst unvollständigen Daten ein zufriedenstellendes Bild.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2018 um 07.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#38154

Der Film "The King’s Speech" ist nett anzuschauen und eine sehr gute Leistung als Spielfilm. Aber er ist natürlich auch eine Geschichtsfälschung – auf den verschiedenen Ebenen, die ich anläßlich von Kehlmanns Roman über Humboldt usw. schon diskutiert habe.
Inzwischen ist einige Zeit vergangen, und als wir über das Königshaus, die Verwandtschaftsverhältnisse, die Abdankung usw. sprachen, fiel mir auf, daß sich die Filmbilder doch stärker eingeprägt hatten, als ich es wünschen würde.
So geht es mit den "Narrativen".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.03.2018 um 07.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#38366

Eltern gegen Operation des gehörlosen Kindes
Ein Rechtsstreit, der für Aufsehen sorgt: Das Familiengericht in Goslar verhandelt die Klage des Klinikums Braunschweig gegen die Eltern eines gehörlosen Kindes. Diese wehren sich gegen die empfohlene OP.
Von Christian Beneker

GOSLAR. Darf ein Krankenhaus ein Cochlea-Implantat für ein Kind erzwingen? Das Goslarer Familiengericht verhandelt derzeit die Klage des Klinikums Braunschweig gegen die Eltern eines gehörlosen eineinhalbjährigen Jungen. Die Eltern wollen ihm nicht das ärztlich empfohlene Cochlea-Implantat (CI) einsetzen lassen. Das Kindeswohl werde vernachlässigt, wenn die Eltern sich nicht für ein Implantat entscheiden, lautet die Begründung des Krankenhauses.
Weder der Rechtsanwalt der Eltern, Alexander Lawin, noch das Familiengericht, noch das Klinikum wollten sich auf Anfrage der "Ärzte Zeitung" zu dem Verfahren äußern. Aber so viel ist klar: Aus Sicht der Eltern ist ihr Kind weder behindert noch krank. Daher könne mit dem Verzicht auf ein CI auch nicht von vernachlässigtem Kindeswohl die Rede sein. Das Krankenhaus greife deshalb mit seinem Schritt in das verfassungsmäßige Elternrecht ein, aus eigener Erwägung das Richtige zu tun, erklärt Lawin in einem Fernsehbericht des Bayerischen Rundfunks.
"Kindern Möglichkeiten öffnen"
Das Verfahren hat auch eine ethische Seite. Für den Medizinethiker Professor Urban Wiesing von der Universität Tübingen zählt bei gehörlosen Kindern, die ein CI tragen, auch der Umstand, dass sie damit größere Möglichkeiten erhalten als nicht operierte. "Eltern sollten ihren Kindern Möglichkeiten eröffnen, und nicht verschließen", sagt Wiesing der "Ärzte Zeitung". Deshalb plädiert er im vorliegenden Fall eher für ein Cochlea-Implantat, weil es dem Kind ermöglicht, an der Welt der Hörenden teilzunehmen. Allerdings rührt der Konflikt an grundsätzlichere Aspekte, meint Wiesing. "Medizinethisch gesehen stellt sich hier die Frage, was pathologisch und was Vielfalt ist", erklärt der Ethiker. In vielen Bereichen habe sich die Gesellschaft entschieden, quasi neue Schubladen zu öffnen und einst Abweichendes als eigene Lebensform zu akzeptieren.
So verstehen Menschen mit Down-Syndrom ihr Leben als ihre eigene Form der Gesundheit. Und erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht einer intersexuellen Klägerin das Recht zugesprochen, sich mit einem dritten Geschlecht in das Personenstandsregister eintragen zu lassen. "Wir akzeptieren das inzwischen", sagt Wiesing.
Gehörlosen-Bund ist skeptisch
Der Deutsche Gehörlosen-Bund bezweifelt diese Akzeptanz. Das ausschließliche Sich-Verlassen auf besseres Hören durch ein Implantat störe die bilinguale Sprachentwicklung und lasse die positiven Aspekte des Lebens Gehörloser außer Acht, heißt es in der Erklärung des Bundes zum Fall in Goslar. Für eine bilinguale Sprachentwicklung sind aus Sicht des Bundes die Schriftsprache plus Gebärdensprache und im Zweifel ein Hörgerät die Mittel der Wahl. Denn "die meisten im Rahmen der Implantationen Tätigen haben keine oder nur sehr wenige Informationen über die Gehörlosen-/Gebärdensprachgemeinschaft und kaum Erfahrungen mit diesen. Diese sehen in der Gehörlosigkeit nicht selten etwas Negatives und Auszumerzendes", kritisiert der Verband. Der Prozessauftakt war im November 2017. Zum weiteren Verfahrensverlauf macht das Gericht keine Angaben.
Nach Angaben der European Association of Cochlear Implant Users (EURO-CIU) sind bisher europaweit über 150.000 hörgeschädigte Menschen mit einem CI versorgt, 40 Prozent von ihnen sind Kinder. In Deutschland leben derzeit rund 40.000 CI-Träger. Jährlich kommen rund 3000 hinzu.
(https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/medizinethik/article/955091/cochlea-implantat-eltern-operation-des-gehoerlosen-kindes.html)

[Leserbrief dazu:]

Die Argumentation des Gehörlosen-Bundes ist erstaunlich. Schrift- und Gebärdensprache sind probate Hilfsmittel, wobei die Gebärdensprache normal Hörende in aller Regel nicht beherrschen und daher auf diese Weise keinen sprachlichen Kontakt mit dem Gehörlosen herstellen können. Das Cochlea-Implantat ist ohne Zweifel das bessere Hilfsmittel, soweit es um die Überbrückung der Innenohr-Funktion geht und nicht um einen zentralnervösen Defekt. Das vom Gehörlosen-Bund erwähnte Hörgerät bringt bei richtig diagnostizierter Gehörlosigkeit leider nichts. Urban Wiesing hat recht wenn er argumentiert, Eltern sollen Kindern Entfaltungsmöglichkeiten nicht verwehren. Dazu ist das Gehör nicht verzichtbar, man denke neben zwischenmenschlichen Kontakten z.B. auch an Musik. Nicht verstehen kann ich U. Wiesing, wenn er es für nicht sicher hält, ob Gehörlosigkeit vielleicht nicht pathologisch sei sondern nur zur Vielfältigkeit der Menschen gehört. Auch Blindheit ist nicht einfach nur Vielfältigkeit oder Andersartigkeit, sondern eine Behinderung. Man muß nur einmal in der eigenen Umgebung miterlebt haben, wie eine zunehmende Erblindung die Entfaltungsmöglichkeiten und das tägliche Leben einschränkt. Dabei führt Blindheit nicht wie bei Gehörlosen oder stark Schwerhörigen zur Gefahr einer Vereinsamung. Bei allen diese Einschränkungen kann man etwas Sinnvolles tun, aber sie bleiben dennoch Einschränkungen. Der Vergleich mit dem Down-Syndrom hinkt. Dieses kann man nicht somatisch behandeln, die Gehörlosigkeit dank der immer besser gewordenen Cochlea-Implantate aber durchaus. Das die Erlernung der Schriftsprache hierdurch gestört werde ist nicht zu verstehen.
Daher ist es durchaus ein Verstoß gegen das Kindeswohl, wenn man einem gehörlosen Kind, das noch nicht selbst entscheiden kann, ein Cochlea-Implantat verweigert.
Prof. Dr.med. Volker von Loewenich, Frankfurt a.M.


Hinzuzufügen ist noch, daß die klagenden Eltern selbst gehörlos sind.

Sie machen u.a. geltend, daß die Implantation ein schwerer Eingriff und nicht ohne Nebenwirkungen sei.
Außerdem sei die Gebärdensprache als vollwertige Sprachvariante anerkannt, das Kind also auch aus dieser Sicht nicht behindert.
Die Argumentation des Mediziners ist nicht ganz schlüssig, da der Verlust der Sehfähigkeit etwas ganz anderes ist als angeborene Blindheit. Das gilt entsprechend auch vom Ertauben.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 30.03.2018 um 15.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#38373

Die Darlegung des Mediziners ist insofern keineswegs unschlüssig, als er ja angeborene und erworbene Blindheit gar nicht gleichsetzt, sondern nur sagt, daß jeder, der sein Sehvermögen selbst verloren hat oder es bei anderen erlebt hat, weiß, welche Einschränkung im täglichen Leben mit Blindheit verbunden ist. Inwieweit allerdings Taubheit und Blindheit verglichen werden können, ist eine andere Frage.

Schief erscheint mir dagegen die Aussage der Eltern, die Gebärdensprache sei als „vollwertige Sprachvariante anerkannt“. Erstens hat der Mediziner ja schon dargelegt, daß es nicht allein um Sprache geht, und zweitens frage ich mich, wer wohl die Befugnis haben könnte, eine Sprachvariante allgemein als „vollwertig“ anzuerkennen.

Schwer verständlich erscheint mir die Darstellung, wonach das Krankenhaus vor Gericht klage. Nach anderer Darstellung (u.a. Spiegel online) soll sich das Krankenhaus an das Jugendamt gewandt und dieses die Angelegenheit an das Familiengericht „weitergeleitet“ haben (was immer das auch heißen mag).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2018 um 04.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#38475

Melanchthon war 1,50 m groß und lispelte. Dieser Sprachfehler, den eine Logopädin heute leicht heilen kann, sofern der Patient eisern übt, steht normalerweise einer Karriere im Wege, aber vielleicht hat sie zusammen mit der Schmächtigkeit gerade dazu beigetragen, daß Luthers "Graeculus" die Zeitgenossen so faszinierte? Im Hörsaal soll er bis zu 400 Hörer gehabt haben, was ja fast die gesamte Wittenberger Universität bedeutet.

(Ich ärgere mich gerade über meine Bildungslücke. Über Luther haben wir in der Schule wieder und wieder reden hören, und nebenbei wurde sein Helferlein erwähnt; Cranachs Parallel-Porträts hängen in den evangelischen Kirchen, auch hier in Erlangen, aber sonst?)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.01.2019 um 05.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#40488

Bei einer ganz unbekannten Sprache fällt es uns leichter, unsere Aufmerksamkeit nur auf das Sprechgeräusch zu richten. Das Ideal des radikalen amerikanischen Strukturalismus (Zellig Harris) war es, nur diese Lautkette zu analysieren. Allerdings wurde das nie verwirklicht, weil es sehr schwer ist, wiederkehrende Teile auf Invarianten (types) zu beziehen, wenn man die Bedeutung ausklammert. Auch die maschinelle Spracherkennung nimmt darauf Rücksicht.

Vergleichbar ist folgendes: Wir sind nicht imstande, etwa Haydns Melodie als rein musikalisches Ereignis wahrzunehmen und die Nutzung als Nationalhymne völlig auszuklammern. Bei fremden Nationalhymnen schaffen wir das ohne weiteres (d. h. auch ohne die anderswo schon besprochene Gänsehaut).

Nicht ganz so zwingend, aber immer noch wirksam: Kruzifixus vs. Buddhastatuen usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2020 um 09.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#42896

Das Cochlea-Implantat dient auf diesen nichtmedizinischen Seiten ja nur als Beispiel für die Tatsache, daß die sogenannte Wahrnehmung immer in erheblichem Maß gelernt ist und darum nicht vergleichbar mit Mikrofon und Kamera, die in vorbestimmter Weise "abbilden", was dann weiteranalysiert wird.
Diese Illusion ist unvermeidlich ihrer. Man schlägt die Augen auf und "nimmt auf" usw. Das wiederum ist das Vorbild für die "phänomenologische" Spekulation, die in ihrer Hilf- und Sprachlosigkeit auf die in der Allgemeinsprache bereiiliegenden Konstrukte zurückfällt und sprachverführt ist wie keine andere Philosophie. "Einfach" ("schlicht") beschreiben, was man sieht, was man hört... Es ist nicht möglich, und dies nachzuweisen ist mir schon sehr wichtig. Es ist auch sprachwissenschaftlich von größter Bedeutung.
Die sogenannte Wahrnehmung und deren sprachlicher Ausdruck haben sich Hand in Hand seit frühester Kindheit entwickelt. Man kann sie sich gar nicht identisch genug vorstellen – um es mit einem ihrer Bedenker auszudrücken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.03.2020 um 10.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#43110

Weiter (obwohl es längst nicht mehr zu "Sprechstörungen" gehört):

Beim Cochlea-Implantat wissen wir, wie wenig Input es liefert; wir haben es ja selbst konstruiert. Der Reichtum an Details, den der eingewöhnte Träger wahrzunehmen meint, wird vom Gehirn erzeugt, genauer gesagt: der Eindruck vom Reichtum an Details. Bei „Ich sehe es genau vor mir“ haben wir schon gesehen, daß solche Eindrücke täuschen; bei anderen Sinnesmodalitäten ist es ebenso.

Ich stelle mir eine Musik vor, z. B. Mendelssohns Ouvertüre zum Sommernachtstraum. Auf eine nicht recht ausdrückbare Art habe ich einen Eindruck von Melodie, Instrumentation, Stimmung, der geradezu unerschöpflich detailliert und unverwechselbar ist. Wahrscheinlich hat das keine Entsprechung im Nervensystem. Ebenso der reichhaltige Eindruck von vorgestellten Gerüchen (Erdbeeren, Gurken, Knoblauch). Jemand hat beim Kaffeetrinken einen Beigeschmack, den er „metallisch“ nennt; manchmal schmeckt – je nachdem, was man sonst zu sich genommen hat, auch Medikamente einschließlich „der Pille“ – der Kaffee sonderbar nach „Bakelit“ o. ä. – Was mag da vor sich gehen?

Man denkt: Ich könnte den Eindruck eines Bildes, eines Geruchs, einer vielstimmigen Musik doch nicht haben, wenn es nicht etwas entsprechend detailreiches „Eindrückendes“ gäbe... Aber das ist falsch gedacht, die Illusion kann unabhängig davon erzeugt werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.09.2020 um 06.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#44284

Sprachliche Unarten nerven stärker als wirkliche Sprachfehler. Manche Sprecher setzen zwischen alle Satzglieder ein äh (öh), ohne es zu merken, sehr störend. Dabei kann man es sich leicht abgewöhnen, wie ja auch Lispeln leicht behoben werden kann, anders als Stottern. Wir ärgern uns, weil wir den ständigen Gedanken „Reiß dich mal zusammen!“ aus Höflichkeit nicht aussprechen dürfen. Das Ergebnis sind in Ehren ergraute Experten, denen man nicht zuhören mag.

Friedrich Kainz gebraucht auf jeder Seite vermögen statt können, das paßt zum gravitätischen Stil seiner überaus weitschweifigen „Psychologie der Sprache“.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.09.2020 um 07.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#44296

Die Stimmlippen sind durchaus der bewußten Steuerung zugänglich, aber wenn ich jemanden auffordere, die Stimmlippen zu schließen, weiß er nicht, was er tun soll; vielleicht weiß er nicht einmal, daß er welche hat. Aber wenn ich sage, er soll mal die Luft anhalten, dann schließt er die Stimmlippen, er kann es also.

Früher schon erwähnt: Der Arzt kann den Patienten nicht bitten, den Zungenrücken zu senken. Das verstehen nur Phonetiker. Man muß sagen: Sag mal a! Dann klappt es auch bei Kindern.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.01.2021 um 07.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#45057

Ausgezeichneter Beitrag über den Stotterer Biden vom Stotterer Friedrich Christian Delius in der Süddeutschen Zeitung vom 19.1.21.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer , verfaßt am 20.01.2021 um 11.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#45072

Im DLF kam gerade eine Sendung zur Zukunft der Innenstädte, mit Hörerbeiträgen über Telefon sowie Experten im Studio.
Einer der Experten, ein Stadtplaner, stotterte auffällig. Was er sagte, fand ich inhaltlich gut und interessant. Allerdings war es schon recht anstrengend, ihm längere Zeit aufmerksam zuzuhören.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.01.2021 um 08.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1628#45082

Auch die 22jährige Amanda Gorman, die zu Bidens Inauguration ihr Gedicht vortrug, litt lange an einer Sprechstörung und führt darauf teilweise ihr Interesse an Sprache zurück, so auch in einem Interview mit Stephen Colbert, das mir recht gut gefallen hat. Starkes Sendungsbewußtsein für eine gute Sache, das ist schon okay.

Sie konnte früher das "r" nicht aussprechen, was uns an ein Kind in der nächsten Verwandtschaft erinnerte, das Kirschen jund und jot findet. Das wird aber noch.

Allmählich reicht das Material, um eine Typologie oder Charakterologie der Menschen mit überwundenen Sprechstörungen zu entwickeln.
 
 

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