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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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09.12.2010
 

Unanständig
Die so genannte Kunst

Durch die SZ bin ich auf die äußerst seltsame Einladung zur Berlin Biennale aufmerksam geworden. Hier der Text:

»Im Rahmen der von Artur Żmijewski kuratierten 7. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst (2012) sind Künstlerinnen und Künstler weltweit dazu aufgefordert, unter den unten genannten Bedingungen künstlerisches Material für Recherchezwecke einzureichen.

Akzeptiert werden Einsendungen in Papiergrößen bis DIN-A3 (297 x 420 mm), gedruckte Abbildungen, digitale Dateien (PDF bis DIN-A4-Größe/297 mm x 210 mm) sowie DVDs.
Bitte senden Sie keine originalen Kunstwerke ein.
Künstlerische Kommentare und Erklärungen sind in allen Sprachen willkommen, es wird jedoch darum gebeten, eine englische Version mit einzureichen.

Da die Recherche auch die Frage betrifft, ob Künstlerinnen und Künstler sich selbst als politisch ansehen, bitten wir Sie, uns über Ihre politische Neigung zu informieren (z. B. rechts, links, liberal, nationalistisch, anarchistisch, feministisch, maskulinistisch, oder worüber Sie sich sonst identifizieren) oder aber darüber, ob Sie sich für unpolitisch halten.

Künstlerische Darstellungen oder Präsentationen sind in Papierform per Post, E-Mail oder Fax bis zum 15. Januar 2011 an folgende Adresse zu senden:

Berlin Biennale
– Open Call –
KW Institute for Contemporary Art
Auguststr. 69
10117 Berlin/Germany«

Der Kurator Zmijewski erläutert:

»Üblicherweise werden Künstlerinnen und Künstler nicht nach ihrer politischen Haltung gefragt. Aber dieses Mal ist es anders. Meiner Meinung nach verkörpern alle Künstler bestimmte politische Standpunkte, auch wenn sie diese nicht explizit ausdrücken möchten. Es gibt die unausgesprochene Regel für Künstler, eine so genannte politische Kunst aus einer unidentifizierten politischen Position heraus zu schaffen, dabei selbst aber neutral zu bleiben, auch wenn es offensichtlich ist, dass sie das nicht sind.

Unsere Realität ist gestaltet durch Politik; das bedeutet, dass auch die Kunst darauf aufbaut. Lasst uns diese unsichtbaren/versteckten Strukturen, diesen unanständigen Hintergrund der Kunst, darlegen. Politik ist nicht gleichbedeutend mit Machtkampf und schmutzigen Spielen, auch wenn Politiker uns davon überzeugen wollen. Sie ist vielmehr die Sprache unserer kollektiven Bedürfnisse, die die Menschen teilen.

Wir sind nicht nur menschliche Wesen, wir sind auch politische Wesen, wie Hannah Arendt sagte. Lasst uns das, was wir als Künstler tun, auch in einer klar politischen Weise beschreiben. Deshalb frage ich nach dieser “geheimen” und “privaten” Information. Lasst uns ihr einen öffentlichen Körper geben.

Das bedeutet nicht, dass die kuratorische Entscheidung auf einer bevorzugten politischen Haltung beruht – nein, wie immer wird sie aufgrund von Intuition und Unklarheit getroffen. Aber dieses Mal werden Intuition und Unklarheit durch dieses über-offensichtlich politische Element etwas verformt. Wir werden sehen, was passiert.

Artur Żmijewski«



Ja, was wird passieren? Werden Künstler ausgeschlossen, die nicht zu einem politischen Bekenntnis bereit sind, vielleicht weil sie die weitgehenden Behauptungen Zmijewskis nicht teilen?
(Wie hübsch, daß er Hannah Arendt zitiert – als Beleg für einen Satz, der, als Aristoteles ihn aussprach, noch nicht banal war. Möchten Sie von einem solchen Mann über Politik belehrt werden?)



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Kommentare zu »Unanständig«
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Kommentar von Marconi Emz, verfaßt am 10.12.2010 um 05.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1380#17545

Eine sture Verweigerung dieses politischen Bekenntnisses könnten Artur Żmijewski und sein Kuratorium mit viel gutem Willen immerhin noch als »Erratet doch selbst, ob ich die erwünschte marxistisch-feministische Linie vertrete« interpretieren. Im Falle ausreichend akzeptabler Kunst wäre die intuitive Antwort vermutlich ja. Wesentlich reizvoller wäre es jedoch, wenn sich ein Künstler schamlos als radikal rechts, ultranationalistisch, maskulinistisch, hundertprozentig heterosexuell und, sozusagen als subtile Zugabe für Kenner, auch noch als entschiedener Gegner der deutschen Rechtschreibreform definieren würde. Das Kuratorium dürfte eine derartige Dreistigkeit vermutlich mit der größtmöglichen bösartigen Befriedigung zur Kenntnis nehmen und diesen »unanständigen Hintergrund« entsprechend würdigen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2010 um 09.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1380#17546

Die Unterstellung, daß die eingeladenen Personen sich über eine dieser seltsamen politischen Neigungen "identifizieren", sollte zur Disqualifizierung des Kurators ausreichen.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 10.12.2010 um 09.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1380#17547

"Es gibt die unausgesprochene Regel für Künstler, eine so genannte politische Kunst aus einer unidentifizierten politischen Position heraus zu schaffen, dabei selbst aber neutral zu bleiben, auch wenn es offensichtlich ist, dass sie das nicht sind"?

Politik ist "die Sprache unserer kollektiven Bedürfnisse, die die Menschen teilen"?

Mal festhalten: das ist Stußdeutsch, dem sich bestenfalls entahnen läßt, was gemeint sein könnte. Dergleichen ist nur zu üblich auf dem Felde der Kunst, wo überall dichte Wortnebel wallen und zudem die "unausgesprochene Regel" gilt, daß niemand darin zu stochern habe.

Zu den künstlerischen Aktivitäten, mit denen Artur Żmijewski Aufmerksamkeit erregte, gehört übrigens ein Film, in dem gehörlose Jugendliche Bachkantaten aufführen.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 10.12.2010 um 12.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1380#17548

Die Wortfamilie "Politik" ist (wie manche andere Wörter) von einem bei den alten Griechen sehr ehrenwerten Begriff allmählich zu einem sehr abwertenden Begriff geworden. Aristoteles meinte damit wohl etwas völlig anderes als wir heute.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 10.12.2010 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1380#17550

"Politik ist nicht gleichbedeutend mit Machtkampf und schmutzigen Spielen, auch wenn Politiker uns davon überzeugen wollen."

Bildende Künstler haben es wohl nicht so mit der Sprache.

Die Handlungen der Politiker mögen manchmal geeignet sein, uns zu überzeugen, daß Politik "gleichbedeutend mit Machtkampf und schmutzigen Spielen" sei; daß die Politiker uns davon aber "überzeugen wollen", mutet eher unwahrscheinlich an.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.12.2010 um 22.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1380#17551

Der eine sagt "richtig", der andere sagt "falsch", der dritte sagt "Hört auf zu streiten, das hat eben politische Gründe."
Früher stand Politik über den Dingen, eine "politische" Entscheidung war per Definition richtig.

Heute dagegen spricht man von "politisch korrektem" und "politisch inkorrektem" Verhalten.
 
 

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