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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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04.06.2009
 

Marginal?
Zu einem Kalenderblattt

STERN-Kalenderblatt zum 3. Juni:
"2004 - Die Kultusminister bestätigen einstimmig die 1998 an den Schulen eingeführte Rechtschreibreform und nehmen marginale Änderungen vor."

Man kann darüber streiten, was "marginal" bedeutet. Da schon 2004 der Neudruck aller Schulbücher usw. erforderlich wurde, kann man die Änderungen nicht eigentlich unwesentlich finden. Außerdem war das Datum entscheidend, weil die Reformer und ihre unwissenden Auftraggeber überhaupt eine Tür aufgestoßen haben. Die bis dahin eisern verteidigte Position wurde geräumt und auch inhaltlich eine Lawine losgetreten. Was damit in Gang kam, führte zwangsläufig zur nächsten Revision und wird immer noch weitere Folgen haben. Ich setze meinen Kurzkommentar noch einmal hierher:


Zur Revision der Neuregelung seit Juni 2004

von Theodor Ickler

Im Juni 2004 beschlossen die Kultusminister, den vierten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission mit einigen Änderungen und Ergänzungen anzunehmen. Der volle Umfang dieser ersten amtlichen Revision (nach mehreren inoffiziellen, durch Absprachen mit Duden und Bertelsmann in die Wörterbücher eingeführten) war zunächst nur aus dem Ende August 2004 erschienenen neuen Duden abzulesen oder doch zu erahnen – denn es kam noch zu einigen Überraschungen. Die Neufassung der amtlichen Regeln samt neuem Wörterverzeichnis erschien Ende November auf der Internet-Seite der Kommission, erst im Februar 2005 kam die Buchfassung heraus (Verlag Gunter Narr). Den Kultusministern hat sie, wie der Generalsekretär der KMK bestätigt, nicht noch einmal zur Billigung vorgelegen. Wie die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien am 17.12.2004 brieflich mitteilen ließ, soll die revidierte Fassung wiederum im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Die Kultusministerien der Länder hingegen wollen, soweit zu erfahren war, auf eine Veröffentlichung in ihren Amtsblättern verzichten und verweisen auf die für jeden Lehrer leicht zugängliche Internetversion (immerhin ein Text von rund 300 Seiten).
Über Inhalt und Reichweite der jüngsten Revision bestehen in der interessierten Öffentlichkeit kaum zutreffende Vorstellungen, was bei der zurückhaltenden Informationspolitik der Reformer auch nicht verwundert. Außerhalb des engen Kreises der aktiven Reformgegner ist mir niemand bekannt, der die Revision zur Kenntnis genommen hätte. Auch von Lehrern erfahre ich immer wieder, daß niemand sie auf die Revision hingewiesen hat. Da der Rechtschreibduden einige Monate „zu früh“ erschien, gibt es zur Zeit (Juni 2005) kein einziges Wörterbuch, das den aktuellen Stand der Rechtschreibreform korrekt und vollständig widerspiegelt.
Die stärksten Eingriffe gibt es naturgemäß bei der Getrennt- und Zusammenschreibung.
Neu eingeführt ist der Begriff des Verbzusatzes, auf dessen Unentbehrlichkeit die Kritiker der Reform von Anfang an hingewiesen haben.
Der besonders problematische Paragraph 34 ist weitgehend neu gefaßt. Die Liste der Verbzusätze ist um mehr als ein Dutzend Elemente erweitert und zugleich geöffnet worden, so daß sie jetzt nur noch als überdimensionierte Beispielsammlung anzusehen ist. Damit werden Tausende von Zusammenschreibungen wieder möglich, die seit 1996 untersagt waren: darunterschieben usw.
Wie sich bereits im vierten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission abzeichnete, werden in die Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung die Kriterien der Betonung und der Bedeutung eingeführt, von denen die gesamte Neuregelung eigentlich nichts wissen wollte. Nach langem Widerstand gibt sie nun den Kritikern und dem normalen Sprachgefühl recht. (Die Wiedereinführung der Betonung als Kriterium und die Öffnung der Listen waren schon im ersten Bericht 1997 unter dem Eindruck der Kritik vorgeschlagen, aber nicht verwirklicht worden.)
Die Reformkommission scheint sich allerdings der Tragweite dieser Zugeständnisse ebensowenig bewußt zu sein wie die Dudenredaktion.
Ein Hauptproblem der Neuregelung war von Anfang an die Unterscheidung von Verbzusatz und adverbialer Erweiterung. Die Neuregelung von 1996 stellte bekanntlich Verbzusatzkonstruktionen wie übrigbleiben, fertigstellen oder heiligsprechen mit den gänzlich anders gebauten adverbialen Erweiterungen freundlich grüßen, gründlich säubern usw. gleich und unterwarf sie der völlig aus der Luft gegriffenen Regel, wonach Verbindungen mit Adjektiven auf -ig, -lich oder -isch getrennt zu schreiben seien: heilig sprechen usw. - Eine zweite Regel besagte, daß Getrenntschreibung eintrete, wenn der adjektivische erste Bestandteil steigerbar oder erweiterbar ist. (Diese Regel widerspricht großenteils der vorigen, da heilig usw. in solchen Verbindungen gerade nicht steigerbar oder erweiterbar sind.)
Dieses unbefriedigende Ergebnis führte schon 1997 dazu, daß die Kommission Änderungen für „unumgänglich notwendig“ hielt. Sie wurden jedoch von der KMK untersagt.
In der Neubearbeitung wird nun endlich festgehalten:
„Partikeln (Präpositionen, Adverbien), Adjektive oder Substantive können als Verbzusatz mit Verben trennbare Zusammensetzungen bilden. [...] Der Verbzusatz trägt den Hauptakzent.“ [§ 34] „Kennzeichnend für den Gebrauch als Adverbial ist, dass es nicht den Hauptakzent trägt und zwischen Adverbial und Verb weitere Satzbestandteile stehen können.“ [§ 34 (1) E1]
Auch nach diesen Kriterien, die beide aus der Reformkritik übernommen wurden, ist die Getrenntschreibung bei fertigstellen usw. nicht gerechtfertigt, sie bleibt eine Ausnahmeregel. Dasselbe gilt aber auch für anders gebaute Verbzusätze. Das amtliche Wörterverzeichnis und der neue Duden sehen ausdrücklich vor, daß lahm legen getrennt geschrieben wird. Der Zusatz lahm trägt den Hauptakzent und ist nicht durch weitere Satzbestandteile vom Verb zu trennen. Außerdem ist er aber auch nicht steiger- oder erweiterbar, denn in Wendungen wie völlig lahmlegen – woran die Reformer gedacht haben mögen – bezieht sich die Intensivierung auf den gesamten Komplex. Man kann nicht fragen: „Wie hat er den Verkehr gelegt? Lahm.“ Und schon gar nicht: „Wie lahm hat er den Verkehr gelegt?“
Folglich spricht hier und in zahllosen ähnlichen Fällen alles für die bisher übliche Zusammenschreibung. Sie wäre sogar über den Duden von 1991 hinaus noch auszuweiten, um der tatsächlichen Sprachpraxis gerecht zu werden: ernstnehmen usw.; sie sollte außerdem als fakultativ gekennzeichnet werden, wie es dem wirklichen Schreibbrauch entspricht
Die Semantik wird in der folgenden neuen Regel herangezogen:
„Bei Verbindungen aus Einzelwort und adjektivisch gebrauchtem Partizip ist neben der Getrenntschreibung nach § 36 E1(1) auch Zusammenschreibung möglich, wenn die Verbindung der beiden Wörter als Einheit aufgefasst werden soll.“ [E2(2)]
Daraus ergeben sich die herkömmlichen Zusammensetzungen ratsuchend, alleinerziehend, ernstgemeint usw. Diese drei werden als Beispiele angeführt, das Wörterverzeichnis enthält rund 90 weitere, und im neuen Duden sind über 400 Beispiele wiedergewonnener Zusammenschreibung enthalten. Tausende von weiteren lassen sich nach demselben Muster bilden.
Damit wird die Grundregel gemäß § 36, wonach partizipiale Verbindungen ebenso getrennt geschrieben werden wie das zugrunde liegende Verb, praktisch aufgehoben. Die Neufassung fällt aber immer noch hinter den alten Duden zurück; sie ist insofern unhaltbar, als sie die syntaktischen Bedingungen, unter denen Getrennt- bzw. Zusammenschreibung angebracht sind, nicht näher beschreibt. Im vierten Bericht war immerhin schon erkannt worden, daß prädikative Verwendung des verbal konstruierten partizipialen Gefüges nicht zulässig ist: *Sie ist allein erziehend. *Der Plan ist viel versprechend. Diese Einsicht ist inzwischen wieder abhanden gekommen. Stattdessen findet man den Hinweis auf „adjektivischen“ Gebrauch des Partizips, woraus im Wörterverzeichnis schlicht der adjektivische Gebrauch des gesamten Gefüges wird, ebenso im neuen Duden. Das ist verwirrend. Und warum darf man schwer verletzt wieder zusammenschreiben, wenn das Partizip „adjektivisch gebraucht“ ist, schwer krank aber nicht, obwohl hier ein echtes Adjektiv vorliegt? Ebenso: allgemeinbildend ist wieder zulässig, allgemeingültig aber nicht. Auch dieser Widerspruch muß beseitigt werden, ganz zu schweigen von der Paradoxie, daß die Substantivierung dann fakultativ doch wieder zusammengeschrieben wird: der Schwerkranke. Keine Grammatik könnte das erklären.
Auf Anfrage teilte der Generalsekretär der KMK, Prof. Dr. Erich Thies, am 10.1.2005 mit, daß es zu den Aufgaben des neuen „Rates für deutsche Rechtschreibung“ gehören werde, den Sinn des Begriffs „adjektivisch“ in der neuformulierten Regel und im Wörterverzeichnis zu klären.
Im neuen amtlichen Wörterverzeichnis, aber noch nicht im neuen Duden steht auch das wiederhergestellte zurückgewesen. Damit wäre die Zusammenschreibung auch mit Formen von sein wieder zulässig, entgegen § 34, wo es immer noch heißt: „Verbindungen mit sein gelten nicht als Zusammensetzung. Dementsprechend schreibt man stets getrennt.“
Überraschend, aber im Grunde konsequent (bei aller Inkonsequenz) ist die Wiederzulassung von radfahrend, das ebenfalls noch nicht im neuen Duden steht. An der angeblichen Widersinnigkeit dieser Schreibung hatte sich ja seinerzeit die Dudenkritik entzündet und die ganze Rechtschreibreform einen ihrer meistzitierten Anlässe demonstriert.
Die Wiederzulassung von auswendiggelernt, niedriggehängt, weniggelesen, kleinlichdenkend (alle im amtlichen Wörterverzeichnis, aber noch nicht im Duden) hebt das erwähnte Verbot von Zusammenschreibung mit Adjektiven auf -ig, -isch und -lich auf.
Auch das ebenso willkürliche Verbot von Zusammensetzungen mit Wörtern auf -einander und -wärts ist aufgehoben: auseinanderlaufend, vorwärtsblickend (amtl. Verzeichnis, zahlreiche weitere im neuen Duden).
Die neue Einsicht ist aber noch nicht zu Ende gedacht. Wenn kennengelernt, sitzengeblieben, auseinanderlaufend, vorwärtsblickend, radfahrend und zufriedenstellend wieder zulässig sind, muß dasselbe auch für kennenlernen, sitzenbleiben, auseinandersetzen, abwärtsgehen, radfahren und zufriedenstellen gelten, wie es ja teilweise bereits im ersten Bericht der Kommission Ende 1997 vorgesehen war. Dasselbe gilt für partizipiales Erstglied: verlorengegangen ist auch laut Wörterverzeichnis wieder zulässig; das sollte wohl auch für das Verb verlorengehen gelten. Alles andere wäre weder Schülern noch gar Erwachsenen plausibel zu machen. Auf dieser Linie bleibt noch sehr viel zu tun.
Insgesamt muß man feststellen, daß die Neuregelung der Getrennt- und Zusammenschreibung nur noch ein Trümmerhaufen ist, in dem nichts mehr zusammenpaßt.
Neben die grammatisch falsche Neuschreibung Leid tun tritt als neue Variante leidtun; nur das bisher übliche leid tun ist nicht mehr zulässig. Das entspricht der Entschlossenheit der Reformer, „lediglich als Zugeständnis an das Hergebrachte, Altgewohnte zu verstehende Schreibungen nicht zuzulassen“ (Zweiter Bericht der Kommission). Sprachwissenschaftlich ist es nicht zu begründen.
Die reformierte Kommasetzung läuft großenteils auf Weglaßbarkeit von Kommas hinaus. Dem wird zwar durch Ratschläge zur Vermeidung von Mißverständnissen wieder entgegengewirkt, aber man fragt sich, welchen Sinn eine Neuregelung hat, die folgenden Satz als immerhin zulässig ermöglicht:
Er geht um das Haus zu finden zur Polizei. (Neues Beispiel unter § 76)
Adverbiale Infinitivsätze sollten grundsätzlich mit Kommas abgegrenzt werden, damit solche Torheiten gar nicht erst entstehen.
Redaktionelle Fehler: Unter § 57 wird das Beispielwort In-Kraft-Treten weiterhin mit Bindestrichen geschrieben, obwohl dies in der Neufassung von § 43 ausdrücklich ausgeschlossen wird und auch der vierte Bericht diesen Fall ausführlich dargelegt hat. – Die Beispiele sind teilweise (aber nicht in §§ 84 und 86) von DM auf Euro umgestellt.

Zum neuen Wörterverzeichnis

Im Wörterverzeichnis fehlen jetzt die Sternchen, die bisher auf reformbedingte Neuschreibungen hinwiesen. Der entsprechende Hinweis in den Vorbemerkungen ist gestrichen. Daher ist es nicht mehr so leicht, die Zahl der Neuschreibungen festzustellen.
Etwa 90mal wird die Zusammenschreibung von Komposita mit partizipialem Kern ausdrücklich wieder zugelassen unter Hinweis auf den „adjektivischen“ Charakter (s.o.).
Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenvarianten ist aufgegeben.
Das Wörterverzeichnis enthält den Eintrag
„achtfach § 36(2), 8fach § 41 E, 8-fach § 40(3); das Achtfache, das 8fache, das 8-Fache, um das Achtfache [größer] § 57(1)“
Die Bindestrichschreibung ist neu, die Herleitung aus § 40(3) ist unzutreffend, da es sich nicht um eine Zusammensetzung, sondern um eine Ableitung handelt. Die Reformer haben hier im Gefolge des vierten Berichts einen neuen Ausnahmetatbestand geschaffen. Der neue Duden extrapoliert mit Recht eine neue Unterregel, die nur für dieses eine Element gilt:
„K 30 3. Der Wortbestandteil »-fach« kann mit oder ohne Bindestrich an die Ziffer angehängt werden.

8fach oder 8-fach, 8,5fach oder 8,5-fach

Bei Substantivierungen ist nach dem Bindestrich großzuschreiben.

das 8fache oder 8-Fache (aber: die 8fache oder 8-fache Menge)“

Es ist nicht einzusehen, warum derselbe Bindestrich nicht z. B. auch bei 80-er usw. stehen und warum er bei 8-mal nicht ebenfalls fakultativ sein soll. Laut Erörterung im vierten Bericht „ist der Wortbestandteil einer Grauzone zwischen unselbstständigem Grundmorphem und Suffix zuzuordnen“. Dasselbe ließe sich aber auch von -jährig, -äugig und vielen anderen Bestandteilen sogenannter Zusammenbildungen sagen (die übrigens laut Dudengrammatik von 2005 keine Zusammensetzungen sind und gar nicht unter den Paragraphen der Neuregelung fallen dürften).

In den exklusiven Beratungsgesprächen zwischen der Kommission und den beiden führenden Wörterbuchredaktionen war vereinbart worden, daß neben der Maß auch die süddeutsche Mass zulässig sein sollte; im Duden 2000 taucht sie zum erstenmal auf. Das neue Wörterverzeichnis weiß nichts davon. Statt dessen führt es den Spass ein, als österreichische Variante, die zwar im ÖWB und bei Bertelsmann bereits verzeichnet, durch die Neuregelung aber nicht gedeckt war und auch in den Berichten der Kommission nicht diskutiert ist.

Die korrekte Schreibweise von Hohe(r)priester, Hohe(s)lied ist nicht mehr feststellbar, weil der ganze Eintrag aus dem Wörterverzeichnis gestrichen wurde. Zuletzt war dieses Problem im dritten Bericht der Kommission erörtert worden, aber nicht mehr im vierten Bericht. Langeweile fehlt weiterhin, weshalb die Wörterbücher bis heute zu verschiedenen Angaben kommen (Duden: aus langer Weile; Bertelsmann: aus Langerweile usw.).

Auffällige Lücken des Wörterverzeichnisses von 1996 auch bei orthographisch relevanten Wörtern (insofern, insoweit u.a.) sind ungeachtet der Kritik nicht geschlossen worden.



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Kommentare zu »Marginal?«
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Kommentar von Peter Schmitt, verfaßt am 04.06.2009 um 21.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1169#14570

"Spass" soll österreichisch sein? Wenn ich mich richtig erinnere, war doch gerade die südliche (österreichische) Aussprache (langes a), "schuld" daran, daß weiterhin "Spaß" geschrieben wird. Habe ich da etwas mißverstanden? (Ich bin Wiener, und ein kurzes "a" ist mir fremd.)
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 04.06.2009 um 22.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1169#14571

Haben Sie vielleicht ein Österreichisches Wörterbuch (ÖWB) zur Hand? Dann könnten Sie doch einfach mal nachschauen.
 
 

Kommentar von Paul Westrich, verfaßt am 06.06.2009 um 14.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1169#14587

Gerade das Wort "Spaß" ist für mich eines der Beispiele, warum ich außer der besseren Lesefreundlichkeit Adelung bevorzuge. In meiner Heimat, dem Westrich (ein Landstrich im Westen der Pfalz, von dem auch mein Familienname herrührt), spricht man das a in Spaß stets kurz, ebenso in meiner zweiten Heimat Württemberg. Hier müßte man, folgt man der "neuen" Rechtschreibung, wenn man "nass" statt "naß" schreibt, konsequenterweise auch schreiben: Das macht richtig Spass!
 
 

Kommentar von Wiener Zeitung, 10. Juni 2009, verfaßt am 29.06.2009 um 21.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1169#14706

Sedlaczek am Mittwoch
Spaß statt Spass – so viel Zeit muss sein
Von Robert Sedlaczek

Die Schreibung des Wortes führt oft zu Unsicherheiten: Sollen wir Spaß schreiben? Oder Spass ? Vielleicht geht es nur darum, in sich hineinzu horchen: Kurzes oder langes a?

Das "Österreichische Wörterbuch" verzeichnet beide Schreibungen: Spaß und Spass , und zwar in dieser Reihenfolge. In einem Kasten wird erklärt, warum es zwei Schreibungen gibt: "Spaß – das a wird lang ausgesprochen." Hingegen: "Spass – das a wird kurz ausgesprochen."

Seit der Rechtschreibreform existiert ja die Regel, dass nach einem langen Vokal ein ß folgen muss, nach einem kurzen ss. "Was, es gibt keinen Kuß mehr?" So hat der Slogan eines deutschen Wörterbuchverlages nach Beschluss der Reform gelautet. Jaja, es gibt nur mehr den Kuss, aber er schmeckt genauso wie der frühere Kuß.

Jakob Ebner, ein Bearbeiter des "Österreichischen Wörterbuchs", teilt mir dazu mit: "Die Aussprache dieses Wortes ist im Deutschen regional und individuell sehr unterschiedlich. Als Standardform in Deutschland und Österreich ist Spaß festgelegt worden – in der Schweiz gilt die Schreibung Spass, dort gibt es ja kein scharfes s."

Für mich war die Vokallänge im Wort Spaß immer ein Wesensmerkmal unseres Sprachgebrauchs. Wir sind ja gewohnt, die Einsilber zu dehnen. "I geh ins Baad." Gleichzeitig habe ich deutsche Sprecher im Ohr, die aufgrund regionaler Mundarten die Einsilber extrem kürzen. Dann klingt "das Bad" so wie "das Batt".

So einfach ist es aber nicht. Das Herkunftswort von "der Spaß" ist nämlich italienisch spasso (= Vergnügen) – mit kurzem Vokal. Es geht zurück auf ein lateinisches Wort, das "ausbreiten" bedeutet hat – gemeint war "sich die Zeit vertreiben". Eine Weile hat man auch im Deutschen Spasso geschrieben, erst später ist der Endvokal abgefallen. Der Spass war geboren. Dann haben die Rechtschreibregeln am Wortende ein ß verlangt. Seit der jüngsten Reform gilt ß als ein Zeichen für Vokallänge und ss als eines für Vokalkürze.

Es geht um eine ganze Wortfamilie. Da gibt es einerseits das Adjektiv spaßig – ich könnte es nicht mit kurzem Vokal aussprechen. Dann die Komposita Spaßmacher, Spaßverderber und Spaßvogel, seit neuerer Zeit auch Spaßfaktor und Spaßgesellschaft – auch hier erscheint mir ein kurzer Vokal abwegig. Gleiches gilt für das Verbum spaßen – nach meinem Sprachgefühl verlangt es ein langes a. Einzige Ausnahme ist Spassetteln – in diesem Fall würde ich einen Kurzvokal sprechen und ss schreiben.

Im benachbarten Bayern, mit dem wir ja sprachlich einiges gemeinsam haben, ist übrigens Spass mit kurzem Vokal die Norm. Dort trinkt man aber auch "eine Mass Bier" (kurzes a), und "die Straße" wird zur "Strass" (kurzes a). Es gilt dort ein klares Prinzip: Was früher ein Zweisilber war, wird nicht gedehnt, und "die Mass" geht auf ein mittelalterliches "die Maße" zurück. Italienisch spasso war ursprünglich auch ein Zweisilber.

Wir sind also in der bemerkenswerten Situation, dass uns die Rechtschreibreformer neben der Hauptform Spaß auch einen auf Österreich beschränkten Spass zubilligen – und das gilt für die ganze Wortfamilie. Jedoch machen nur wenige davon Gebrauch. Wir haben lieber einen Spaß.

Oder nicht? Ist es nur etymologisches Wunschdenken der Wissenschafter? Wünschen sie sich, dass die italienische Herkunft in der Aussprache noch durchschimmert? Jakob Ebner weist mich darauf hin, dass es vor allem im Wiener Bürgertum eine Tradition der Aussprache mit kurzem Vokal gibt – also Spass. Ich habe das noch nie gehört. Ich gebe daher die Frage an meine Leser weiter. Wer spricht Spass mit kurzem a? Oder war es früher so üblich? Es wäre ein Spaß, wenn viele Postings und Leserbriefe kämen.

(www.wienerzeitung.at)

(Hinweis: Der Artikel kann auf www.wienerzeitung.at kommentiert werden.)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 29.06.2009 um 23.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1169#14707

Der Hinweis, daß Spaß von italienisch spasso kommt, erzeugt in meinem Hirn die Idee, alle Wörter und Silben, die jetzt auf "ss" enden, wie einige meiner italienischen Bekannten auszusprechen, nämlich mit einen angehängten [e]. Und "sst" verführt dazu, es wie die altrussischen Vollaut-Silben auszusprechen , z.B. wie altrussisch gorod für gard (Der altrussische Vollaut ("die Polnoglasie") trat an die Stelle der sonst slawischen Konsonanten-Umstellung ("Liquida-Metathese") wie grad für indogermanisch gard.) Also [musset] statt [musst]. So würde die Lächerlichkeit des silben-endenden "ss" und "sst" deutlich.
 
 

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