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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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23.12.2007
 

Unanständig
Die Kunst der Selbstentblößung

Otto Back, ein früher Mitplaner der Rechtschreibreform, unterstellt den Reformgegnern als Motiv:
»Sorge um einen Prestigevorsprung, den die Beherrschung der bisherigen, schwierigeren Orthographie verleiht – würde das Rechtschreiben leichter, dann könnten womöglich sozial Benachteiligte (oder "Minderbegabte") einen solchen Vorsprung einholen (ein unanständiges Motiv).« ('europa dokumentaro' 2001)

Unanständig in der Tat, aber von Back frei erfunden. Es sagt also mehr über ihn selbst als über die Reformkritiker.



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Kommentare zu »Unanständig«
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Kommentar von xyz, verfaßt am 03.09.2009 um 14.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#14927

»Die Erwartung, Regeln sollten eingehalten werden, wird als Diskriminierung von Unterschichten und Migranten betrachtet.«

Demgemäß wäre es auch eine Diskriminierung von Unterschichten und Migranten, wenn wir erwarten, daß sich diese an unsere Gesetze halten?
 
 

Kommentar von F.A.Z., 26.08.2009, Nr. 197 / Seite N4, verfaßt am 02.09.2009 um 20.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#14926

Vollkommen nutzlos für den Unterricht?
In der Linguistik gibt es einen Exotismus der grammatischen Fehler: Die Erwartung, Regeln sollten eingehalten werden, wird als Diskriminierung von Unterschichten und Migranten betrachtet.

Im Unterbau der deutschen Sprache knirscht es. Nicht nur im Umgangsdeutsch, sondern auch in formelleren Texten kommt die Grammatik immer stärker ins Rutschen. Da "bedarf es einem präzisen Regulierungsapparat", man hat "Vertrauen für den Lehrer", es gibt "Streit mit den Nachbar", man "ratet ab", Gebühren "werden erhebt", und abends "gehn wir Disko" - vertauschte Fälle, verbeugte Verben, falsche Präpositionen und andere Irrläufer scheinen ein Symptom für die langsame Erosion des gesamten Systems zu sein.

Journalistische Sprachkritiker geißeln eine zunehmende "Verlotterung" der Sprache und erfreuen sich mit ihren Ratschlägen für richtiges Deutsch größter Beliebtheit. Die zünftige Sprachwissenschaft hält das zwar für Alarmismus und halbgebildete Schulmeisterei. Aber auch sie konstatiert, dass der permanent stattfindende Sprachwandel sein früheres Schneckentempo abgelegt und Fahrt aufgenommen hat. Viele der aktuellen Regelverstöße machen einen Trend sichtbar, der schon seit Jahrhunderten schleichend wirkt: die Verschleifung und Vereinfachung der indogermanischen Sprachen. Schritt für Schritt wechseln sie vom "synthetischen" zum "analytischen" Sprachtyp. Grammatische Bedeutungen werden zunehmend nicht mehr durch Endungen direkt im Wort ausgedrückt, sondern durch Umschreibungen und Hilfswörter. Aus dem "Haus meines Vaters" wird das "Haus von meinem Vater" und schließlich das "Haus von mein Vater". Das Englische ist hier dem Deutschen weit voraus.

Warum verstärken sich solche Tendenzen gerade jetzt? Zum Bündel der Ursachen gehört der Einfluss des Englischen ebenso wie das "Schreibsprechen" in den E-Mails und Chat-Foren mit seiner Durchmischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Hinzu kommt eine allgemeine "Destandardisierung". Während auf der einen Seite die Dialekte zunehmend einem regional gefärbten Umgangsdeutsch weichen, büßen andererseits die Normen der Hoch- und Bildungssprache zumindest in der mündlichen Kommunikation ihre Geltung ein. Wer auf ihnen beharrt, gilt leicht als verspannter Spießer. In einem gesellschaftlichen Klima obligatorischer Lockerheit, geprägt durch das Geschwätz der Talk- und Casting-Shows, kommt man umgangssprachlich einfach "besser rüber".

Gehst Du Schule?

Doch die wichtigste Triebkraft des sprachlichen Umbruchs wird bislang häufig übersehen, meint der Leipziger Sprachwissenschaftler Uwe Hinrichs: Es sind die vielfältigen Sprachmischungen, die das Einwanderungsland Deutschland mittlerweile prägen ("Sprachwandel oder Sprachverfall?" in: Muttersprache 1/2009). Viele Einwanderer springen zwischen einem nur bruchstückhaft gelernten Deutsch und ihrer türkischen, arabischen oder russischen Muttersprache hin und her. Sie schleifen Endungen ab und vereinfachen Satzstrukturen. Entscheidend ist, dass die elementare Verständigung funktioniert, für Feinheiten bleibt wenig Raum. Diese Muster, so die Prognose, werden sich auch jenseits der Immi-grantenmilieus immer weiter ausbreiten.

Zwar beschäftigen sich Linguisten mittlerweile intensiv mit der "Kanak-Sprak" ("Ich geh Schule", "Üsch hab müde") und anderen ethnolektalen Mischformen. Aber für Hinrichs werden sie in ihrer Bedeutung für die gesamte deutsche Sprachgemeinschaft noch nicht erkannt. Danach steht nicht weniger als die radikale Simplifizierung des gesamten grammatischen Systems bevor. Hinrichs ruft die linguistischen Datensammler zur Eile. Der Prozess könnte schon in ein, zwei Generationen so weit fortgeschritten sein, dass sich seine Anfänge kaum noch rekonstruieren ließen. Als Slawist beobachtet er ähnliche Entwicklungen schon seit längerem im Russischen und in den Balkansprachen. Dass seine germanistischen Kollegen die Dynamik des Wandels und seine Ursachen bislang übersehen haben, zeuge von einem blinden Fleck, der auf einer "subtilen politischen Korrektheit" beruhe.

Vieles in diesem Bereich ist noch Spekulation, aber die These, dass die intensiven Sprachkontakte nachhaltige Spuren im Deutschen hinterlassen werden, ist plausibel. Und man wird Hinrichs auch zustimmen, wenn er sagt, dass die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse daran habe, über Art und Ursachen der immer sichtbarer werdenden Veränderungen aufgeklärt zu werden. Noch viel lieber allerdings wüsste die Öffentlichkeit wohl, welche Auswirkungen all die Verschleifungen, Umstellungen und Normlockerungen denn auf die Qualität der Hochsprache haben werden.

Hierauf bleibt Hinrichs die Antwort schuldig, denn wie die große Mehrheit seiner Kollegen bekennt er sich zu einer prinzipiellen Bewertungsabstinenz. Urteile über richtiges und falsches, besseres und schlechteres Deutsch sind als "unwissenschaftlich" verpönt. Publizistische Sprachkritiker wie Bastian Sick, die eben das zu ihrem Kerngeschäft machen, gelten in der Linguistenzunft als populistische und ignorante Besserwisser, die nur die jahrhundertealten Tiraden über den Sprachverfall variieren.

Hab ich krassen Sprachtrend!

Im Detail trifft diese Kritik der Sprachkritik oft zu, aber der indignierte Ton der Linguisten klingt trotzdem hohl. Denn ihre Wertfreiheit entpuppt sich bei näherem Hinsehen als bloßer Schein. Viele Linguisten urteilen nämlich durchaus, nur mit vertauschten Maßstäben: Neue Sprachtrends werden grundsätzlich begrüßt, ihr schöpferisches Potential oder ihr ökonomischer Minimalismus wortreich gelobt. Diese hegelianische Apologetik - Wie gesprochen wird, ist gut, sonst würde nicht so gesprochen - setzt allerdings aus, sobald es um die Hochsprache geht. Ihrer bedienen sich zwar auch die Linguisten - oft in der geschraubtesten akademischen Form -, aber das hindert sie nicht, den Verteidigern der Hochsprache vorzuwerfen, sie konservierten nur überflüssig komplizierte Regeln, um die bildungsfernen Schichten zu diskriminieren. Waren es in den siebziger Jahren noch "die Arbeiter", denen man solche Barrieren aus dem Weg räumen wollte, so erstreckt sich die Fürsorge jetzt auch auf "die Immigranten". Es sei ihnen "nicht zuzumuten", die Flexionsformen des Deutschen zu lernen, findet Uwe Hinrichs, als handle es sich um schikanöse Auflagen der Einwanderungsbehörden, die schleunigst zu kassieren sind.

In dieselbe Kerbe haut der Spracherwerbsforscher Raphael Berthele aus Fribourg: Auch für ihn sind solche hochsprachlichen Regeln überflüssiger "Luxus" und Instrumente "symbolischer Gewalt", mit der eine "Bildungselite" die Ungebildeten und Zugewanderten unterjocht. Auf die Frage, was die Linguistik denn den Lehrern angesichts der neuen Unübersichtlichkeit raten könne, antwortet Berthele mit der Abgeklärtheit des Elfenbeinturmbewohners im Angesicht eines übermächtigen Hochsprachfeudalismus: "Überlegungen zur quasi totalen, aber vollkommen normalen Nutzlosigkeit sprachwissenschaftlicher Forschung für die Unterrichtspraxis" (in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 153, 2009).

Andere Sprachforscher allerdings glauben durchaus an den Nutzen ihres Tuns für die Klassenzimmer. In ihrer Mehrheit empfehlen sie den Lehrern, die verschiedenen Kommunikationswelten im Unterricht zu thematisieren und den Schülern deutlich zu machen, welche sprachlichen Formen in welchen Situationen angemessen sind. Das klingt vernünftig, aber bei Lichte besehen sollte das Schwergewicht wohl doch auf der Hochsprache liegen. Denn wie man in der Disko flirtet, im Internet chattet oder SMS-Botschaften tippt, müssen die Jugendlichen nicht von ihren Lehrern beigebracht bekommen - eher verhält es sich umgekehrt. Die Schule sollte das vermitteln, was sich nicht von selbst versteht - die Hochsprache gehört dazu.

Und vielleicht gäbe es in einer Deutschstunde auch einmal Gelegenheit, zu erklären, woher das Hochdeutsche in seiner heutigen Form eigentlich kommt. Viele seiner Grundlagen wurden im Zeitalter der Aufklärung gelegt, von Schriftstellern und Sprachgelehrten. Ihnen war durchaus klar, dass der Sinn standardisierender Normen nicht darin besteht, den Sprachwandel aufzuhalten, wohl aber darin, ihn zu verlangsamen und sinnvoll zu kanalisieren. Sie wollten mit ihren Grammatiken und Wörterbüchern die dialektale und orthographische Zersplitterung der frühen Neuzeit überwinden, die die überregionale Kommunikation erschwerte. Und sie wollten das Deutsche zu einem differenzierten und kultivierten Medium ausbauen, in dem auch über anspruchsvolle Themen der Wissenschaft, Kunst und Philosophie gedacht, gesprochen und geschrieben werden konnte. Zuvor war das denjenigen vorbehalten geblieben, die Latein und Französisch konnten. Nun sollten auch die "Unstudierten, der größte und edelste Theil eines Volkes", wie Johann Christoph Gottsched sie nannte, eingeschlossen werden.

Das Projekt der Hochsprache war also durchaus emanzipatorisch, allerdings auch "bürgerlich", denn es setzte eine Bildungsanstrengung voraus. Sie möglichst vielen - ob Immigranten oder Deutschstämmigen - zu ermöglichen und abzuverlangen könnte wohl auch heutzutage noch als fortschrittliche Bildungspolitik gelten. Fortschrittlicher jedenfalls, als sich wie Raphael Berthele und viele seiner Kollegen mit eigener Arroganz zu konstatieren, dass man doch in vielen Berufen "mit einem restringierten Code bestens durchs Leben".
Wolfgang Krischke
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 28.12.2007 um 23.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11064

Y.N. konstatiert (942#11062):

"Was schockierend für mich 2007 ist, ist nicht die RSR, sondern daß sich die Verlage selbst unterwerfen, wenn sie auch nicht gerade intellektuell sind."

Ob Verlage intellektuell sein können, wenn sie denn justament wollten, bleibe dahingestellt.

In ägyptischer Gefangenschaft indes soll einem Juden folgendes aufgefallen sein: "Daß wir Gefangene der Ägypter sind, ist schlimm, aber daß wir uns daran gewöhnt haben, ist eine Katastrophe."

An die deformierte deutsche Graphie gewöhnen sollten wir uns also nicht, denn sonst wären wir entweder genau dort, wo einst die Juden, oder letztendlich "mente captus".

Der Wahnwitz der Deform der deutschen Graphie und ihre aberwitzigen Folgen entziehen sich jedem ernsthaften Disput. Alldieweil Karnewal ist, sei sie fortan ohn Unterlaß unerschöpflicher Quell der gelegentlichen und auch durchgängigen Erheiterung der Freien wie der Gemeinen – bis zur endgültigen Wirkung, d.h. der Würgung des Unsinns.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 28.12.2007 um 08.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11063

Je eher man diese schmerzhafte Lektion lernt, desto besser. Man erspart sich damit viel Kummer. Was bleibt da noch, wird man fragen? Alles!
Obschon ernst, soll man miese Erfahrungen nicht absolut setzen. Gelassenheit stellt sich mit der Zeit ein, wenn der Kummer allzu groß scheint bei der Betrachtung des unendlichen Meeres aus Dummheit und Opportunität, auf dem sie alle dahinsegeln. Die Dinge sind endlich, und an ihrem Ende irgendwie auch vergeblich. Diese tragische, und doch zugleich erleichternde Erkenntnis half mir schon über meine Furcht hinweg, während ich, die damals Siebenjährige, im Wartezimmer meines Zahnarztes saß und der (damals schmerzhaften) Kariesbehandlung entgegenblickte: In 100 Jahren ist das alles egal!
Doch wir leben jetzt. Und Leben bedeutet, dieses auch freudig auszuschöpfen. Spielen wir also weiter, spielen wir! Spannend ist es, dieses Spiel, ohne Frage! Es gibt auch eine Medizin, die hilft über größte Krisen hinweg: das ist der Humor. Humor und innere Heiterkeit sind Waffen, die unbesiegbar sind. Vergessen wir das nicht!

Allen Foristen wünsche ich einen guten (und fröhlichen) Rutsch ins neue Jahr! Und weiterhin viel Kraft und Humor bei der wortgewaltigen Begleitung der Kulturschande namens "Rechtschreibreform"!

Karin Pfeiffer-Stolz
 
 

Kommentar von Y.N., verfaßt am 27.12.2007 um 20.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11062

Was schockierend für Hannah Arendt 1933 war, war nicht die Machtergreifung, sondern daß sich ihre "intellektuellen" Freunde gleichschalteten.
Was schockierend für mich 2007 ist, ist nicht die RSR, sondern daß sich die Verlage selbst unterwerfen, wenn sie auch nicht gerade intellektuell sind.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 24.12.2007 um 16.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11059

Die "Große Büchervernichtung ab 1998" muß in die Geschichtsbücher aufgenommen werden, zusammen mit den Namen der betroffenen Autoren. Weiß jemand, ob es Vergleichbares bei der ersten Rechtschreibreform 1901 gegeben hat?
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 24.12.2007 um 15.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11058

In einem mir näher bekannten Fall galt und gilt intern die Parole "Wir machen das, was alle machen". Wenn alle (oder auch nur die meisten) diese Einstellung teilen, ist klar, was passiert: Es genügt, daß einer den Mechanismus durchschaut oder einfach nur selbstbewußt genug ist, um eine Richtung vorzugeben. Im Fall der Zeitungsverlage waren es die Nachrichtenagenturen, die den Geleitzug in Bewegung brachten, wahrscheinlich nicht einmal aus besonderer Neigung zur Reform, sondern weil diese eine Machtchance gegenüber ihren Kunden bot. Bei andauernder Maßgeblichkeit dessen, was alle machen, ist eine Umkehr dann nicht mehr möglich.

Diejenigen Verlage, die 2004 dennoch eine Umkehr versuchten, hatten über das Momentum der Masse hinaus auch die veränderte politische Situation gegen sich. 1998/99 hätte bloßes Nichtstun genügt, um den Übergriff der staatlichen "Regelungsgewalt" auf die Presse abzuwehren. Mit ihrer nahezu einhelligen Kapitulation damals räumten die Zeitungen jedoch ein Terrain, das danach von der Politik besetzt wurde.

Insofern ist es sogar verständlich, läßt man die verquaste und verlogene Terminologie einmal beiseite, daß Bodo Hombach und andere 2004 Springers Ausscheren ihrerseits als unbefugte Einmischung der Presse in politische Angelegenheiten interpretierten – der bis heute unveränderten Rechtslage zum Trotz. Freiheit, von der man keinen Gebrauch macht, droht eben verlorenzugehen. Ich weiß nicht mehr, ob es Döpfner oder Aust oder beide waren, die im August 2004 erklärten, sie handelten zwar spät, aber nicht zu spät. Das war ihr Irrtum.
 
 

Kommentar von Marconi Emz, verfaßt am 24.12.2007 um 15.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11057

Gerade in Zusammenhang mit der Rechtschreibung ist das häufig vorgebrachte Argument der "sozialen Benachteiligung" nicht nachzuvollziehen. Rechtschreibung erlernt man nicht nur in der Schule, sondern auch, wenn nicht vor allem durch das Lesen von Büchern (dies galt vor allem bis zur großen Büchervernichtung ab 1998), und ausnahmslos alle Jugendlichen egal welcher "Schicht", "Klasse", Herkunft usw. hatten und haben die Gelegenheit, zum Beispiel über Leih- und Schulbibliotheken fast oder ganz kostenlos und in beliebiger Menge an gute Lektüre zu kommen. Auf keinem anderen Weg war und ist es für alle leichter und billiger möglich, sich eine umfassende Bildung weit über die reine Rechtschreibung hinaus anzueignen.

Ein ähnliches Argument zur "gesellschaftlichen Diskriminierung" wurde in einer Radiosendung allen Ernstes mal im Zusammenhang mit Kultur- und Wissenschaftssendungen im Fernsehen vorgebracht. Soziologische Untersuchungen hätten ergeben, daß diese der gebildeten Oberklasse vorbehalten seien ("vorbehalten" ist hier ein wörtliches Zitat). Es liegt also nicht an der Dummheit, Talentlosigkeit, Faulheit und am Desinteresse von Zuschauern, wenn solche Sendungen von ihnen ignoriert werden, sondern an den raffinierten Machenschaften der Bourgeoisie, die so ihre kulturellen Privilegien schützt. Auf welche Art dieses Ausschließen des Proletariats von der (medienbedingt allerdings eher oberflächlichen und anspruchslosen) TV-Bildungshochkultur praktisch, das heißt technisch verwirklicht wird, darüber sagten die Soziologen jedoch bezeichnenderweise nichts.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.12.2007 um 04.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11056

Die Verlage werden ja nicht wirklich gezwungen, sondern unterwerfen sich selber und haben dafür die ganze Verantwortung zu tragen.
Was Herr Strasser über die unterschiedliche Argumentationsweise der Kritiker und Befürworter sagt, ist goldrichtig und seltsamerweise so klar noch nie ausgesprochen worden.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 23.12.2007 um 21.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11055

Stefan Strasser: "Oder kenne ich nur die falschen Leute?"

Bei uns in Hallein gibt es eine rührige Parteischrift der SPÖ "News aus Au/Rehhof" - man beachte die "News", denn es kommt wirklich dicke, und zwar sowohl stilistisch als auch orthographisch:

"Die 8,1 Km lange Strecke führt vom Auwirt entlang Richtung Rif auf der Salburgerstraße entlang in den Wiesenbrunnweg rein nach Taxach.
Entlang der Schloßallee zur Rifer Hauptstraße und weiter zum Brückenwirt wo es zur Königseeache [richtig: Königssee...] geht. Der Ache entlang geht es auf der linken Seite Richtung St. Leonhard an der Ache bleibend vorbei an Schloss Gartenau zum Hangendenstein."

Man schreibt korrekt "BewohnerInnen", und MitarbeiterInnen, aber in der Zeile tiefer "Seniorenheim". Müßte doch "SeniorInnenheim" lauten, oder?

Besonders heiß aber ist das "Krampusssackerl". Wie, Sie wissen nicht, was das ist?
Also: der Krampus ist der Teufel, der am 6. Dezember seinen großen Auftritt hat. Wie der "Autobuss" wird er neuerdings häufig zum "Krampuss". Ist ja kurzer Vokal, dem Teufel ist's wurscht. Und ein "Sackerl" ist eine Tüte mit Süßigkeiten für brave Kinder. Ein "Krampusssackerl" eben.

Weiter im Text gibt es wieder die unvermeidliche "Bürgermeisterstrasse".

Übrigens glänzte selbige Redaktion noch vor drei Jahren mit fortschrittlicher Schweizer Schreibung, also ohne Eszett. Von mir darauf angesprochen, wunderte sich der Schriftführer über die "Schweizer" Schreibung. Man war der Überzeugung, das Eszett sei abgeschafft und zeigte mir so halb den Vogel.
Seither bemühen sie sich, wie man sieht, gelegentlich das ein oder andere Eszett einzustreuen, was, wie man sieht auch gelingt. Für die Kommata gilt ähnliches.

Für Eltern schulpflichtiger Kinder sollte diese an jeden Haushalt verteilte Schrift einen Warnaufkleber tragen: "Lektüre kann den Schulerfolg Ihrer Kinder beeinträchtigen oder gefährden."
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 23.12.2007 um 19.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11053

Während Reformkritiker ihre Kritik durchwegs an konkreten Argumenten aufhängen, ist es für Reformbefürworter typisch, mit Softfacts daherzukommen.
Sprachwandel, der ja immer schon stattfand, Erleichterungen, die man den jungen Leuten doch nicht vorenthalten darf, Stärkung des Stammprinzips, damit die Sache logischer wird, Abschaffung von nicht nachvollziehbaren Sonderregeln, usw.
Gemeinplätze, die sich einer konkreten Diskussion leicht entziehen.
Mich würde einmal wirklich interessieren, ob es überhaupt Leute gibt, die die jetzigen Schreibregeln so verinnerlicht haben, wie vor 1998 der Großteil der Schreiber die bewährten. Ich jedenfalls kenne keinen einzigen, der Neuschrieb beherrscht, im Gegenteil, trotz div. Hilfsprogramme beginnen die Schwierigkeiten bei der s-Schreibung und setzen sich bei der GZS und GKS geballt fort. Oder kenne ich nur die falschen Leute?
Das einzige, das man dem (wirklichen oder vermeintlichen) Neuschrieb konzedieren muß, ist, daß er eine (ungewollt) komische Komponente in viele Texte bringt und damit humorvolle Zeitgenossen wie mich schon mal zum Schmunzeln bringen kann.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 23.12.2007 um 18.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=942#11052

Der Skandal besteht darin, nicht etwa denen, die es nicht besser können, zu erlauben, reformiert zu schreiben, wenn ihnen das leichter fällt, und den anderen weiter ihre bisherige Schreibweise zu erlauben, sondern vielmehr alle zu zwingen, primitiver zu schreiben, auch die Zeitungen und Buchverlage. Die Ausrede, privat könne jeder schreiben, wie er wolle, ist völlig wirklichkeitsfremd, weil alle privaten Schreiben bei der Veröffentlichung umgestellt werden, sogar vom Schreiber bezahlte Todes- und sonstige Anzeigen.
 
 

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