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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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11.12.2007
 

Verdruss
Aus der „Metalexikographie“

Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Perspektiven der pädagogischen Lexikographie des Deutschen II. Untersuchungen anhand des "de Gruyter Wörterbuchs Deutsch als Fremdsprache". Tübingen 2002.

Dem Langenscheidt-"Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache" waren bereits zwei umfangreiche Bände mit Rezensionen zu einzelnen Aspekten gewidmet worden, nun wird das Konkurrenzprodukt auf fast 700 großformatigen Seiten untersucht.

Die Beiträge sind teils in herkömmlicher, teils in reformierter Rechtschreibung (von 1996) gedruckt, mit vielen Fehlern im einzelnen. Es heißt also tatsächlich: Besser und Platz sparender wäre es ... (83)

Gerhard Augst lamentiert wortreich über die Folgen der von ihm angezettelten Rechtschreibreform für die lexikographische Praxis (S. 138):

„Nun gibt es noch eine Besonderheit zu berücksichtigen, die mit dem Erscheinungsjahr des DGWDAF zusammenhängt: 2000, das ist zwei Jahre nach Inkraftsetzung einer neuen Orthografie mit einem Übergangszeitraum alt und neu bis 2005, zumindest für Schulen und Behörden. Da ich 1998 ein ebenso umfangreiches Wörterbuch veröffentlicht habe, weiß ich, welchen lexikographischen Verdruss es macht, wenn in die Endphase der Wörterbuchredaktion eine solche einschneidende orthografische Veränderung eintritt. Es macht schon Arbeit genug, den ganzen Text in die neue Orthografie umzuschreiben (...), viel mehr machen aber die Eingriffe in die lexikographische Struktur zu schaffen. Da 'verrutschen' Lemmata in der alphabetischen Strecke, wie behende zu behände oder die Notationsweise ändert sich, z.B. Kuß, der; Kusses, Küsse zu Kuss, der; -es, Küsse. Zusammensetzungen mit zuvor getilgtem Buchstaben müssen nicht mehr als Lemma ausgeschrieben werden, z. B. Schiff, Schiffahrt, Schiff/-bau zu Schiff, Schiff /-bau, -bruch, -fahrt. Im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung fallen Lemmata weg, wie z.B. sitzenbleiben, das als feste Wortgruppe jetzt unter sitzen in der Bedeutung nicht versetzt werden eingearbeitet werden muss. Hingegen entsteht ein neues Lemma großschreiben in der Bedeutung mit Majuskeln schreiben, das als bisherige Wortgruppe groß schreiben aus dem Artikel groß herausgenommen werden muss. Neben der neuen Orthografie muss aber auch zumindest bei den Lemmata die alte angegeben werden, zum einen, weil sie noch bis 2005 gültig ist, zum anderen, weil möglicherweise die Nachschlagenden in Unkenntnis des Neuen unter der alten Schreibung nachschlagen.“

(Die Nennung von „Schulen und Behörden“ ist irreführend, da die Rechtschreibreform zunächst nur die Schulen betrifft.)

Augst benutzt stets die Nebenvariante orthografisch, schreibt aber ebenso konsequent lexikographisch, oft im selben Satz. Die Schreibweise Pleite machen hält er für reformbedingt.

Die Revisionen der Rechtschreibreform haben Augst überholt. Er beobachtet noch: "bankrott gehen wird wohl aus Versehen mit kleinem b geschrieben." Nach den allerneuesten Eingebungen der Kultusminister müßte es heißen: "aus Versehen getrennt geschrieben"! Augst schreibt raumsparend, es hätte damals noch Raum sparend sein müssen.



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Kommentare zu »Verdruss«
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Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 13.12.2007 um 22.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=936#11003

Das, was Herr Scheuermann da heute morgen schrieb, erinnert mich fatal an das Schicksal Hiobs, der ja bekanntlich auch hadert, weil er sich in seinem schweren Schicksal von Gott verlassen wähnt.

Da kam ich nun auf die böse Idee, Augst folgende Strophe von Günther unterzuschieben:

Ist einer in der Welt, er sey mir noch so feind,
An dem ich in der Noth kein Liebeszeichen thäte,
Und bin ich jedem nicht ein solcher wahrer Freund,
Als ich mir selbst von Gott, erhört er andre, bethe,
Hat jemand auf mein Wort sein Unglück mehr gefühlt,
Hat boßheitsvoller Scherz mit fremder Noth gespielt
Und hab ich unrecht Gut mit Vorsaz angezogen,
So greife mich sogleich der bösen Geister Bund
Mit allen Martern an, wovon der Christen Mund
Schon über tausend Jahr den Leuten vorgelogen.

Zitiert nach: Johann Christian Günthers Sämtliche Werke. HkA. Hrsg. von Wilhelm Krämer. Bd. 2. Leipzig: Hiersemann 1931, S. 124 (Repr. Nachdruck: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964).

Auf ähnliche Weise scheint Augst sich ja wohl auch von (Gott und) der Dankbarkeit der lesenden und schreibenden Bevölkerung verlassen zu fühlen. Dabei vergißt er in seiner Klage nur, was Margarete Susman dazu bereits 1946 schrieb:

Aber indem er [d. i. Hiob] sich so in eine letzte Einsamkeit mit Gott begibt, in die kein Menschentrost, kein Menschenwort mehr eindringt, gerade da fühlt er mit jäher, voller, entsetzlicher Gewißheit, daß er in dieser letzten Einsamkeit mit Gott nicht allein ist. Eine fremde, unheimliche, ihm und Gott selbst feindliche Macht hat sich zwischen ihn und Gott eingeschlichen: in seinem Schicksal ist noch eine andere Hand als die Gottes im Spiel, noch ein anderer Wille am Werk. Und Hiob beginnt dunkel zu ahnen – und in dieser Ahnung sinkt ein schweres schwarzes Tuch über alles Geschaffene herab – daß Gott sich daraus zurückgezogen, daß er [d. i. Hiob] selbst diese fremde, unheimliche Macht zugelassen hat.

Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Zürich: Steinberg 1946.
Zitiert nach der Taschenbuchausgabe, die 1968 im Verlag Herder in Freiburg im Breisgau, Basel und Wien erschien. Vgl. ebd. S. 65.

Unser Hiob Augst ist freilich noch im Zustand der Klage. Er beginnt noch nicht "dunkel zu ahnen", daß "er selbst diese fremde, unheimliche Macht zugelassen hat", die wie "ein schweres schwarzes Tuch über alles [sprachlich] Geschaffene herab[sinkt.]"

Ob Augst schließlich auch wie Hiob sein Schicksal erkennen und annehmen, oder im Zustand der Klage verharren wird?
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 13.12.2007 um 08.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=936#11000

Ein wahrhaft schwer lastendes Joch, unter das die Reformer – das hat bislang unzureichend Anerkennung gefunden – sich auch selbst gezwungen haben! Ich laboriere um des Glücks der Kinder willen!
Die Größe des eigenen Leidens erhöht noch mein Werk!
(Und dann: Kommt die ZER dabei heraus! Soll man dafür noch Mehrtürer werden?)
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 11.12.2007 um 11.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=936#10975

Was für eine Offenbarung: Um den Bedeutungswandel z.B. bei groß schreibengroßschreiben nicht zu verpassen, muß man also beim Lesen die Schreibregeln kennen. Übertrieben formuliert: Der geschriebene Text erschließt sich nicht mehr selbst, er muß dekodiert werden. (Vorsicht, Satire: Fast könnte man sich dazu eine Art Bedeutungswörterbuch "Reform – Deutsch / Deutsch – Reform" wünschen, analog Eckart von Hirschhausens "Arzt – Deutsch / Deutsch – Arzt".) Das gelingt aber nur, wenn man über das nötige Wissen verfügt, was aber meist nicht vorhanden ist. Damit führen sich die Reformer selbst ad absurdum, waren sie doch ausgezogen, das "Herrschaftswissen" Orthographie zu schleifen.
 
 

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