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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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06.03.2007
 

Zubrot
Aus dem Ramschkasten

Der Verlag Lingen, der fürs „Moderne Antiquariat“ produziert, brachte kürzlich ein Wörterbuch der reformierten Rechtschreibung heraus. Als Verfasser ist der Kölner Mediävist Karl-Heinz Göttert angegeben („Tugendbegriff und epische Struktur in höfischen Dichtungen“ und ähnliche Veröffentlichungen, auch Mitarbeit an einem Orgelführer). Ich erblasse wieder mal vor der Vielseitigkeit mancher Germanisten.

In dem Buch werden übrigens sehr kaltblütig die Augst-Schaederschen Legenden über „verblasste Substantive“ (leidtun) usw. nacherzählt. Wenn ich daran denke, wieviel Mühe mir mein eigenes Rechtschreibwörterbuch gemacht hat, staune ich über die Fixigkeit, mit der dieser Ramsch auf den Markt geworfen wird, und auch über eine vielleicht altersbedingte Gleichgültigkeit gegenüber einem allenfalls zu verspielenden Ruf …



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Kommentare zu »Zubrot«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.11.2019 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#42447

Von Göttert gibt es auch wieder mehrere neue Bücher, eines davon über Sprachreiniger. Vielleicht hat er sich mal näher mit dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein beschäftigt, so daß nicht wieder solche Schnitzer unterlaufen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.08.2015 um 11.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#29694

„Und selbst die von Saussure formulierte Bilateralität sowie die im 19. Jahrhundert weitgehend ignorierte Arbitrarität des Sprachzeichens ist bei Paul vorgedacht (...)“ (Jörg Kilian in: „Germanistik als Kulturwissenschaft“ - Hermann Paul: 150. Geburtstag und 100 Jahre Deutsches Wörterbuch. Braunschweig 1997:45)

Das waren im 19. Jahrhundert Selbstverständlichkeiten, an denen niemand zweifelte; nur deshalb wurden sie nicht so oft erwähnt. Hermann Paul brauchte da nichts vorzudenken, er hat genug andere Verdienste.

(zu: www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16187)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.05.2014 um 17.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#25798

Karl-Heinz Göttert: Daumendrücken. Der ganz normale Aberglaube im Alltag. Stuttgart 2003 (Reclam).
Göttert führt in jeweils zwei Seiten langen Kapitelchen hundert ausgewählte Beispiele von Aberglauben, aber auch berühmte Magier und anderes vor, darunter vieles von nur historischem Interesse und keineswegs „Alltags“-Erscheinungen. Erklärungen – also warum z. B. dem Hufeisen magische Wirkung zugeschrieben wird – findet man nicht. Der muntere Dauerton bei größtmöglicher Oberflächlichkeit ermüdet bald, weil man nichts Neues erfährt.
„Heiratswillige Mädchen trugen am Christabend drei Krapfen ums Haus. Als eine besonders Willige dies auch noch nackt tat, stand anschließend natürlich der passende Mann neben der Tür.“ (60)
Wann dies geschah und was es mit der Bedeutung von Figurengebäck (dem Thema dieses Abschnitts) zu tun hat, bleibt ungesagt; nicht einmal der Name der Brezel wird erklärt.
Menstruierende Frauen habe man in der Antike als eine Art Insektenvertilgungsmittel betrachtet. „Mit aufgeschürzten Röcken durch die Felder laufend, sollen sämtliche Raupen vom Stängel gefallen sein.“ - Was für ein Satz!
Zar Peter der Große soll über einen Aprilscherz seines Theaterdirektors Johann Kunst „sauer gewesen sein“. (208) Was für ein Scherz war es denn? Das wäre doch interessanter als der Name des Theaterdirektors, aber man erfährt es nicht.

Das Buch ist unter anderem Titel gerade noch einmal neu erschienen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2014 um 07.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#25630

Natürlich ist es angesichts der Kürze des Lebens unvernünftig, seine Zeit mit Götterts Fließbandproduktion zu vergeuden, aber ich konnte wieder mal der Versuchung nicht widerstehen. Bei amazon habe ich folgende Besprechung eingestellt (dabei aber viele weitere Randbemerkungen weggelassen):

Karl-Heinz Göttert: Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung. Frankfurt 2013 (Fischer)

Das ebenso umfangreiche wie wenig strukturierte Buch handelt im ersten Teil hauptsächlich von der Anglizismen-Debatte, im zweiten von der deutschen und europäischen Sprachenpolitik.
Göttert exzerpiert über viele Seiten die Arbeiten anderer Autoren, teils mit ermüdenden Zahlenangaben, die dann aber nicht ausgewertet werden. Das Buch wirkt wegen dieser unverdauten Stoffmassen weitschweifig und halbfertig. Ein großer Teil ist Polemik gegen die Polemik gegen Fremdwörter. Dabei werden heftige Ausbrüche ohne Stellenangabe zitiert, so daß der Leser nicht weiß, wie repräsentativ sie sind. So wird auch beispielsweise die Tätigkeit des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins auf extreme nationalistische Äußerungen reduziert; auch sonst findet man wenig Sinn für historische Gerechtigkeit. Die Sprachgesellschaften des Barock werden ganz oberflächlich abgehandelt oder vielmehr abgefertigt. Selbst das Wissenswerte verliert an Wert, wenn die Quelle verschwiegen wird.
Vieles, was längst den Weg in die Tageszeitungen gefunden hat, wird bei Göttert nochmals ausgebreitet. Immer wieder erzählt er, wie er selbst erst in jüngster Zeit damit angefangen habe, sich in eines der Sachgebiete einzuarbeiten, und an welcher Tagung er wenig vorbereitet teilgenommen habe. „Ich las in aller Eile wenigstens ein Buch zum Thema“ usw. (191) Das hindert ihn nicht daran, das Gelesene über viele Seiten hin zu referieren. Die Folgerungen daraus bleiben unerwähnt, sind wahrscheinlich nie gezogen worden. Ganze Kapitel dienen der Schilderung von Götterts Teilnahme an solchen mehr oder weniger belanglosen Konferenzen. Dort geht es zu wie überall:
„Als Diskussionsform waren Impulsreferate vorgesehen, ansonsten sollten Podiumsdiskussionen stattfinden. Von mir wurde Teilnahme und Beteiligung an einer solchen Diskussion erwartet. Noch vor Eröffnung der Tagung erhielt ich das Programm. Man hatte Arbeitsgruppen gebildet und mich in ein Forum mit dem Themenschwerpunkt 'Sprache und Identität' gesteckt. Der Leiter der Arbeitsgruppe schickte uns zuvor einige Fragen, die wir uns schon einmal überlegen sollten.“ (233) So plätschert der Text dahin. Anekdotisches füllt die Seiten: was der Sohn eines Freundes zu sagen hatte usw.

Als Beispiel des Leerlaufs kann man die Seiten 184f. betrachten. Wen interessiert es, daß die Teilnehmerzahl bei saarländischen Sprachförderkursen zwischen 1 und 14 lag? Was bedeutet das völlig beliebig ausgekippte Zahlenmaterial? Es ist nicht anzunehmen, daß jemand diese und viele ähnliche Seiten wirklich liest.

Göttert ist kein Sprachwissenschaftler, was man leider schon seinem Buch „Deutsch. Biografie einer Sprache“ an vielen Stellen anmerkte, einem Buch, mit dem das vorliegende sich vielfach überschneidet.

Das Wort Spanferkel leitet er von altem spanen „locken“ ab. (68)

Die Indogermanen sollen aus dem „Zweistromland (dem heutigen Irak)“ stammen (21) – aber wer vertritt eine solche These?

„Nicht nur, dass totgesagte Sprachen wiederbelebt wurden wie etwa das zuletzt nur noch rituelle Sanskrit in Indien (das nun sogar in Filmen verwendet wird) (...)“ (18)

Er vergleicht das dann mit Hebräisch. Aber Sanskrit in seiner normierten Form war vermutlich nie Muttersprache und war vor allem niemals ausgestorben oder totgesagt, sondern über die Jahrtausende hin immer eine äußerst lebendige Gelehrten- und Literatursprache.

Göttert beklagt, daß die Wiener Universität sich „University of Vienna“ nennt (übrigens nur wahlweise, die Website ist umstellbar wie bei den meisten anderen Universitäten auch), aber bei chinesischen oder koreanischen Universitäten ist er wohl doch ganz froh, daß sie auch englische Titel haben.

Über Eduard Engel und den Allgemeinen Deutschen Sprachverein:

„Als sich auch noch herausstellte, dass Jacob Engel, ein Ehrenmitglied des Vereins aufgrund besonders perfider Ausfälle gegen die Fremdwörter (zum Beispiel als 'krebsige Wunde am Leibe des deutschen Volkes'), Jude war, verlor der Verein die letzte Reputation.“ (59)

Nicht nur der inhaltliche Unsinn, auch die Namensverwechslung (hat er an Johann Jacob Engel oder an den Kampf Jakobs mit dem Engel gedacht?) beweist, daß Göttert überhaupt nicht weiß, wovon er redet.

Namen werden oft falsch geschrieben: Russel (Russell), Ogdens (Ogden), Dungers (Dunger), Chrystal (Crystal), Leonhard (Leonhardt), Stukenbrok (Stukenbrock), Riverol (so schon in seinem Buch „Deutsch“ statt Rivarol), Wilfrid Stroh (Wilfried), Margret (Margaret). Aus Wolf Schneider wird im weiteren Textverlauf Wolf statt Schneider.

„Seit den 1970er Jahren entwickelte sich eine völlig neue Form der Sprachwissenschaft, die statt nach der geschichtlichen Entwicklung nach ihrer internen Struktur fragte.“ (67)

Was mit dieser überraschenden Behauptung gemeint sein könnte (denn die interne Struktur des Deutschen ist ja auch in den großen Grammatiken von Paul, Blatz usw. dargestellt), erfährt man später, wo er vom „großen Erneuerer der Linguistik, Noam Chomsky“ spricht.

Was haben die neugegründeten Wissenschaftsorganisationen mit der Sprachpflege zu tun? (Zu S. 68)

„Im Übrigen hat man (...) 2003 den gemeinsamen Deutschen Sprachrat gegründet, der Tagungen zu anstehenden Problemen abhält. Die Sprachpflege ist also mit unterschiedlichen Ansätzen, insgesamt aber durchaus breit aufgestellt.“ (70)

Dazu gibt er noch folgende, geradezu phantastische Finanzierung an:
„Für die deutsche Sprache wird in Deutschland einiges getan. Der Staat finanziert eine kleine Armee von Spezialisten in Institutionen mit unterschiedlichen Aufgaben und gibt dafür eine Menge Geld aus – ca. 3,4 Milliarden Euro im Jahr für Goethe-Institut und Co.“ (65)

(Dagegen Wikipedia: „Das Jahresbudget des Goethe-Instituts belief sich 2013 auf rund 366 Millionen Euro. Es enthielt Zuwendungen vom Auswärtigen Amt in Höhe von rund 221 Millionen Euro. Die Einnahmen durch Sprachkurs- und Prüfungsgebühren an den Goethe-Instituten im Ausland, Einnahmen aus Spenden und Sponsoring sowie Zuwendungen Dritter betragen rund 86 Millionen Euro. Hinzu kamen die sich selbst tragenden Institute in Deutschland mit einem Umsatz von rund 59 Millionen Euro.“)

Göttert schreibt immer wieder nachlässig formulierte, auch grammatisch verunglückte Sätze:

„Auch wenn die Gleichung 'ein Land, eine Sprache' weder in Deutschland noch in vergleichbaren Ländern nie stimmte (...)“ (24)

„Berufsbezeichnungen wie Art-Director oder Streetworker, die es eigentlich ebenfalls nur in angelsächsischen Ländern gibt, in Deutschland aber adoptiert wurden.“ (92)

„die Gangway, die es im Englischen zwar gibt, aber nur bei Schiffen verwendet wird“ (95)

„Der wichtigste Test auf diese Fragen stellt die Wissenschaft dar.“ (189)

Göttert kommentiert das von Wapnewski angeblich zitierte Heidegger-Wort von der Sprache als „Hort des Seins“ (115). Soviel ich weiß, sagt Heidegger „Haus des Seins“.

Sowohl der Kampf gegen die Fremdwörter als auch deren Verteidigung spielen sich weitgehend im Bereich der Sprachstatistik ab oder gar auf politischem Feld. Ob der Anteil von Fremdwörtern am Wortschatz, einer abstrakten Größe, nun besorgniserregend sei oder nicht, ist eine ziemlich abgehobene Frage. Göttert untersucht – im Gegensatz zum geschmähten Eduard Engel – gar nicht, was Fremdwörter in Texten anrichten und wie man die Texte verbessern könnte.

Gegen Ende des Buches kommt er auf Leo Weisgerber zu sprechen, „das lange unbestrittene Haupt der Sprachphilosophie hierzulande“ (331) – eine ziemlich übertriebene Einschätzung.

Wer erwartet, daß der Wust von Daten und das Getümmel der Meinungen, aus berufenen und unberufenen Quellen zusammengetragen, am Ende auf einen sprachenpolitischen Lösungsvorschlag hinausläuft, wird enttäuscht. Die „Lösung“ ist Mehrsprachigkeit, und dazu sei, so versichert der Autor, das menschliche Gehirn auch geeignet. Das hat bestimmt niemand bezweifelt. Und: „Dieses Buch empfiehlt Gelassenheit. Aber es empfiehlt auch ein Rezept: ein klares Sowohl-als-auch.“ (349) Damit rennt er offene Türen ein. Die Menschen entscheiden eben selbst, was gut für sie ist. Im Grunde rechtfertigt Göttert das, was ohnehin geschieht, und das ist vielleicht am vernünftigsten. Aber es hätte sich in einem Aufsatz erledigen lassen. Auch die Pointe, die der Titel des Buches verspricht, wird vom Inhalt nicht gedeckt.

Nicht einmal schulsprachenpolitische Vorschläge macht er, wenn man als einen solchen nicht den beiläufigen Satz verstehen soll: „Nicht die Lingua franca ist ein überzeugendes Bekenntnis zu Europa, sondern die dritte Fremdsprache.“ (346) Aber das steht ohne Zusammenhang und Begründung da, und um „Bekenntnisse“ sollte es wohl auch nicht gehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.04.2014 um 14.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#25625

Göttert wirft seine Bücher schneller auf den Markt, als man sie lesen kann. Aus dem neuesten (?):

„Als sich auch noch herausstellte, dass Jacob Engel, ein Ehrenmitglied des Vereins aufgrund besonders perfider Ausfälle gegen die Fremdwörter (zum Beispiel als 'krebsige Wunde am Leibe des deutschen Volkes'), Jude war, verlor der Verein die letzte Reputation.“ (Abschied von Mutter Sprache. Frankfurt 2013:59)

-

Nicht nur der inhaltliche Unsinn, auch die Namensverwechslung (hat er an Johann Jacob Engel oder an den Kampf Jakobs mit dem Engel gedacht?) beweist, daß Göttert überhaupt nicht weiß, wovon er redet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.12.2012 um 17.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#22142

In der "Welt" hat Göttert auch das neue Buch von Utz Maas "Was ist deutsch?" besprochen. Auszug:
... dass zum Hochdeutschen auch die Migranten Kreatives beitragen, wenn sie sich mit ihrem Code switchen (!) zwischen den verschiedenen sprachlichen Welten bewegen. Aber der entscheidende Punkt wird wohl doch erst in den abschließenden Ausführungen zum "Nutzen der Sprachgeschichte" deutlich. Es überzeugt, das (!) Maas bei der Schriftlichkeit ansetzt. (25.9.12)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.08.2012 um 04.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#21316

Bei amazon steht sie noch, und ich kann sie ja auch noch mal hierhersetzen:

Der emeritierte Mediävist und Rhetorikforscher Karl-Heinz Göttert hat in letzter Zeit eine Reihe Bücher vorgelegt, die über sein Spezialgebiet hinausgehen. An den Schwerpunkten, die seine Geschichte der deutschen Sprache setzt, merkt der Leser aber durchaus, wo sich der Verfasser besonders gut auskennt. Über weite Strecken handelt er weniger von der Sprache als von Geschichte und Literatur, besonders des Mittelalters. Immerhin wird die Rolle des Lateinischen an vielen Beispielen gezeigt, ebenso die sprachschöpferische Tätigkeit der Mystiker, Luthers und der Sprachgesellschaften und „Puristen“. Hier findet der interessierte Laie viel Wissenswertes. Der modische Untertitel „Biografie“ legt übrigens eine organismische Auffassung der Sprache nahe, die der Autor in Wirklichkeit – glücklicherweise – nicht vertritt.
Leider sind die im engeren Sinne sprachgeschichtlichen Tatsachen, die Göttert mitteilt, teilweise so nachlässig formuliert, daß man Gymnasiasten und Studenten, die sich noch nicht sicher fühlen, das Buch kaum in die Hand geben möchte: „Nehmen wir das Wort ‚Fuß‘. Im Lateinischen heißt dies ‚pes‘. Die germanischen Sprachen machen bei der Übernahme aus dem ‚p‘ ein ‚f‘.“ Muß der unbefangene Leser dies nicht so verstehen, als hätten die Germanen das Wort aus dem Lateinischen übernommen? Ähnlich das folgende: „... weshalb im Deutschen aus ‚tres‘ ‚drei‘ wurde.“ Wenn Luther schreibt „auff das er sich schetzen lies mit Maria“, sieht Göttert „das Verb in Zweitstellung“. Das trifft offensichtlich nicht zu.
Die berühmten Straßburger Eide werden bei Göttert in den falschen Sprachen gesprochen. Mauthners „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ konnten Nietzsche nicht „stark beeinflussen“, da dieser bereits verstorben war, als sie erschienen. Feridun Zaimoglu hat nicht den Ingeborg-Bachmann-Preis bekommen. Welche Rolle der Duden spielt, was die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und die Gesellschaft für deutsche Sprache sind (von letzterer behauptet er, sie sei „inzwischen mit dem ehemaligen Ostberliner Zentralinstitut für Sprachwissenschaft vereint“), das ist sachlich so verkehrt dargestellt wie die gesamte Geschichte der Rechtschreibreform. Dabei hat Göttert selbst ein reformiertes Rechtschreibwörterbuch (u. a. beim Discounter ALDI) und ein begleitendes Reclam-Bändchen („Es gibt keinen Kuß mehr“) veröffentlicht, die freilich schon eine ähnliche Unkenntnis verrieten. Warum spricht Göttert von „immerhin 37 Auflagen“ des Österreichischen Wörterbuchs, wo doch inzwischen bereits die 41. Auflage erschienen ist?
Immer wieder unterlaufen verunglückte Ausdrucksweisen: „In Polen gehört Deutsch weiter zur am meisten nachgefragten Fremdsprache.“ - „Von Anfang an wollten die Grimms den Rückgang auf die alten Sprachstufen mit einer Orthografiereform verbinden, die letztlich der des Hochmittelalters entsprach.“ - „Adelung, in Sachen Fleiß mehr als ausgewiesen ...“ - „Nobelpreisträger wie Heinrich Böll, Günter Grass und Herta Müller sind für ihre Themen ausgezeichnet worden, nicht für ihre sprachlichen Innovationen.“ (Für ihre Themen? Gemeint ist wohl der Inhalt ihrer Werke.) - „Eduard Engel war Jude, was die NS-Führung als Beleidigung empfand.“
Gewaltsame Überleitungen führen zu schrägen Urteilen: „Woher diese Wut? Ob Schopenhauer, Nietzsche oder Kraus: Es geht offenbar um die Verteidigung einer Bildungssprache als Garant von Kultur.“ Mit dieser gewöhnungsbedürftigen These stellt Göttert eine Verbindung zu den „Sprachdummheiten“ Gustav Wustmanns her, den man in so illustrer Gesellschaft bisher nicht vermutet hätte.
Die Eindeutschungsbemühungen des 19. Jahrhunderts kündigt Göttert schicksalsschwer an: „Das Unheil wurde sofort deutlich, als Deutschland sich nach der Reichsgründung von 1871 im Aufstieg sonnte.“ Es folgen aber nur die harmlosen und nützlichen Verdeutschungen der militärischen Terminologie („Fahnenjunker“) und der Behörden- und Postsprache („Abschrift“, „Briefumschlag“). Was soll daran unheilvoll gewesen sein? Aber Göttert läßt nicht locker. Der Purismus des 19. und 20. Jahrhunderts soll einen „Entwicklungsstau“ verursacht und die deutsche Sprache „von der internationalen Entwicklung ferngehalten“ haben. Heute hole das Deutsche nach, was „andernorts bereits Normalität ist“. Was der Verfasser hier meint, bleibt so unklar wie die Forderung einer „Öffnung“ des Deutschen. Ist das heutige Deutsch etwa eine provinziell abgekapselte und daher zurückgebliebene Sprache, die endlich durch mehr (englische) Fremdwörter weltläufig gemacht werden sollte?
Das Buch läuft auf eine eigenwillige Beurteilung der heutigen Sprachsituation zu, denn Göttert will zugleich eine Antwort auf Jutta Limbachs Veröffentlichung „Hat Deutsch eine Zukunft?“ geben. Die historische Darstellung soll seine zentrale These untermauern: „Die Sprachgeschichte des Deutschen mündet in einem mehrsprachigen Deutschland.“ Ist man aber am Ende des Buches angelangt, hat man keineswegs den Eindruck einer solchen schicksalhaften Vorbestimmtheit. Der Wunsch, ein mehrsprachiges Deutschland zu schildern, verführt Göttert dazu, eine Randerscheinung wie die „Kanak-Sprak“ ausführlicher zu behandeln als die viel wirksamere Umgestaltung der Hochsprache durch die Politische Korrektheit, besonders die feministische. Wen interessiert übrigens, daß die „Kanak-Sprak“, deren Charakter als halbliterarisches Kunstprodukt Göttert keineswegs verkennt, „an der Düsseldorfer Universität Gegenstand einer Einführung in die Soziolinguistik wurde“? Das gehört zu den vielen Einzelheiten, die besser im Zettelkasten verblieben wären.
Für internationale Vereinigungen wie die EU empfiehlt er Englisch als einzige Verkehrssprache, bei gleichzeitiger Pflege der Minderheitensprachen innerhalb der Staaten. Immerhin ein vertretbares Modell, aber gerade in Deutschland gibt es keine Minderheitssprachen, mit denen das Deutsche in einem „Wettbewerb“ stünde oder in Zukunft stehen könnte. Die mehrsprachige Schweiz wird zu Unrecht als Vorbild genannt, denn hier sind alle Landessprachen zugleich prestigehaltig, was man vom Türkischen in Deutschland nicht sagen kann. Was die sprachliche Vielfalt in der EU betrifft, so ist sie kompliziert und kostspielig, aber „chaotisch“, wie Göttert mehrmals sagt, ist sie nicht. Andererseits zeigt der Sprachenstreit in Belgien und anderswo, daß es Kräfte gibt, die in seinem Modell nicht vorkommen.
Wenn innerhalb Deutschlands Mehrsprachigkeit und zwischen den Staaten englische Einsprachigkeit herrschen soll, bleibt unerfindlich, warum Göttert zugleich das Dreisprachenprojekt der EU, mit der Bevorzugung jeweiliger „Nachbarschaftssprachen“, unterstützt. Vor einiger Zeit mußten die Gerichte eingreifen, weil Eltern im Oberrheingraben sich darüber beschwerten, daß ihren Kindern Englisch zugunsten der Nachbarsprache Französisch vorenthalten werden sollte. Die anachronistische Begünstigung von Nachbarsprachen wird in der Tat erst verständlich, wenn man weiß, daß dieses Projekt vornehmlich von Romanisten stammt, die dem Französischen seinen Platz auf der Stundentafel der Gymnasien sichern wollten; um Dänisch oder Tschechisch ging es weniger. (Die „Hamburger Empfehlungen für eine sprachenteilige Gesellschaft“ sind in Wirklichkeit Homburger Empfehlungen; es gibt noch weitere sinnstörende Druckfehler, besonders in Zitaten von Döblin, Trakl und Stramm.)
„Selbst die Amerikaner halten bereits Tagungen über die Kosten ab, die ihnen die bequeme Dominanz ihrer Weltsprache beschert hat (1983 unter dem Titel ‚A nation at risk‛).“ In dem amerikanischen Report steht nichts dergleichen. Englischunterricht ist für Amerikaner und Engländer weltweit ein gutes Geschäft. Nur wenige Amerikaner dürften sich darüber beschweren, daß ihre Sprache überall verstanden wird.
Der verblüffendste Satz ist wohl dieser: „In gewissem Sinne werden im Übrigen nur Verhältnisse wiederkehren, die wir schon einmal hatten: vor dem (in sprachlicher Hinsicht auf jeden Fall trostlosen) 19. Jahrhundert.“ Das neunzehnte Jahrhundert, in dem die deutsche Sprache (nach Wolfgang Frühwald) das Faszinosum der gebildeten Welt war – „trostlos“? Dafür wäre der Verfasser dem Leser wohl eine Erklärung schuldig.
Götterts Sprachgeschichte ist in munterem Ton, stellenweise geradezu flapsig formuliert und könnte einer breiteren Leserschaft empfohlen werden, wenn sie im Detail zuverlässiger und insgesamt weniger weitschweifig wäre.
 
 

Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 25.08.2012 um 19.03 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#21315

Karl-Heinz Göttert hat in welt.de über Theodor Siebs geschrieben. Da lag es nahe, Herrn Icklers Kritik seiner „Biografie der dt. Sprache“ nach den hier und in Rechtschreibung.com angegebenen Links noch einmal nachzulesen. Sie ist anscheinend entfernt worden.
 
 

Kommentar von Thomas Paulwitz, verfaßt am 05.08.2010 um 14.23 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16638

Sehr schön.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2010 um 11.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16637

Vorgestern hat die Süddeutsche Zeitung meine Rezension von Götterts "Deutsch. Biografie einer Sprache" abgedruckt – in herkömmlicher Rechtschreibung. Welch eine Überraschung!

[Der Text ist hier zu finden. Red.]
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.06.2010 um 08.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16293

Noch einmal zu Götterts Satz:

„In gewissem Sinne werden im Übrigen nur Verhältnisse wiederkehren, die wir schon einmal hatten: vor dem (in sprachlicher Hinsicht auf jeden Fall trostlosen) 19. Jahrhundert.“ (370)

Wolfgang Frühwald schrieb:

„Aus dieser engen Verbindung der klassischen Literatursprache und der Beschreibungssprache der Naturwissenschaft entstand jene deutsche Wissenschaftssprache, die das Faszinosum des 19. Jahrhunderts und noch der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gewesen ist.“ (aviso 3/2000)

Das erinnert an die bereits diskutierten Thesen über den heutigen "Sprachverfall":

„Wohl noch nie ist in deutschsprachigen Ländern ein so gutes Deutsch von einer so großen Zahl von Menschen gesprochen und geschrieben worden.“ (Jutta Limbach 2008)

„Will wirklich niemand begreifen, daß die Sprache in großer Not ist, wir uns in einem Sprachnotstand befinden? ... Eine Nation droht hinabzutrudeln in eine verquatschte und verstümmelte Sprechweise ...“ (Peter Wapnewski 1997)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.05.2010 um 10.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16275

Göttert erwähnt im Vorwort seines Wissensbuches, daß man im Kantjahr über Philosophie, im Einsteinjahr über Physik Bescheid wissen möchte. Es kann also nur darum gehen, überall mitzureden, denn zu mehr reicht die stichwortartige Darstellung in solchen Bildungsbüchern ja nicht aus.

Die Rhetorik lehrt seit den Sophisten, wie man über beliebige Gegenstände – also auch ohne Sachkenntnis – Reden halten könne, insofern ist das alles typisch rhetorisch und fällt durchaus in die Zuständigkeit des Rhetorikers Göttert, die eben eine Allzuständigkeit ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.05.2010 um 08.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16268

Bei Lingen hat Göttert 2006 auch ein Buch "Wissen und Bildung heute" veröffentlicht.

Das Buch war kurze Zeit bei ALDI im Angebot. Es ist nicht mehr lieferbar, aber über amazon.de kann man ein neues Exemplar für 18 Cent erwerben. Mehr ist es auch nicht wert: Graues Papier, keine Illustrationen oder Graphiken, keine Quellenangaben oder Links – das wirkt schon äußerlich anachronistisch.

Der Name des Verfassers steht nicht auf dem Einband. Im Impressum wird Oliver Jungen als Mitarbeiter erwähnt, mit dem zusammen Göttert auch schon eine Einführung in die Rhetorik geschrieben hat.

Das Buch knüpft offensichtlich an Bestseller wie Schwanitz an; es gibt Dutzende von solchen volkstümlichen Bildungsbüchern. Die Naturwissenschaften sind mitbehandelt, allerdings viel kürzer als die Geisteswissenschaften. Die geschichtliche und kulturelle Darstellung ist auf Europa beschränkt („Schwergewicht auf Europa“ S. 24), Indien und China zum Beispiel kommen nicht vor, außer bei den Weltreligionen.

Die Sprachwissenschaft wird nicht erwähnt, Sprache ist kein Stichwort. Auch die juristische Fakultät ist ausgespart.

Da Göttert auch ein Orgelhandbuch verfaßt hat, wundert es nicht, daß ein Kapitel über die Orgel eingeschaltet ist und das Stichwort „Orgel“ entsprechend viele Einträge hat. Man erfährt, wer Eberhard Friedrich Walcker war, aber Albert Schweitzer kommt in keiner Abteilung vor.

Foucault und J. Derrida sind mit jeweils fast zwei Seiten vertreten, ausführlicher als z. B. Leibniz oder gar Wittgenstein, über den nur folgendes geboten wird: „Ludwig Wittgenstein entwickelte in seinem ‚Tractatus logico-philosophicus‘ (1922) den Begriff des ‚Sprachspiels‘. Gemeint ist damit jeweils die Tatsache, dass ‚Gedanken‘ nicht in einem ‚wesenhaften‘ Verhältnis zur ‚Welt‘ stehen, sondern wie Spielmarken fungieren, deren man sich für bestimmte Zwecke bedient.“ (173) Das ist natürlich unter aller Kritik.

Die gesamte Medizin hat nur sechseinhalb Seiten, weitgehend Medizingeschichte.

Im Anhang findet man die Systematik der Tiere und Pflanzen. Gemse und Känguruh sind aus der Quelle übernommen.

Unter der Überschrift Homo Faber liest man Homo faber.

Ravels "Pavane pour une infante défunte" übersetzt Göttert als "Pavane für ein verstorbenes Kind".

„Von Kritikern wird die Homöopathie als pure Nostalgie abgetan.“ (556) – Wieso „Nostalgie“?

Nietzsches „unvollendetes Spätwerk, ‚Der Wille zur Macht‘“, ist nicht „aus Notizen und Aphorismen der Nachlassverwalter zusammengestellt“ (169).

Druckfehler sind selten (1955 statt 1855 im Kasten zu Gottfried Keller).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.05.2010 um 17.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16243

Göttert schreibt auch:

„Die gleiche Zielsetzung (wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung) verfolgt auch die Gesellschaft für deutsche Sprache (inzwischen mit dem ehemaligen Ostberliner Zentralinstitut für Sprachwissenschaft vereint) ...“ (Deutsch S. 355)

In Wirklichkeit wurde das ZISW 1991 abgewickelt, 23 Mitarbeiter wurden an des Mannheimer Institut für deutsche Sprache übernommen. Mit der GfdS hat es natürlich nichts zu tun, und diese wiederum verfolgt keineswegs die gleiche Zielsetzung wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Eine gewisse Fortführung fand das ZISW später im „Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft“.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.05.2010 um 11.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16235

In meinen Bemerkungen zu "Es gibt keinen Kuß mehr", einem Reclam-Bändchen, mit dem Göttert die Reformschreibung unter die Leute zu bringen versuchte, hatte ich schon die Vermutung geäußert, daß Göttert die Rechtschreibreform für ein Werk der Dudenredaktion hält. Das war mir schon wieder entfallen, aber aus dem neuen Buch "Deutsch" geht hervor, daß es tatsächlich zutrifft. Er bringt eben, wie so mancher Außenseiter, der sich lange Zeit gar nicht für die Reform interessiert hat, alles durcheinander. Einem Journalisten würde man ja noch nachsehen, daß er sich mehr um seine flotte Schreibe als um den Inhalt kümmert, aber bei einem Germanisten ist es doch recht verdrießlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.05.2010 um 10.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16214

Göttert schreibt übrigens in "Deutsch" auch folgenden Satz:

„Eduard Engel (...) war Jude, was die NS-Führung als Beleidigung empfand.“ (268)

Wie soll der Leser das verstehen?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 07.05.2010 um 12.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16188

Wie üblich übersehen wird Saussures Befassung mit den Grenzen der Arbitrarität bzw. den »Graden der Beliebigkeit«.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.05.2010 um 09.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16187

In seinem Buch "Deutsch" hat Göttert auch manches wiederverwertet, was schon in der "Einführung in die Stilistik" (2004, mit Oliver Jungen) zu lesen war. Diese Einführung ist in einem wort- und besonders fremdwortreichen Stil abgefaßt und kaum lesbar, übrigens auch inhaltlich nicht lohnend (wie die meisten Einführungen in die Stilistik).

Zum Stil:

»Im Dialog "Gorgias" bestreitet er (Platon) nicht nur den Wissenschaftscharakter der Rhetorik, er will sie nicht einmal als Kunst gelten lassen, sondern lediglich als technische Routine, ohne freilich etwas für solche operationalen Prozeduren übrig zu haben. Genau diese Trennung von Technik und Charakter aber ermöglicht erst eine Stilistik im eigentlichen Sinne.« (57)

Vom Charakter war gar nicht die Rede gewesen, wie kommt es zur Wiederaufnahme als „diese Trennung von Technik und Charakter“? Was sind „operationale Prozeduren“, und wie verhalten sie sich zu „technischen Routinen“?

»Nach vielen Kämpfen nähert man sich inzwischen der entspannteren Auffassung einer Pluralität von Stilen, ohne dass dies gleich auf eine solipsistische Welt hinausläuft.« (13)

Wissen die Verfasser nicht, was „solipsistisch“ bedeutet?

Die Abweichungsstilistik wird immer wieder als „deviatorische“ Auffassung vom Stil bezeichnet, was auch ziemlich irritierend ist.

Und zum Inhalt:

»Die Linguistik um 1900 war geprägt von der Schule der Junggrammatiker, die ihrerseits die Sprachwissenschaft auf den Kopf gestellt hatten. Während in der Historischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts vor allem Abstammungsverhältnisse der Sprachen untereinander untersucht (und gesucht) worden waren, setzten die Junggrammatiker in positivistischer Manier ganz auf die beobachtbaren Fakten der Einzelsprachen. Sie lehnten übergreifende Abstraktionen ab und nahmen einzig den aktuellen Sprachgebrauch zum Gegenstand.« (26f.)

Hermann Paul hätte sich wohl sehr gewundert über die Unterstellung, er habe die historische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts auf den Kopf gestellt.

Es folgen krause Behauptungen über Saussure:

»De Saussure hatte mehrere grundlegende Entdeckungen gemacht, die von großem Einfluss auf die Linguistik waren. So stellte er fest, dass die Beziehung zwischen einem Zeichen und dem damit Bezeichneten rein willkürlich (arbiträr) war.« (27)

Aber das war keine Entdeckung, sondern jedem Gebildeten geläufig. Hebbel dichtete bereits:

„Viel sind der Sprachen auf Erden; schon dieses sollte uns lehren,
Daß kein inneres Band Dinge und Zeichen verknüpft.“
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 05.05.2010 um 12.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16184

Ebel ist ja als einer der hartnäckigsten Verteidiger der Reform in allen ihren Versionen hinlänglich bekannt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.05.2010 um 09.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16183

Götterts Buch ist nicht ganz schlecht, deshalb habe ich ihm bei amazon zwei Punkte gegeben. Aber was er erzählt und was Ebel großenteils nacherzählt, ist schon hundertmal ganz ähnlich dargestellt worden. Wenn es um mehr ginge als schnelles Geld, hätte man das muntere Skript einem Germanisten vorgelegt, der wirklich Sprachhistoriker ist, dann wären die Schnitzer nicht stehengeblieben, von denen ich nur einen Teil genannt habe. Außer Gauger wäre noch Göller erwähnenswert, er zitiert auch den Satz: „In gewissem Sinne werden im Übrigen nur Verhältnisse wiederkehren, die wir schon einmal hatten: vor dem (in sprachlicher Hinsicht auf jeden Fall trostlosen) 19. Jahrhundert.“ – Was soll man denn dazu noch sagen?
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 04.05.2010 um 21.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16182

Götterts Buch ist von Martin Ebel (Deutschlandfunk) recht positiv rezensiert worden, allerdings mit seltsamen orthographischen Blüthen: »Das ist die eine Dimension der Sprachgeschichte: wie sich Laute verändern und man die Vorläufer unserer heutigen Wörter kaum erkennt, wenn sie uns gewissermaßen Fell tragend entgegen treten.«
Natürlich heißt es auch »Der Sprecher hat immer Recht« und »Gräuel«. Zum Abschnitt, in dem es um die Rechtschreibreform geht, merkt Ebel an: »Die einzigen unsachlichen Ausfälle in seinem ansonsten erfreulich entspannt geschriebenen Sachbuch treffen dann auch die Rechtschreibreform: Eben weil sie ein normierender Eingriff von oben war, sozusagen ein orthografischer Kanalbau.«

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1174358/
 
 

Kommentar von Thomas Paulwitz, verfaßt am 01.05.2010 um 13.53 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16181

#16170
Diese wirklich bemerkenswerte Stelle über die Rechtschreibreform hatte ich in einer Buchbesprechung (noch nicht erschienen) aufgegriffen. Gut, daß dieser Abschnitt aus Götterts Buch hier dokumentiert wird.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.05.2010 um 09.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16178

Wie man an dem längeren Zitat sieht, weiß Göttert, daß die Rechtschreibreform nichts taugt und daß sie außerdem nur für Schulen (und "Ämter") verbindlich ist. Warum macht er dann in seinen eigenen Büchern mit – bis zum aufwändigen Zierrat und allen anderen Dummheiten?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.04.2010 um 17.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16172

In demselben Buch schreibt Göttert:

"Selbst die Amerikaner halten bereits Tagungen über die Kosten ab, die ihnen die bequeme Dominanz ihrer Weltsprache beschert hat (1983 unter dem Titel A nation at risk).“ (S. 22)

Ich habe aber weder in dem amerikanischen Report noch in den Anhängen etwas zu den Kosten der Einsprachigkeit finden können. Vielleicht hat ein anderer Leser mehr Erfolg?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.04.2010 um 15.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16170

„Wie wachsam bei allem, was die Entwicklung der Sprache angeht, gerade die Deutsche Akademie war, zeigte sich beim großen Zusammenprall mit der einzigen annähernd staatlichen Institution, die wir seit 1998 besitzen: mit der Duden-Redaktion und der von ihr durchgesetzten Rechtschreibreform. Offenbar beflügelt von der gerade erreichten deutschen Einheit bekam eine schon länger schwelende, aber nie zum Abschluss gekommene Diskussion über die Reduzierung und Vereinfachung der orthografischen Regeln neuen Schwung. 1996 legte eine aus Wissenschaftlern aller betroffenen Länder gebildete Kommission ihre Ergebnisse vor. Obwohl (oder vielleicht gerade weil?) die Empfehlungen den meisten Experten und einer informierten Öffentlichkeit aufgrund der Willkür und Widersprüchlichkeit der Regeln als katastrophal erschienen, beschlossen 1998 die Kultusminister (mit anschließender Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht), dass zur Verabschiedung keine parlamentarische Ermächtigung notwendig sei. Damit erhielt das Regelwerk amtlichen Charakter und ein gewinnorientiertes Verlagsunternehmen den Status einer 'Behörde'. Im Wiener Vertrag wurden auch Österreich und die deutschsprachige Schweiz eingebunden.
Man kann sich heute nur noch wundern, wie alle Warnungen der Akademie (die sich vor allem auf die künstliche, nicht in der historischen Sprachentwicklung wurzelnde Regulierung bezogen) einschließlich eigener Gegenvorschläge in den Wind geschlagen wurden. Erst als das Kind im Brunnen lag, als Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach dem Aufruf der Akademie, die neue Rechtschreibung zu boykottieren, zur alten Orthografie zurückkehrten, machte sich die Mannheimer Kommission ans Zurückrudern. So kam es im Jahre 2006 zu einer Reform der Reform, die nun endgültig (für Schulen und amtliche Stellen) Verbindlichkeit besitzt.“
(Karl-Heinz Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache. Berlin 2010:357)

Hier ist jeder Satz falsch – für einen Mann, der ein Buch über die Rechtschreibreform veröffentlicht hat, eine erstaunliche Leistung.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.04.2010 um 13.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16117

... dank Eisenberg – auf der Seite der Reformdurchsetzer. Mit seiner erfolgreichen Doppelstrategie ...

Einerseits Reformdurchsetzer, andererseits schreibt er bis mindestens 2005 selbst in herkömmlicher Rechtschreibung – wer kann das verstehen.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 23.04.2010 um 11.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16116

Lieber Herr Ickler,

Ihre Eitelkeit sei Ihnen unbenommen, und der historischen Wahrheit haben Sie nun Genüge getan.

Aber man kann die Zeilen auch anders verstehen, wenn man betont, daß die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sich "dank Peter Eisenberg, recht wirksam, in die Rechtschreibdebatte eingeschaltet [hat.]" Denn wirksam und nachhaltig (vor allem für Eisenberg selbst) ist das Einschalten doch gewesen. Vorher hatte die Akademie eigentlich gar keine richtige Meinung zur Rechtschreibreform und nun findet sie sich – auch dank Eisenberg – auf der Seite der Reformdurchsetzer. Mit seiner erfolgreichen Doppelstrategie hat Eisenberg nicht nur den Dudenpreis erhalten, sondern auch dafür gesorgt, daß die Kultusminister sich wieder nach Darmstadt trauen können. Friede den Palästen und der Akademie, wen kümmern schließlich die Hütten!

Und so ist es nur folgerichtig, daß man Ihre Resolution unterschlägt, lieber Herr Ickler. "Daß übrigens noch die ungünstigsten Kritiken erscheinen werden, versteht sich von selbst; denn die Regierungen müssen doch durch ihre bezahlten Schreiber beweisen lassen, daß ihre Gegner Dummköpfe oder unsittliche Menschen sind." Diese Zeilen wurden am 28. Juli 1835 in Straßburg geschrieben. Sie beschämen die Akademie, die sich eigentlich einen neuen Namen geben müßte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.04.2010 um 18.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16115

Hans-Martin Gauger schreibt in der genannten FAZ-Rezension zu Göttert:

"Die "Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung" (...) hat sich auch erst äußerst spät, zu spät, aber dann doch, dank Peter Eisenberg, recht wirksam, in die Rechtschreibdebatte eingeschaltet."

Da sich meine persönliche Eitelkeit hier mit dem Sinn für historische Wahrheit trifft, sei mir eine Korrektur gestattet:

Die Akademie hat sich, dank Theodor Ickler, gerade noch rechtzeitig eingeschaltet, nämlich in Gestalt einer von diesem entworfenen, vom Präsidium einstimmig verabschiedeten Resolution, aber dank Hentig und anderen hat sie dann den Kurs gewechselt und arbeitet seither „angesichts der Machtverhältnisse“ konstruktiv an der Reform und ihrer Durchsetzung mit, wobei sie auch ehrenwerte Mitglieder wie Reiner Kunze und Wulf Kirsten vor den Kopf zu stoßen keine Bedenken hatte.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 22.04.2010 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#16113

Das Buch "Deutsch: Biografie einer Sprache" von Göttert ist kürzlich in der FAZ rezensiert worden – ein von ein paar höflichen Worten kaum verschleierter Verriß. Der FAZ-Autor kritisiert u. a. die Ausführungen Götterts zu den Anglizismen, in denen dieser das abgedroschene Standardargument gebraucht, die hohe Zeit der französischen Fremdwörter sei ja auch vergangen. Der FAZ-Autor sagt zu Recht, daß das eine bloße historische Analogie sei und es daß es seinerzeit eine starke, nationalistische Gegenbewegung, auch von amtlicher Seite, gegeben habe. Dabei erwähnt er auch Eduard Engel.

Inzwischen hat sich Göttert in einem Leserbrief an die FAZ gewehrt. Zu den Anglizismen fiel ihm aber nichts besseres ein, als sich auf von Polenz und Jutta Limbach zu berufen (er hätte sich mühelos auf viele andere Vertreter dieser oberflächlichen Argumentation berufen können). Außerdem versucht er, Engel mit einigen Zitaten (wohl aus dessen Weltkriegsbuch) zu diskreditieren. Damit geht er natürlich – bewußt oder unbewußt – an dem Argument des FAZ-Rezensenten, nämlich der wertfreien Feststellung der Existenz einer starken Gegenbewegung, völlig vorbei. Ein beklagenswertes Niveau.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 25.03.2010 um 21.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#15906

Der inzwischen emeritierte Göttert hat sich ein neues Zubrot einfallen lassen: "Deutsch. Biografie einer Sprache" (Ullstein, 300 S., 19,95 Euro); Textauszug siehe http://www.welt.de/die-welt/debatte/article6725672/Deutsch-hat-Zukunft.html (Welt online, 11. März 2010).
 
 

Kommentar von buchreport.de, 26. August 2009, verfaßt am 12.09.2009 um 20.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#14960

Aldi bringt „Neues Deutsches Wörterbuch“
Rechtschreibung vom Discounter

Während Bertelsmann („Wahrig“, 17,95 Euro), das Bibliographische Institut („Duden“, 21,95) und demnächst Klett („Pons“, 20 Euro, erscheint im September) ihre Rechtschreib-Wörterbücher teilweise mit großem Marketingaufwand unters Volk bringen, lässt Aldi den Preis sprechen: Seit vergangener Woche wird in den knapp 2400 Aldi-Nord-Filialen ein von Karl-Heinz Göttert herausgegebenes „Neues Deutsches Wörterbuch“ für 4,99 Euro angeboten. Details:

– Kooperationspartner ist der Lingen Verlag, der das Wörterbuch seit 2006 „in verschiedenen Ausgaben“ auf den Markt gebracht hat, wie Verlagsleiterin Sabine Hartel ausführt. Bei Aldi bietet das auf Nebenmärkte spezialisierte Kölner Unternehmen das Wörterbuch (als Verlagspreis ursprünglich zu 7,95 Euro ausgewiesen) nicht zum ersten Mal feil.
– Das 1150-seitige Wörterbuch wartet mit 100.000 „Eintragungen“ auf. Zum Vergleich: „Wahrig“ (1216 S.) bietet 130.000, „Duden“ (1216 S.) 135.000 und „Pons“ (ca. 1200 S.) 140.000 Stichwörter.
– Herausgeber des Lingen-Wörterbuchs ist mit Göttert ein Germanistikprofessor an der Universität Köln, den ein bei Reclam erschienenes Büchlein als Kenner der Materie ausweist: In „Es gibt keinen Kuß mehr“ (2007) erläutert er die Änderungen der 2006 in Kraft getretenen Rechtschreibreform.

Wie die anderen Anbieter setzt Aldi auf den Schulstart als Verkaufsimpuls. Die Abverkäufe des „Duden“ bewegen sich nach buchreport-Erhebungen bisher im Buchhandel auf dem Vorjahresniveau, die Neuauflage hat demnach noch nicht für Zusatz-Impulse gesorgt und liegt im Vergleich zu den großen Abverkäufen des Vorläufers im Jahr 2006 nur bei ca. 10 bis 15%. Der „Wahrig“ kommt wiederum kommt auf ca. 10 bis 20% der Verkaufszahlen des Marktführers „Duden“.

aus: buchreport.express 34/2009

(Link)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.11.2007 um 06.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#10759

Herr Riemer hat meiner Ansicht nach den Kern getroffen: Was sich nicht im Sinn der Reformer eindeutig regeln läßt, muß abgeschafft werden, auch wenn es Vorteile hat. Die Orthographie hat nicht dem Menschen zu dienen, sondern umgekehrt. Wir haben das ja mal "Regelfetischismus" genannt.
In Wirklichkeit ist auch die Groß- und Kleinschreibung kinderleicht, wenn man sich dazu überwinden kann, seinen Begriff von Orthographie und Regel zu revidieren.

Unsere Ohnmacht gegenüber dem Reformunternehmen ist letzten Endes darin begründet, daß so viele Menschen in Deutschland zur Verehrung der "eindeutigen Regelung" erzogen worden sind. Sonst wären Schaeder und seine Freunde doch nie mit dem Argument ernst genommen werden können, die Getrennt- und Zusammenschreibung müsse nun auch endlich amtlich geregelt werden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 26.11.2007 um 00.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#10758

(Mein Kommentar bezog sich auf "Es gibt keinen Kuß mehr" von Reclam.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 26.11.2007 um 00.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#10757

Ich habe mir das Buch dummerweise von Amazon schicken lassen, wollte auch mal einem Reform-"Erklärer" eine Chance geben.
Mir ist vor allem aufgefallen, daß fast überall dort, wo die Reform auch einmal kritisiert wird, nicht etwa bemängelt wird, daß sie zu weit geht, sondern daß sie nicht weit genug geht.
Bezeichnend dafür ist vor allem dieser Satz zum Ende des Buches (Hervorhebung von mir):
"Auch die Groß- und Kleinschreibung lässt sich nicht wirklich überzeugend regeln und hätte trotz der erwiesenen Vorteile beim schnellen Lesen schlicht abgeschafft werden sollen."

Richtig, schaffen wir alles, was Vorteile hat, einfach ab!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.11.2007 um 16.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#10749

Ich habe mir Götterts neues Werk angesehen, es entspricht den Erwartungen. Aus seiner Sicht hat er alles richtig gemacht, man soll ja privat fürs Alter vorsorgen, und selbst heute lassen sich mit der Rechtschreibreform noch ein paar Mäuse machen. Aber der Verlag?

Hier meine Anmerkungen:

Göttert, Karl-Heinz (2007): Es gibt keinen Kuß mehr. Die (neue) Rechtschreibung erklärt. Stuttgart (Reclam)

Göttert kritisiert zwar auch einige neue Regeln, insgesamt zielt sein Buch aber darauf ab, die Reformschreibung zu verbreiten, wie schon das von ihm angefertigte Wörterbuch. Seinen besonderen Eifer beweist er durch die Wortbildung selbstständig, die er sich in
seinen früheren Schriften nicht erlaubte, weil er offenbar meinte, sie sei nicht zulässig. Der Irrtum wird auch noch einmal ausdrücklich bestätigt (S. 56). Wo er jedoch die amtlichen Regeln zitiert, schreibt er selbständig. Für seine vornehm distanzierte Haltung ist folgende Stelle über die erzwungenen volksetymologischen Schreibweisen bezeichnend:
„Soll Vereinfachung auch sprachhistorisch Gewachsenes beseitigen dürfen? Man kann sich vorstellen, wie sich Experten über solche Fragen erregen können.“
Zu diesen Experten will er sicher nicht gehören und sich die Finger nicht schmutzig machen, indem er etwa gegen die Reform kämpft.
Er selbst beherrscht die neuen Regeln nicht. Er schreibt: um Neun, Punkt Zwölf.

horrend hält er für eine neue Schreibweise „(nach Horror)“. Die etymologische Herleitung von belämmert aus Lamm hält er für korrekt, und im selben Kapitel über Umlautschreibungen wird Tollpatsch als Beispiel einer falschen Herleitung angeführt, obwohl es gar kein Fall von Umlaut ist. Die Neuschreibung Zierrat ist ihm keinen Kommentar wert, offenbar hält er sie für korrekte Stammschreibung.

Göttert stützt sich anscheinend nicht auf das amtliche Regelwerk, sondern auf den Duden. Daher spricht er immer wieder – wohl fünfzigmal – von „empfohlenen“ Schreibweisen und weiß offenbar nicht, daß das amtliche Regelwerk keine Empfehlungen enthält. Dafür ein Beispiel: „Wenn Jogurtmöglich sein soll, klingt die Empfehlung Joghurt wie eine Misstrauenserklärung gegenüber der eigenen Neuerung.“ Freilich, aber die Neuerung stammt von den Reformern, die Empfehlung von der Dudenredaktion. Göttert hält das nicht auseinander und kennt den Unterschied wohl nicht einmal. Daher warnt er auch an vielen Stellen: „Vorsicht: In der Amtlichen Regelung steht es umgekehrt.“ – weil er eben die Reihenfolge der fakultativen Schreibweisen in einen falschen Gegesatz zu den Duden-Empfehlungen bringt. Die Amtliche Regelung kennt er nach eigener Bekundung aus dem Anhang zum neuen Duden, und so kann es sein, daß er sie für ein Werk der Dudenredaktion hält.

Das Sternchen bei *Kenntniss usw. erklärt er als Symbol für „ungrammatisch“. Es geht aber nirgendwo um Grammatik. Gemeint ist immer „nichtorthographisch“.

Jedes der kurzen Kapitel ist mit einer krampfhaft munteren Überschrift nach folgendem Muster versehen: „Verzeihung, sagte die Prophezeiung, ich hätte gern mehr Meer. Oder: Bezeichnung der Länge“. „Der Butler brachte zur Polonaise den Babys Majonäse. Oder: Besonderheiten bei Fremdwörtern“. (Das Wort Majonäse wird übrigens nicht besprochen.)
Unverständlich ist folgender Absatz:
„Daneben gab und gibt es als dritte Möglichkeit zur Bezeichnung der Kürze auch das einfach s, und zwar dann, wenn ein Wort auf scharfes s endet, das sich der Auslautverhärtung verdankt: Preis (neben Preise) – Maus (neben Mäuse) – Los (neben Lose).“

Wenn Drittel schon als Ausnahme gekennzeichnet werden soll, müßte man es auf Dritt-teil zurückführen und nicht auf ein unverständliches Dritt-tel.

Die Einführung eines Großbuchstabens für ß schreibt er dem „Deutschen Institut für Normierung (DIN)“ zu (statt richtig Normung). Und er schließt mit den Worten „Fügen wir uns auch in dieses Schicksal!“ Schicksal ist nämlich für ihn auch die ganze Rechtschreibreform.

Eine Reihe von Bindestrichschreibungen wie *Binnenschiff-Fahrt versieht er mit seinem Sternchen, als seien sie unzulässig. Das trifft aber nicht zu.

Marc Twain (dreimal) schrieb sich in Wirklichkeit anders.

Daß gewährleisten nur einen Wortakzent habe, Gewähr leisten aber zwei, ist ein alter Irrtum, den Göttert weiterträgt. Im übrigen kommt er aber mit den trennbaren und untrennbaren Verben nicht zurecht und hat die Unklarheit des amtlichen Regelwerks wohl nicht einmal erkannt. Nach seiner Aufstellung wäre möglich: ich marathonlaufe (S. 63) analog zu ich gewährleiste. Dieses Kapitel schließt mit einem unentwirrbaren Durcheinander.

In leidtun entdeckt Göttert ein „verblasstes Substantiv“, genau wie die Reformer. Daß die reformierte Reformschreibung hier nicht der traditionellen entspricht, scheint er nicht einmal zu bemerken. Die Hintergründe der Getrennt- und Zusammenschreibung in Fällen wie zeitsparend werden nicht einmal andeutungsweise erfaßt. Göttert begnügt sich mit langen Listen fakultativer Schreibungen, wobei er irrigerweise bei den Ratsuchenden nur Zusammenschreibung für zulässig hält.

Grimms Deutsches Wörterbuch wurde nicht erst „am Ende des 20. Jahrhunderts“ fertiggestellt. Der letzte Band erschien 1954, später folgte noch ein Quellenverzeichnis.

Besonders schwach sind die kommentarlos wiedergegebenen Neuregelungen zu Recht/recht haben usw. (S. 98f.). Die Kleinschreibung bei am steilsten wird damit begründet, daß der verschmolzene Artikel nicht herauslösbar sei. Der Leser fragt sich, warum im Übrigen oder im Allgemeinen trotzdem groß geschrieben werden müssen.

Wörter wie andere hält Göttert für „Zahladjektive“. Im Kleinen Bären erkennt er zweimal ein „Sternzeichen“ (statt Sternbild).

„Bei du und ihr bzw. dein und euer kann man selbst bestimmen, ob man im Brief die förmlichere Großschreibung oder die persönlichere Kleinschreibung bevorzugt.“ Aus dieser seltsamen Konstruktion folgt für Göttert: „Damit ist allerdings eine erhebliche Schwierigkeit ganz anderer Art programmiert: Duze ich den Freund in Großschreibung, ist er sauer, weil er sich nicht als Freund behandelt sieht. Duze ich ihn in Kleinschreibung, ist er sauer, weil ich zu distanzlos bin.“
Das soll eine „erhebliche Schwierigkeit“ sein? Das wirkliche Problem der Einmischung des Staates in die Briefanrede liegt ganz woanders.

Die Relativpronomen sind – anders als Götter meint – nicht mit den Artikeln, sondern mit den Demonstrativpronomen gleichlautend.
Erweiterte Partizipien werden nach der Neuregelung nicht generell mit Kommas abgetrennt (S. 121).
Die Sternchen bei *Urin-stinkt und *Anal-phabet sind unbegründet: Göttert (und Zehetmair) halten diese Schreibweisen zu Unrecht für unzulässig.

„Eine Reform, die so problematisch war, dass nach acht Jahren die nächste folgen musste, ist schon an sich eine Katastrophe.“ (S. 136) Im übrigen wird aber die Revision von 2004 gar nicht behandelt. Und was folgt aus Götterts Einsicht in die Mißratenheit der Reform?
„Wir sollten die Reform auch wider besseres Wissen befolgen (die Medien haben mittlerweile den Widerstand aufgegeben). Denn dies muss betont werden: Noch schlimmer als eine verunglückte Reform wäre ein Zustand der Verweigerung oder auch nur Ratlosigkeit mit der Folge eines permanenten Durcheinanders von Altem, Neuem und ganz Neuem.“
Dieses Durcheinander haben wir, aber es waren nicht die Verweigerer, die es verursacht haben. Auch Göttert trägt mit diesem Machwerk dazu bei.
Noch einmal Göttert: „So schlecht das Ergebnis ist oder sein mag: Wir müssen damit nun leben – mindestens die nächsten zwanzig Jahre.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.11.2007 um 14.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#10654

Das Wörterbuch scheint sich nicht so gut verkauft zu haben. Jetzt gibt es bei Reclam eine Einführung in die reformierte Rechtschreibung: "Es gibt keinen Kuß mehr". Wer sich von der Art des Göttertschen Werkes eine Eindruck verschaffen will, kann bei Reclams Homepage vorbeischauen und sich ein Kapitel herunterladen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.09.2007 um 10.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#10211

Wie ich gerade erfahre, vertreibt die Mainzer Allgemeine Zeitung jetzt dieses Göttertsche Machwerk.

Bei ALDI ist es naturgemäß nicht mehr zu haben, dort gibt es jedoch laut Anzeige "Stoß dämpfende" Schuhe und dazu eine "Outdoor-Fußmatte" mit dem Schriftzug "WELCOME". Da tritt man gern drauf herum. In Berchtesgaden tagte unterdes, wie Herr Unterstöger berichtet, ein erlesenes Gremium über die Zukunft der deutschen Sprache, allerdings, wie es scheint, ohne Sprachwissenschaftler.
 
 

Kommentar von Fungizid, verfaßt am 07.03.2007 um 12.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#7917

Unsere Versicherungsberaterin vom AWD kommt auch von der Germanistik. Angesichts der Arbeitsmarktsituation geht es gar nicht ohne Flexibilität.

Es haben auch schon gute Photographen eines Tages mit Pornos angefangen. Und bei den Wörterbüchern sehe ich seit einiger Zeit ebenfalls eine starke Tendenz zur Schmuddelware.

Aber das bringt Geld. Schlingernde Qualitätsverlägchen könnten damit die Freiheit gewinnen, Gutes auch ohne Existenznot zu veröffentlichen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.03.2007 um 19.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#7910

Götterts Buch über Knigge (dtv) ist eine einsichts- und verständnisvolle Würdigung und für einen Germanisten gut geschrieben.
 
 

Kommentar von Florian Bödecker, verfaßt am 06.03.2007 um 17.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#7908

Empfehlenswert ist allerdings Götterts kleiner Schreibratgeber: "Kleine Schreibschule für Studierende" (1998).

Sehr instruktiv fand ich die Darstellung des Schreibprozesses. Gefallen hat mir auch sein liberales Sprachverständnis, wenn man das so bezeichnen kann.

Ärgerlich ist, daß auch in diesem Büchlein schon mit vorauseilendem Gehorsam für die Unterwerfung unter die Reform geworben wurde - sie käme schließlich sowieso. Was das Korrekturlesen angeht, so verweist er bei sprachlichen Zweifelsfällen einfach auf die 12bändige Duden-Reihe.
 
 

Kommentar von T. P., verfaßt am 06.03.2007 um 16.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#7906

Unbestätigten Gerüchten zufolge soll übrigens 2007 der Band "Anschlag auf den Orthographen" folgen ...
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.03.2007 um 15.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#7904

Dieser Karl-Heinz Göttert ist wirklich sehr fleißig und begabt. Er schreibt auch historische Kriminalromane:

(2003) Die Stimme des Mörders
(2003) Das Ohr des Teufels
(2004) Anschlag auf den Telegraphen
(2005) Entschlüsselte Geheimnisse

Die ersten drei Titel verraten ein ausgeprägtes Interesse an Stimme und Informationsübermittlung. Zusammen mit der Fähigkeit, Geheimnisse zu entschlüsseln, ist es dann kein Wunder, wenn er ein reformiertes Wörterbuch aus dem Ärmel schüttelt.
 
 

Kommentar von Thomas Paulwitz, verfaßt am 06.03.2007 um 13.52 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#7902

Dieses Wörterbuch wurde vor zwei, drei Wochen über Aldi-Süd vertrieben.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 06.03.2007 um 12.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=800#7901

Trösten Sie sich, lieber Herr Ickler. Mir geht es nicht anders in unserem Verlag: wir mühen uns um Qualität, was viel Zeitaufwand bedeutet und Geld kostet. Andere Verleger, die sich auf demselben Markt tummeln, bedrucken einfach Papier mit dem Ziel, rasch viel Geld zu verdienen. Ich kenne einen „Verlag“, dessen Veröffentlichungen derart mies sind – dürftig sowohl nach inhaltlichen, falsch nach sprachlichen Kriterien –, daß man sie zum Schutze der Schulkinder glatt verbieten müßte. Aber das kann ich aufgrund meiner liberalen Einstellung nicht wollen. Betrüblich ist, daß viele Menschen heute gar nicht mehr merken, welchen Schund sie kaufen. Möglich, daß nur um des Kaufens willen gekauft wird und keiner mehr richtig liest.
 
 

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