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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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05.07.2006
 

Der war’s
Unschuldiges Österreich. Eine kleine Erinnerungshilfe

"Lieber Zwiebelfisch! Du hast zwei großartige Bücher geschrieben, die auch in Österreich gern gelesen werden. Im Untertitel bezeichnest Du sie als "Wegweiser durch den Irrgarten der deutschen Sprache" – wie Recht Du hast!
Was Deinen Landsleuten bei der Rechtschreibreform und bei der anschließenden Reform der Reform eingefallen ist, geht ja auf keine Kuhhaut. Ihr habt also den Irrgarten selbst angelegt. Wir in Österreich können dann nichts anderes tun, als nachhüpfen, was ihr uns vorgehüpft habt."
(Robert Sedlaczek in der Wiener Zeitung)

Das könnte Euch so passen, daß wieder mal der große Bruder den ganzen Unsinn eingebrockt hat. Aber Österreich hat als Antreiber und Koordinator der Rechtschreibreform eine bedeutende Rolle gespielt. Das ist gut dokumentiert. Und wer allen Ernstes schreibt "wie Recht Du hast", der sollte lieber ganz still sein. Allerdings, in einem Punkt hat er "ganz Recht": Die österreichischen Reformer wollten und wollen immer noch von Korrekturen nichts wissen, sondern sämtliche Fehler beibehalten.



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Kommentare zu »Der war’s«
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Kommentar von Erwin Ringel: Eine neue Rede über Österr, verfaßt am 05.07.2006 um 20.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=543#4586

Erwin Ringel schrieb am 23.5. 2000 um 13:42:24 Uhr zu
Österreich
Bewertung: 4 Punkt(e)


Eine neue Rede über Österreich

Anton Wildgans’ Rede über Österreich ist das Schönste, was bisher über Österreich gesagt wurde. Frage: Stimmt sie auch? Ich möchte Anton Wildgans gegen Anton Wildgans zitieren, eine Stelle aus seinem Drama „Armut“: „Ich hab’ einmal eine Geschichte gelesen von zweien, die arm und glücklich gewesen, doch die Geschichte — ist nicht wahr.“ Vergessen wir nicht, Anton Wildgans hat diese Rede für das Ausland konzipiert, sie sollte in Stockholm gehalten werden (die Krankheit des Dichters hat es verhindert), war als Visitkarte unseres Landes gedacht, das ist Grund und Entschuldigung genug dafür, daß Kritik in ihr kaum zu Wort kam. Ich hingegen bin aus zwingenden Gründen, die ich noch erläutern werde, entschlossen, meine „neue Rede über Österreich“ vor allem der Kritik des Österreichers zu widmen, woraus schon klar hervorgeht, daß ich nicht bereit wäre, sie in dieser Form auch im Ausland zu halten. Aber hier muß ich so sprechen, um der Wahrheit willen — und noch aus einem anderen Grund: ist doch vor wenigen Wochen einer der letzten Wissenden, Propheten und Mahner dieses Landes, ist doch Friedrich Heer gestorben, seine warnende Stimme für immer verstummt: Ich grüße meinen Freund über das Grab hinaus, widme ihm diese Ansprache und kann nur hoffen, daß sie von seinem Geiste getragen ist.

Am 16.5.1945 — ein interessantes Datum — notiert Heimito von Doderer in sein Notizbuch: „Nationalismus, eine von Sammelnamen besoffene Welt. Daß ich zum Beispiel Österreicher bin, ist mir mit einer solchen Fülle widerwärtigster Individuen gemein, daß ich es mir verbitten möchte, lediglich mit Hilfe jenes Begriffes bestimmt zu werden. Darauf läuft’s aber bestimmt hinaus, je mehr die Anschaulichkeit der Person ins Unbestimmte der Nation verdunstet.“ Dazu zwei Bemerkungen: Liebe Freunde haben für mich einen kleinen Film gedreht, in dem junge Mädchen fröhlich und ausgelassen auf der Strudlhofstiege tanzen (man hat sie während der Dreharbeiten — typisch für Österreich, siehe später — für verrückt gehalten). Dieser Film soll als Symbol dafür erwähnt sein, daß Sie hier gleichsam einen gemilderten Doderer vorfinden werden, keine feindliche Aggression gegen Österreich (im übrigen hat kein geringerer als Friedrich Torberg Doderer als den österreichischsten aller österreichischen Dichter bezeichnet). Ich liebe dieses Land, ich möchte nirgendwo anders leben als hier, dementsprechend wird es eine liebevolle Kritik sein. Aber gerade aus Liebe zu diesem Land müssen wir uns der Wirklichkeit stellen, müssen eine ehrliche Diagnose machen, um Heilung zu ermöglichen, und natürlich, da ich Psychotherapeut und Tiefenpsychologe bin, muß ich diese Diagnose vom Standpunkt meines Berufes abgeben. Noch etwas Zweites: Wenn ich hier vom Österreicher spreche, ist dies nicht verallgemeinernd gemeint. Ich werde Phänomene beschreiben, die hier zwar weit verbreitet, deswegen aber nicht unbedingt ubiquitär sind. Es ist für den einzelnen nicht leicht, sich ihrem Einfluß zu entziehen, aber doch durchaus möglich, dies gebe ich gerne zu, muß aber im Zusammenhang damit gleich die Sorge äußern, daß nun jeder Leser annehmen wird, er sei eben die (gerne) zugestandene Ausnahme von der Regel. Jedenfalls: ich möchte nicht, daß im Guten und im Bösen die Anschaulichkeit der Person im Dunstkreis der „Bestimmtheit“ des Österreichers, wie ich sie hier versuche, verschwindet.

Erste These: Dieses Land ist eine Brutstätte der Neurose (doppelt treffendes Wort, weil diese Krankheit ja in der Kindheit „ausgebrütet“ wird). Neurosen gibt es selbstverständlich überall, aber kaum ein Land, in dem sie so „blüht“ wie hier. Ich will das Verdienst Freuds, dieses einmaligen Genies, wahrlich nicht schmalem, aber es war nicht schwer, in diesem Land die Neurose zu entdecken; ja, bei uns mußte es geschehen, wo denn sonst, weil es hier einem sozusagen in die Augen sprang und man es auf die Dauer nicht übersehen konnte.

Ich weilte gestern in Rom, durfte in der Mittagsstunde diese wunderbare Sonne Italiens genießen, die mich fast zärtlich wärmte und noch heute wärmt. Am Nachmittag hatte ich mit einer Italienerin ein Gespräch: „Das ist ein herrliches Land, euer schönes Italien mit dieser wohltuenden Sommersonne mitten im Herbst.“ Sie antwortete: „Das ist ein herrliches Land, euer schönes Österreich mit seiner großen Ruhe.“ — Und da fiel mir mit Erschrecken gleich ein: „Die Ruhe eines Kirchhofs?“ Wenn man die Kinder in Italien betrachtet, so erkennt man, wie frei sie aufwachsen, wie fröhlich und laut sie sind, so laut sie nur sein können! Niemand fühlt sich dadurch gestört, niemand ruft: „Ich will meine Ruhe haben! „ im Gegenteil, alle wären beunruhigt, würden die Kinder plötzlich verstummen! Die drei Zauberworte regieren — und ich wähle sie hier absichtlich wegen ihrer eigentlichen sprachlichen Bedeutung: unbefangen, ungezwungen, ausgelassen. Bei uns ist das Gegenteil der Fall: die Kinder sind still, gefangen, gezwungen, man „läßt sie nicht aus“. Wiederholte Umfragen haben ergeben, daß die drei wichtigsten Erziehungsziele des Österreichers lauten: Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit — von da kommt die Bereitschaft des Österreichers zu „devotem Dienen“, mehr noch zu „vorauseilendem Gehorsam“, d. h. Befehle, noch ehe sie ausgesprochen, zu erahnen und zu erfüllen — das Wort „Glück-lich-Sein scheint gar nicht auf. Kinder werden eingeschränkt, eingeengt, dürfen keine Eigenexistenz führen, sind Werkzeuge, mit denen die Eltern ihre eigenen Ziele erreichen wollen. Vergeblich das Wort unseres großen Anton Wildgans: „Wer bist Du, daß Du nicht das Knie zu beugen brauchtest vor dem neuen Menschen?“ Es ereignete sich in diesem Lande, daß Kafka die sogenannte Elternliebe als Eigennutz bezeichnete, in diesem Lande auch hat Franz Innerhofer die Situation des Kindes als „Leibeigenschaft“ klassifiziert und hinzugefügt, daß die kindlichen Abhängigkeitsverhältnisse hier von zeitloser Archaik bestimmt seien. In weiten Teilen unseres Landes wird bis zum heutigen Tage nach dem Familiennamen eines Kindes mit den Worten gefragt: „Wem gehörst denn du?“ Allein im vergangenen Jahr ist die Mißhandlung von 75.000 Kindern so intensiv gewesen, daß sie nicht verheimlicht werden konnte. 100 sind an den Folgen einer solchen „Behandlung“ gestorben, ein Beweis dafür, daß die Eltern den Körper des Kindes als ihren Besitz betrachten, über den sie nach „Belieben“ (ein schreckliches Wort in diesem Zusammenhang) verfügen können. Man möchte an dieser Stelle am liebsten auch das Wort „Seeleneigenschaft“ erfinden, weil ja in diesem Prozeß nicht nur der Leib, sondern auch die Seele des Kindes als Besitz der Eltern aufgefaßt wird. Und, um die Bedeutung des neuen Begriffes ganz auszuloten: Wenn die Seele einem anderen gehört, kann sie sich nicht nach eigenen Gesetzen entwikkeln, sondern muß von anderen gewünschte Eigenschaften annehmen und daher Schaden nehmen. Selbst dann noch, wenn Eltern dieses krankmachende Verhalten aufgeben, geschieht gewöhnlich Unglück: denn dann verfallen sie ins gegenteilige Extrem, kümmern sich überhaupt nicht mehr seelisch um ihre Kinder und überlassen sie damit konzeptlos und angsterfüllt ihrem Schicksal.

So wird die Kindheit, von der Turrini gesagt hat, daß sie ein schreckliches Reich sei, hier zur Geburtsstunde der Neurose; zur Liebe, mit der sich das kleine Lebewesen in den Schutz des großen zu begeben versucht, gesellt sich der Haß, die Einheit des Gefühlslebens ist zerstört, ein Riß geht mitten durch die Person, das gleichzeitige Bestehen von Ja und Nein, das wir Ambivalenz nennen und als erstes schreckliches Symptom der Krankheit Neurose bezeichnen müssen.

Nun höre ich schon den Einwand, der immer laut wird, wenn ich versuche, die Wahrheit zu sagen: Der Ringel übertreibt wieder maßlos. Sicher, es wachsen hier auch gesunde Kinder heran, es wäre ja entsetzlich, wenn es das gar nicht mehr gäbe! Aber die Mehrzahl wird in der Lebensentfaltung und -gestaltung behindert, ja oft zerstört, es resultieren gequälte, gedemütigte, gebrochene Menschen, deren Lebensfreude erlischt. Und wenn Sie’s nicht glauben, so will ich es Ihnen an einem Punkt beweisen: der Österreicher ist durch nichts so leicht zu fangen, als wenn man ihm sagt: „Du bist ein ungerecht Behandelter, ein Getretener und Unterdrückter, ich aber werde kommen und dich aus dieser Not und aus diesem Elend befreien! „ Da fühlen sich alle mit einem Male angesprochen, weil sie dieses Gefühl seit der Kindheit — bewußt oder unbewußt -mit sich schleppen. Mit dieser „Masche“ hat es schon der Hitler geschafft: der kleine, unbekannte Gefreite, von allen verkannt und verstoßen, das ideale Identifikationsobjekt für den gedemütigten und sich getreten fühlenden Österreicher; so war er imstande, wie der Rattenfänger von Hameln die Leute hinter sich zu versammeln. So war es aber auch mit Karl Schranz: Wir haben ja mit diesem Schimatador noch einmal eine Massenhysterie erlebt -wieder am Heldenplatz. Um sie auszulösen, genügte die Annahme, daß ihm mit dem Ausschluß von den olympischen Spielen in Japan ein schweres Unrecht geschehen sei. Die Menge rottete sich zusammen, aus vernünftigen Menschen formte sich eine Masse, die blindlings den Gesetzen der Irrationalität erlag. Man weigerte sich Mautners Senf zu kaufen, weil dieser mit dem Präsidenten des olympischen Komitees sympathisierte, verfolgte und verprügelte Andersdenkende. Von der aus dem Boden gestampften Schallplatte: „Vom Bodensee bis Wien stehen wir alle ,im Geist’ auf den Schiern“ (von mir deswegen als neues „Horst-Wessel-Lied bezeichnet), einem lächerlichen Machwerk, wurden in einer Woche weit mehr als 50.000 Exemplare (!) verkauft. Ich werde im Verlaufe meiner Ausführungen noch weitere Beweise für meine Feststellungen erbringen, ich befürchte alles in allem, daß die Dinge vielfach noch schlimmer liegen, als selbst ich sie sehe.

Zweite These: Der durch die Neurotisierung entstandene Haß gegen die Eltern darf nicht ausgedrückt werden. Die Kinder sind ja von ihnen abhängig, und das Gewissen verbietet andere kindliche Gefühle als Liebe. Die Eltern ihrerseits neurotisieren nicht nur, sondern sie wünschen auch, daß die Kinder mit ihrem Schicksal zufrieden sind, alles akzeptieren und kein Symptom des Protestes zeigen. Da haben wir also eine Fülle von Gründen dafür, warum das Kind lernt, die negativen Erlebnisse und die daraus resultierende Erbitterung ins Unbewußte zu verdrängen. So verläßt sein Nein als devotes Ja den Bereich des Mundes, so wird es ihm unmöglich, die Wahrheit zu sagen, wenn es gelernt hat, mit der Höflichkeit zu überleben (um nochmals Peter Turrini zu zitieren). Alice Miller hat ihren zwei grundlegenden Werken „Die Tragödie des begabten Kindes“ und „Im Anfang war Erziehung“ ein nicht minder bedeutendes drittes unter dem Titel „Du sollst nicht merken“ folgen lassen. Die Parole der Eltern lautet: „Vergiß alles Unangenehme, das dir widerfahren ist solange, bis du überzeugt bist, eine wunderbare, eine ‚märchenhafte‘ (sind Märchen nicht Lügen?) Kindheit gehabt zu haben.“ Mir fällt das Lied aus der Fledermaus ein: „Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist.“ Man könnte dies als die heimliche Hymne des Österreichers bezeichnen. (Ich darf bei dieser Gelegenheit mein tiefes Bedauern darüber äußern, daß uns die ehrwürdige Haydn-Melodie die selbst das Jahr 1918 überstanden hat, 1945 „abhanden“ gekommen ist, nur weil sie von Deutschland jahrzehntelang mit einem aggressiven Text mißbraucht worden war!) Vergessen, verdrängen bedeutet aber resignieren; nur Bewußtes kann verändert werden, Unbewußtes natürlich nicht. Und so werden durchaus revidierbare Dinge erst durch Verdrängung unveränderbar, wir müßten also singen: „Unglücklich ist, wer vergißt, was dann nicht zu ändern ist!“

Was wir nun in der Kindheit so „gut“ und intensiv gelernt haben, nämlich das Verdrängen, das setzen wir später konsequent fort, so daß man uns geradezu eine „ Verdrängungsgesellschaft“ nennen könnte. Bevor ich aber darauf näher eingehe, möchte ich gerade jetzt nochmals darauf hinweisen, daß ich diesen Vortrag keineswegs aus einer anklagenden Position halte, sondern vielmehr aus einer klagenden. Ich versuche ja zu verstehen, wieso es mit den Österreichern „so weit“ gekommen ist, was freilich nicht bedeuten kann, alles zu verzeihen, aber doch von einer pauschalen Verurteilung abhält. Ich brauche nur an mich selber zu denken: Wenn ich in manchen Punkten das Glück hatte, mich nicht so zu entwickeln, wie ich es hier als typisch „österreichisch“ schildere, so verdanke ich das einer einmalig schönen, wunderbaren Kindheit, die in mir noch bis zu dem heutigen Tage nachwirkt; weil ich damals Liebe erfahren durfte, konnte ich dem Prinzip der Liebe treu bleiben, Unmenschlichkeit zurückweisen, Zuwendung ausstrahlen, als was ich meine Existenz bis zum heutigen Tage auffasse. Wer kann garantieren, daß es mit mir unter anderen Umständen nicht auch ganz anders hätte kommen können?

Wie dem auch sei, ich komme zu unserer Vorliebe für die Verdrängung zurück und behaupte, daß wir uns größtenteils nicht kennen, nicht kennen wollen. Nicht zufällig war es ein Österreicher, Ferdinand Raimund, der in seinem „Alpenkönig und Menschenfeind“ formulierte „Du begehst die größte Sünde, die es gibt: du kennst dich selber nicht!“. — Viele Beispiele ließen sich dafür anführen, keines aber liegt mir so sehr am Herzen, wie die Art, mit der wir die Zeit zwischen 1938 und 1945 behandeln. Was haben wir gemacht in diesen sieben Jahren, die heute plötzlich im Geschichtsunterricht gar nicht mehr existieren, weil sie uns peinlich sind? Ja sicher, politisch gesehen sind wir das erste Opfer Hitlers gewesen, so wie es die Moskauer Deklaration lehrt. Aber wie war es denn menschlich? Haben wir uns da wirklich als Opfer gefühlt? Ich erinnere mich der Stunde, als der damalige Unterrichtsminister und heutige Bundeskanzler Fred Sinowatz bei der Ehrung, die dieser ganz großartigen Dorothea Neff im Akademietheater dafür zuteil wurde, daß sie viele Jahre eine Jüdin in ihrer Wohnung versteckt hatte, folgende Sätze formulierte: „Nachher haben alle gesagt, ,ich habe ja nichts getan!’ Und Sie wissen gar nicht, welche Selbstanklage in diesem Satz eigentlich enthalten ist! Wir haben nichts getan, wo Menschen verfolgt worden sind, wir haben nicht geholfen, haben weggeschaut, haben es geduldet, sind still geblieben.“ Ich zitiere Friedrich Torberg: „Bruder, hättest manche können retten, und nun sind sie tot, Bruder, ach, du hättest müssen wachen, und du hast geträumt, hättest müssen rasche Schritte machen, und du hast gesäumt.“ — Ja, wir haben vieles nicht getan, was wir hätten tun müssen. Aber es ist damit noch nicht abgetan. Wir haben vieles getan, ganz aktiv getan, was wir niemals hätten tun dürfen. Der Herr Vizekanzler Steger hat vor kurzem gesagt, Mauthausen sei eigentlich gar kein so schlimmes Konzentrationslager gewesen, eine Art österreichische, d.h. bescheidenere Dimension des Unheils, gemessen an Auschwitz. Ich muß leider entgegnen, daß man bei den entscheidenden Männern des nationalsozialistischen Reiches, vom „Führer“ angefangen bis hin zu Schreckensnamen wie Eichmann, Kaltenbrunner, Seyß-Inquart usw., in einer erschütternden Weise immer wieder auf Österreich stößt. Wir haben uns also keineswegs in einer kleinen Dimension beteiligt, sondern mitunter sogar in einer wesentlich größeren Dimension als die im sogenannten „Altreich“. — Das muß endlich einmal ehrlich ausgesprochen werden. Auch damit aber noch nicht genug: Die Österreicher haben vielfach in Hitlers Heer nicht nur gezwungen gedient, sondern mit einer Leidenschaft — und ich zögere gar nicht, das auszusprechen -, mit einer Tapferkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wären. Wir haben damit einen Beitrag dazu geleistet, daß dieses Regime sich über weite Teile Europas ausbreiten, seinen Untergang um Jahre hinausschieben und in all diesen Ländern und in dieser ganzen Zeit ungezählte unschuldige Opfer vernichten konnte! Das war mit unser Werk, daran haben wir außer Zweifel teilgehabt. So weit, so schlecht. Aber wie sehen wir die Sache heute? Viele sagen: Wir sind auf der falschen Seite gestanden; damit ist aber nicht gemeint, daß wir auf der moralisch falschen Seite, sondern auf der Seite gekämpft haben, die den Krieg verloren hat. — Ich erinnere mich an eine Diskussion über Stalingrad im Club 2, wo eine Dame gesagt hat: „Ja bei Stalingrad, da habe ich zum ersten Mal begriffen, daß es ein böser Krieg ist.“ Und auf die Frage des Tass-Korrespondenten„Früher haben Sie das nicht entdeckt?“ antwortete sie: „Nein, damals haben wir ja gewonnen, da hat sich der Krieg in fremdem Land abgespielt, aber jetzt kam er unbarmherzig zu uns, und da hab’ ich auf einmal verstanden, daß das ein schlechter, ein böser Krieg ist.“ Viele Österreicher werfen bis heute Hitler vor allem vor, daß er sich auf längere Sicht nicht als größter Feldherr aller Zeiten erwiesen und den Krieg verloren hat. Ich will gar nicht darüber nachdenken, was die Österreicher heute sagen würden, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte — das wage ich nicht mir auszumalen, ich muß es der Phantasie jedes einzelnen überlassen.

Alexander Mitscherlich hat das große Buch geschrieben: „Die Unfähigkeit zu trauern.“ Betrifft die Unfähigkeit, die eigene Schuld einzugestehen und sie damit zu verarbeiten (Trauerarbeit), wirklich nur die Bundesrepublik, betrifft sie nicht ganz genauso auch Österreich? Als ich zum 60. Geburtstag von Mitscherlich die Laudatio im Rundfunk halten durfte und törichterweise bereit war, sie schon vorher auf Band aufnehmen zu lassen, mußte ich zu meinem Entsetzen feststellen, daß gerade die Passage, wo ich auf die Mitschuld Österreichs hingewiesen hatte, einer Streichung zum Opfer gefallen war. Zufall war dies wohl kaum, vielmehr ein Beweis mehr dafür, wie intensiv der Verdrängungswunsch ist und daß er sich (heute mehr denn je) auch auf Menschen in sehr einflußreicher Position stützen kann, auf die „Verlaß“ ist.

Noch eine Bemerkung: Kann man im Begriff der Kollektivschuld untertauchen, der persönlichen Verantwortung damit entkommen? Wenn man bereit ist, sich einem Kollektiv einzuordnen, welches dem Gesetz der Massenpsychologie unterliegt, wo man also andere für sich selber denken läßt und nur Befehle ausführt, so bleibt man doch verantwortlich dafür, daß man sich zu einem Mitglied einer solchen Pseudogemeinschaft hat machen lassen. Es gibt also keine Kollektivschuld, sondern nur eine Schuld einzelner, die das Kollektiv bildeten.

Ich sage das alles nicht zum Anklagen, nicht, um Gerichte zu konstituieren, Schuldsprüche und Rache zu verlangen, Menschen aufzufordern als Büßer in Sack und Asche herumzugehen! Das kann niemand wollen, dem an Österreichs Zukunft etwas gelegen ist. Was wir wollen, ist vielmehr echte Versöhnung! Vor einiger Zeit hat ein Politiker der Freiheitlichen Partei Österreichs die Ansicht vertreten, es sei Beweis genug für die Versöhnungsgesinnung dieser Partei, wenn nun eines ihrer prominentesten Mitglieder bereit sei, den Posten eines dritten Nationalratspräsidenten anzunehmen, es enthalte ja ein Bekenntnis zu Österreich. Dies ist — ich möchte es mit größtem Nachdruck betonen — nicht die Art der Versöhnung, die ich mir vorstelle. Ich sprach von einer Versöhnung, die auf Einsicht beruht, auf einer Erkenntnis, auf dem Bekenntnis: Das habe ich falsch gemacht. Der schon zitierte Mitscherlich hat einmal gesagt: „Identität haben, d.h. die tausend Irrtümer einzugestehen, die man im Verlauf seines Lebens durchgemacht hat, da, dort und dann; denn unser Leben ist eine Kette, eine Aneinanderreihung von Irrtümern, von Fehlern.“ Errare humanum est. Das Menschliche ist das Irren, aber es hat nur dann einen Sinn, wenn wir unsere Irrtümer erkennen, nur so können wir durch Schaden klug werden und nur so kann es uns helfen, unsere Identität zu finden. Und da bin ich bei der Feststellung, daß natürlich unsere Vergangenheitsbewältigung entscheidend ist für die Beziehung der älteren Generation zu der Jugend, um die es mir ganz besonders geht. Wenn auf die schicksalhafte Frage: „Wie war eine solche Unmenschlichkeit möglich?“, die Eltern antworten: „Ja, wir haben das falsch gemacht“, dann würden sie in den Augen der Jugend sicher nicht verlieren, sondern ganz im Gegenteil gewinnen. Vor einigen Tagen wurde im Femsehen ein Portrait von Hilde Krahl, der berühmten Schauspielerin, gezeigt. Ganz vorsichtig und behutsam hat der Reporter sich vorgetastet: „Gnädige Frau, Sie haben doch Karriere gemacht in diesen sieben Jahren, in dieser schrecklichen Zeit. Sie waren mit so vielen Juden befreundet, haben den Nationalsozialismus sicherlich abgelehnt, haben Sie da nicht mitunter bei dieser Karriere ein schlechtes Gefühl gehabt?“ Und ohne jedes Zögern antwortete Hilde Krahl mit jener Aufrichtigkeit, die uns allen gut anstünde und die uns weiter brächte: „Ja, sehen Sie, das war wirklich schrecklich. Ich hab’ nur immer gedacht, mach den nächsten Film und wieder den nächsten, dann bekommst du Geld und kannst mit deinen Angehörigen der sozialen Enge entkommen. Und dafür, daß ich das damals gedacht habe, daß ich nicht das einzige getan habe, was ich hätte tun müssen, nämlich wegzugehen, dafür schäme ich mich heute noch immer aufs neue.“ Ich zögere nicht zu bekennen, daß ich da am liebsten aufgesprungen wäre, um diese wunderbare Frau zu umarmen, und möchte, dieses Thema abschließend, noch darauf hinweisen, daß uns nicht mehr viel Zeit bleibt, die notwendige Vergangenheitsbewältigung durchzuführen. Über kurz oder lang wird die betroffene Generation nicht mehr am Leben sein, und aus der psychotherapeutischen Erfahrung wissen wir, daß der Tod ein schlechter Löser von Problemen ist.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas über die Sprache des Österreichers sagen: Er hat sie zunehmend in den Dienst der Verdrängung gestellt, und insofern ist die Feststellung Helmut Eisendles: „Österreich ist seine Sprache“, zutreffend. Der Außenminister Frankreichs, Talleyrand, ein großartiger Diplomat, hat einmal gesagt: „Worte sind dazu da, die Gedanken zu verbergen.“ Was in der Politik sinnvoll sein mag, ist aber für das menschliche Zusammenleben eine Katastrophe. Trotzdem haben wir uns eine Sprache angewöhnt, die aus Phrasen und Formeln besteht und die Perpetuierung des spanischen Hofzeremoniells im Rhetorischen bedeutet (es gibt namhafte Forscher, welche die bis zum heutigen Tage anhaltend hohen Suizidraten in den ehemaligen Teilen der Österreich-ungarischen Monarchie damit in Zusammenhang bringen -Sprachverarmung ist immer mit erhöhter Selbstmordgefahr verbunden!). Jedenfalls haben wir zu reden gelernt, ohne Gefühle äußern zu dürfen (zu müssen), und damit verlernt, sie ausdrücken zu können, wir verstecken uns also vor den anderen. Sprachnot hat in diesem Sinne Entfremdung und Isolation zur Folge. Nach neuesten Ergebnissen treffen vier von zehn Erwachsenen in Österreich nur ein bis drei Bekannte pro Monat! 1,4 Millionen Österreicher haben in normalen Monaten (außerhalb der Arbeit) praktisch gar keinen Kontakt zu Freunden. Ehepaare sprechen im Durchschnitt 7 Minuten pro Tag miteinander (!). Vielen Betroffenen bleibt nichts anders übrig als zu „verstummen“, „alles in sich hineinzufressen“, wie sie sagen, was vor allem psychosomatische Erkrankungen zur Folge hat, manche ersticken im übertragenen Sinn an ihrem unbewältigten, nicht entäußerbaren Gefühl. Es darf in diesem Zusammenhang nicht der fast übermenschliche Versuch von Karl Kraus vergessen werden, der österreichischen Sprache — ich darf diesen Ausdruck gerade im Zeichen dieses großen Verkünders verwenden, der gesagt hat: „die gleiche Sprache ist es, die den Österreicher von den Deutschen unterscheidet“ — wieder ihren Wert zurückzugeben und sie zur Grundlage einer aufrichtigen und wahrhaft menschlichen Kommunikation zu machen: Er wurde in der Umgangssprache ebenso zu Fall gebracht, wie sein Schöpfer ein typisches österreichisches „Mahner-Schicksal erlitten hat.

Dritte These: Damit sind wir bei einem wichtigen Punkt: die Verdränger haben vor niemandem so große Angst wie vor denjenigen, die kommen und versuchen, diese Verdrängung aufzuheben. Darum sind die Mahner, die Aufdecker, die Wahrheitssucher, die Propheten in diesem Lande nicht erwünscht. Ich komme zurück auf die Rede von Anton Wildgans: Dort zählt er eine Reihe großer Namen auf, die den Ruhm unseres Vaterlandes ausmachen. Man darf aber nicht fragen, unter welchen Bedingungen die meisten von ihnen hier leben mußten, unter welchen Umständen sie gestorben sind. Man wird unwillkürlich an den Mahlerschen Ausspruch erinnert: „Muß man denn hier immer erst tot sein, damit sie einen leben lassen?“ Die gute Nachrede setzt jedenfalls immer erst
nach dem Tode ein, zu Lebzeiten erscheint die Größe, nach dem Ausspruch Grillparzers — der es am eigenen Leibe erfuhr — gefährlich und wird erbittert bekämpft. Es ließe sich ein Schattenzug zusammenstellen tragischer Art, um dies zu beweisen. Ich will nur ein paar Beispiele bringen, die mir so besonders wichtig sind in unseren Tagen. Zuerst einmal Gustav Mahler, den man mit Intrigen aus der Staatsoper verjagt hat, als deren Direktor er durch zehn Jahre Maßstäbe gesetzt hat, die bis zum heutigen Tage nicht erreicht worden sind — er mußte die Flucht in die Fremde antreten. „Leb wohl!“ — die Worte, die er so oft auf die Partitur seiner „Zehnten“ geschrieben hat, in Verzweiflung — es stellte sich für ihn und viele andere Bedeutende heraus: Man kann hier nicht Wohlleben, wenn man ein Prophet ist. Das „Leb wohl!“ bekommt dann die andere Bedeutung „Adieu, weg, fort mit dir!“. Und ein Prophet war er; seine Musik erschaute den bevorstehenden Untergang, während die anderen nichts ahnend blind in den Abgrund tanzten.

Es ist von unheimlich logischer Konsequenz, daß die Großverdränger in Österreich diejenigen am intensivsten ablehnen, welche zuerst den Mechanismus der Verdrängung durchschauten und bis heute und wohl zeitlos gültige Wege zu ihrer Aufhebung gewiesen haben: Sigmund Freud und Alfred Adler. Wohin kämen wir, wenn wir die Wahrheit über uns zuließen? Das darf unter keinen Umständen geschehen. Und deshalb werden den beiden Ansichten unterstellt, die sie nie gehabt haben (Wille zur Lust, Wille zur Macht), die dann aber ihre Negation geradezu zur selbstverständlichen Pflicht machen. Wildgans in der Rede über Österreich wörtlich: „Der Österreicher ist von Geburt Psychologe, und Psychologie ist alles.“ Frage: Ist der Österreicher wirklich Psychologe? Ist ihm die Psychologie alles? Welche Aufnahme ließ dieser Österreicher Sig-mund Freud und Alfred Adler zuteil werden, wie hat er die Gnade, solche Genies der Psychologie Mitbürger nennen zu dürfen, zu schätzen gewußt? Als Freud von Amerika triumphierend zurückkam, meinte er: „Drüben verstehen sie mich falsch“, — ein prophetisches Wort — „aber hier lehnen sie mich aus tiefster Seele ab.“ So ist es im Grunde bis zum heutigen Tage geblieben. Es existiert in Wien z.B. zweimal eine Hansi-Niese-Gasse ich bin ein Opfer davon, weil ich in der einen wohne, und viele Menschen verirren sich zuerst in den 13. Bezirk, um dann nach einer Stunde mühsam bei mir zu landen — derselben Hansi Niese gewidmet, der Karl Kraus in den „letzten Tagen der Menschheit“ als Kriegsverherrlicherin ein so unrühmliches Denkmal gesetzt hat. Vergeblich wird man aber in der Stadt eine Straße, einen Platz suchen, der nach Freud oder nach Adler benannt ist. Mühsam müssen sich Amerikaner zur Berggasse 19 durchfragen, oft ist es ihr wichtigstes Ziel in Wien und sie können es nicht fassen, daß der große Mann hier totgeschwiegen wird. Aber lassen wir jetzt die Spielereien mit den Straßen, denn das sind ja nur Kleinigkeiten, freilich symbolträchtige. Schlimm ist schon, daß ein Denkmal, das im Hotel Bellevue daran erinnert, daß dort dem „Doktor Freud sich das Geheimnis des menschlichen Traumes enthüllte“, verwüstet wurde, am schlimmsten aber, daß man hier heute so lebt, als hätte Freud nie gelebt! Das ist das Entscheidende: Man kehrt in die vor-freudsche Zeit zurück, man verdrängt, huldigt einer Oberflächenpsychologie, betreibt jene Bewußtseinsverengung, von der gerade Freud gesagt hat, daß sie eine Vorstufe des Unterganges ist. Und Alfred Adler? Man hat das Wort „Minderwertigkeitskomplex“ von Adler losgetrennt, es gehört der Allgemeinheit, ist gleichsam zum Volkslied geworden. Man könnte das begrüßen, es als Zeichen großer Popularität werten, wenn nicht eine Absicht dahinterstünde, die man merkt und einen mehr als verstimmt, nämlich den Erfinder in der Versenkung des Vergessens verschwinden zu lassen. Und das in einem Lande, dessen Bewohner ständig zwischen rührseliger Unterschätzung und grenzenlosen Grandiositätsgefühlen hin und her schwanken! Zu Lebzeiten ist Freud niemals Ordinarius in Österreich geworden (Stefan Zweig: „Nun sind Sie ein außerordentlicher Professor unter so vielen ordentlichen!"), Adler hat man gar die Habilitation verweigert. Und heute? Nur mit Mühe und unter besonderem Druck ist endlich ein Lehrstuhl für Tiefenpsychologie geschaffen worden. Bis zum heutigen Tage wird Psychotherapie von den Krankenkassen kaum bezahlt, gibt es in weiten Landstrichen Österreichs keine Möglichkeit, diese Behandlung zu erhalten. Mit Recht hat Julia Schmidt die Vermutung geäußert, die meisten Österreicher wüßten gar nicht, was Psychotherapie ist, nicht zuletzt deswegen, weil es sich um eine „österreichische Erfindung“ handelt. Noch jetzt gehen Menschen, die eine Psychotherapie benötigen, möglichst heimlich zu ihrem Therapeuten. Es gilt als Zeichen der Schwäche, wenn man in seelischen Schwierigkeiten Hilfe benötigt, bei Christen wird es als Symptom mangelnden Glaubens gewertet, denn wer auf Gott vertraut, kann die Behandlung des Seelenarztes leicht entbehren! An dieser Stelle muß einbekannt werden, daß das „natürlich“ auch ganz wesentlich mit dem heute hier immer noch lebendigen Antisemitismus zu tun hat, der geradezu als ein Charakteristikum des Österreichers zu bezeichnen ist: Nicht zufällig fallt die Verschärfung der nationalsozialistischen antisemitischen Maßnahmen genau mit dem „Eintritt Österreichs in das großdeutsche Reich“ zusammen. Mahler, Kraus, Freud, Adler, die Liste ließe sich endlos fortsetzen — ja es ist nun einmal so, daß aus diesem Volk ganz besondere Entdecker, Pioniere und Mahner hervorgingen und noch hervorgehen. Und es ist eben so, daß das Neid erzeugt: „Warum sind die und nicht wir die erste Liebe Gottes gewesen?“ Und es ist eben so, daß bis zum heutigen Tag der christliche Antisemitismus, der die Wurzel des Hitlerschen Antisemitismus war — wie Heer nachgewiesen hat -, nicht überwunden erscheint. Das geht so weit, daß, wenn einer für die Juden eintritt, man sofort sagt — ich weiß davon ein Lied zu singen — „Der muß selber ein Jud’ sein, sicher, den einen oder anderen Tropfen jüdischen Blutes wird er schon in sich haben.“ Ich habe bei einer Gelegenheit einmal geantwortet: „Ich kann nicht damit dienen, aber ich wäre sehr stolz, diesem Stamme anzugehören, aus dem so viele große Mensehen gekommen sind.“

Darf ich zum Abschluß dieser These noch einmal auf Friedrich Heer zurückkommen. Wenn man ihn in der letzten Zeit besucht hat, konnte man ihn sagen hören: „Schaut mich an, ich bin ein Sterbender, ich sterbe schon seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren. Erschreckt nicht, mein Sterben ist ein Teil des Lebens. Ich genieße dieses Sterben! Und seid nicht traurig, denn es gehört zu mir.“ Und manchmal fügte er hinzu: „Und wenn ihr wissen wollt, woran ich sterbe, dann sage ich euch, ich sterbe an Österreich, wir alle sterben an Österreich“, und verstummte. Wir alle sterben an Österreich. Ich glaube, es ziemt sich hier, wo wir an diesem Abend ganz besonders natürlich auch an Anton Wildgans denken, zu sagen, daß auch Anton Wildgans zweifellos an Österreich gestorben ist. Er hat genau dieses österreichische Schicksal erlitten, das er so präzise beschrieben hat. „Dieses Schicksal bedeutet, zu viel Energie aufwenden müssen, um eine Sache durchzusetzen, sie als notwendig den Maßgeblichen begreiflich zu machen, so daß Müdigkeit eingetreten ist, bevor die endlich durchgesetzte Sache durchgeführt werden darf.“

Wie intensiv sind die autobiographischen Züge im folgenden Gedicht:

Vieles magst Du an uns verschwenden
Alles verweht
Immer kommst Du mit Deinen Spenden
Leben, zu spät.

Nahmen wir doch in schaffenden Träumen
Alles bereits
Längst vorweg deinem kleinlichen Säumen
und deinem Geiz.

Müde sind wir, eh wir gefunden
Spuren des Lichtes
Außer jenen träumenden Stunden
Haben wir nichts.

Es scheint mir für viele Österreicher geschrieben zu sein.

Vierte These: Ich habe gesprochen über die Neurotisierung, über die Verdrängung, über die Unterdrückung und Abschiebung der Aufdecker. Ich möchte jetzt über ein Symptom sprechen, das ich schon als Symptom jeder Neurose erwähnte, nämlich die Ambivalenz. Neurotisiert werden heißt, einen Menschen zugleich zu lieben und zu hassen, eine unheimliche Strukturierung des menschlichen Gefühlslebens. Es gibt in Holland einen Komponisten, Bernard van Beurden, der zur Eröffnung des Steirischen Herbstes 1979 eine Symphonie geschrieben und bei dieser Gelegenheit etwas sehr Interessantes über die Bewohner unseres Landes gesagt hat: „Der Österreicher hat eine Zweizimmerwohnung. Das eine Zimmer ist hell, freundlich, die ,schöne Stube‘, gut eingerichtet, dort empfängt er die Gäste. Das andere Zimmer ist abgedunkelt, finster, verriegelt, unzugänglich, völlig unergründlich.“

Ich verdanke Wendelin Schmidt-Dengler den Hinweis auf zwei ähnliche Stellen in der österreichischen Literatur.

In Grillparzers „Der arme Spielmann“ (l 848) beschreibt der Erzähler den Raum des unglücklichen Geigers, den dieser mit einem Handwerker teilen muß. „Der arme Spielmann hat seinen Teil von dem des Mitbewohners durch einen Kreidestrich getrennt, wodurch auf seiner Seite Ordnung, ja Pedanterie, auf der anderen Seite Unordnung und Chaos sichtbar werden.“ Die Hauptfigur in Woifgrubers Roman „Verlauf eines Sommers“ (1981), Martin Lenau, erinnert sich an seine Kindheit: „Den ordentlich verwalteten Teil seines Zimmers hat er von dem Durcheinander seines Bruders durch einen Kreidestrich getrennt.“ In beiden Fällen der „Äquator einer Welt im kleinen“ (Grillparzer).

Schmidt-Dengler meint, daß damit Ordnung und Anarchie einander gegenübergestellt seien — ich finde damit jedenfalls das Bild Beurdens bestätigt, das mich fasziniert und von dem ich überzeugt bin, daß es die Ambivalenz ebenso ausdrückt wie den Gegensatz zwischen Bewußt und Unbewußt. Da ist auf der einen Seite die Höflichkeit, diese Freundlichkeit, die zur Scheinfreundlichkeit, oder, wenn ich dieses Wort verwenden darf, zur Scheißfreundlichkeit wird, ein „Entgegenkommen“, das sich als ungedeckter Wechsel entpuppt. Hier wird dir alles versprochen, du betrittst das (erste) Zimmer, Hoffnungen werden genährt, aber wenn du weg bist, bist du nicht mehr vorhanden, denkt der Mensch nicht daran, auch nur den kleinen Finger für dich zu rühren. „Groß ist das Wort und klein ist der Sinn“, sagt mein Freund Georg Kreisler, auch ein Vertriebener, nicht gewünscht in Österreich, weil er die Menschen ihr eigenes Bild im Spiegel sehen ließ, ein schweres Vergehen; heute will er hier nicht mehr auftreten. Und Peter Handke, der im „Wunschlosen Unglück“ den tragischen Weg seiner Mutter in den Selbstmord beschreibt, kommentiert: „Es brauchte nur jemand mit dem kleinen Finger zu winken, und sie wäre auf den richtigen Gedanken gekommen.“ Und fügte resignierend hinzu: „hätte, wäre, würde.“.

Ich glaube, daß für die hohe Suizidrate des Österreichers dieses Wechselbad, dieses (wenn man ahnungslos ist) Glauben und Vertrauen und alles Erwarten, und dann in einen umso schrecklicheren, tieferen Abgrund Fallen, in dieses finstere Loch der Enttäuschung und des Im-Stiche-gelassen-Werdens wenn Sie so wollen, in das zweite Zimmer, wesentlich mitverantwortlich ist. Und auch die Sprache des Österreichers kennt diese zwei Zimmer. Wenn es im österreichischen Lied von Wildgans heißt „einfach und echt von Wort, wohnen die Menschen dort“, so bekommt das heute für mich einen ganz anderen Sinn. „Echt von Wort“ heißt: „Es ist uns echt nicht zu trauen.“ Nicht zufällig bekommt hier der Satz: „Ich werde Dir schon helfen“ eine zweite Bedeutung — nämlich eine drohende. Und „einfach wohnen die Menschen dort“ erinnert eben an „die Zweizimmerwohnung, die wir haben“. In den unterdrückten, frustrierten Menschen, in denen diese Verzweiflung in der Kindheit erzeugt wurde, da lauert natürlich ein Haß. Er wird lange Zeit im zweiten Zimmer sorgfältig eingeschlossen und versteckt, aber er kann bei irgendeinem Anlaß verhängnisvoll ausbrechen. Wie oft erschrecken dann Menschen über sich selber und sagen: „Ich habe gar nicht geahnt, daß solche böse Dinge in mir drinnen sind.“ Da tritt zum Beispiel dieser Neid hervor, wenn dem anderen irgend etwas gelingt: „…da ist der allerärmste Mann dem ändern viel zu reich“. Wenn einer irgendeine Entdeckung macht, ist der erste Gedanke „Wieso ist das nicht mir eingefallen?“ und“Wenn’s einem anderen gelungen ist, dann darf das einfach nichts wert sein.“ Die erste Herzoperation wird in Österreich erfolgreich durchgeführt — da steht schon am Tag vorher in der Zeitung, daß sie unüberlegt, viel zu früh aufs Programm gesetzt wurde, die Neidgenossenschaft tritt voll in Aktion.

Im „zweiten Zimmer“ finden sich aber nicht nur Neid und Haß, sondern auch Unsicherheit und Angst. Es ist ganz unfaßbar — selbst der Psychiater, der an vieles gewöhnt ist, vermag es kaum zu glauben -, welche Ängste hier weitverbreitet sind. Jeder fürchtet jeden, hält ihn für einen Konkurrenten, einen potentiellen Feind, man beobachtet einander mißtrauisch, stellt gleichsam schon weit draußen, im Vorfeld der Begegnung, Horchposten aus, jedes Gerücht über angeblich böse Absichten des anderen, und sei es auch noch so abstrus, wird geglaubt. Im Grunde sind das alles Folgen der mißglückten Eltem-Kind-Beziehung eine Welt bricht zusammen, wenn das Vertrauen zu den Eltern verlorengeht. Und weil ich bei der Angst bin, so möchte ich daran erinnern, wie leicht diese Angst wiederum zum Haß wird, z.B. zum Haß gegen alles Fremde. -Ja die Österreicher verlangen in Südtirol zweisprachige Ortstafeln und Gleichberechtigung für die Minderheit. Aber was tun denn wir mit unseren Minderheiten? Dort stürmen und zerstören wir zuerst einmal die zweisprachigen Ortsbezeichnungen. Nun stehen sie zwar, aber verlangen Sie in Südkämten auf slowenisch eine Fahrkarte, dann bekommen Sie keine und stattdessen die Antwort:
„Kannst das net deutsch sagen?!“ — eine demütigend-sadistische Szene, die an faschistische Zeiten erinnert. Als mir die Auszeichnung zuteil wurde, für die Slowenen psychohygienische Vorträge halten zu dürfen, wurde mir folgende Geschichte erzählt: Slowenische Eltern hatten alles getan, um ihre Tochter deutschsprachig zu erziehen. Als sie einen Slowenen heiratete und damit für sich und ihre Kinder die slowenische Sprache an die erste Stelle setzte, klagten die Eltern: „Wir haben versucht, aus dir einen Staatsbürger erster Klasse zu machen und nun zerstörst du mit einem Schlage unsere Bemühungen und machst dich wieder zu einem Menschen zweiter Klasse.“ Das heißt also: in Österreich muß man dem Slowenentum abschwören (ich glaube, die Situation der Kroaten im Burgenland ist besser), um ein „ordentlicher“ Staatsbürger zu werden. So gehen wir mit Anderssprachigen um, die wir bis zum heutigen Tage mit dem Odium der „Verräter“ umgeben, obwohl wir nachweisbar die Volksabstimmung nach dem Ersten Weltkrieg ohne die slowenischen Stimmen niemals hätten gewinnen können! Nein, unter diesen Umständen hat der österreichische Unterrichtsminister Zilk vollkommen recht, wenn er sagt: „Hört auf von Südtirol zu sprechen, bevor ihr nicht begonnen habt, in Österreich einwandfreie Verhältnisse zu schaffen.“

Und jetzt bin ich bei Wildgans, bei seinem Satz aus der Rede über Österreich: „Psychologie ist Pflicht im Zusammenleben der Völker! „ — Erfüllen wir diese Pflicht? — Ich muß es leider bestreiten. — Wir haben sehr lange eine einmalige Chance gehabt im Herzen Europas, eine „ vorwegnehmende Zukunft“ zu gestalten, wenn wir bereit gewesen wären zur Verständigung und Partnerschaft, zu Gleichberechtigung und Achtung. Es hätte ein Experiment sein können, das den Weg gewiesen hätte zu den „Vereinigten Staaten von Europa“. Wir haben aber diese Chance — und das muß man doch einbekennen, statt larmoyant über den Untergang „des großen Reiches“ zu klagen — nicht wahrgenommen: Wir haben uns als Herrschende aufgespielt und ab 1867 hat es zwei Herrenvölker gegeben, die Österreicher und die Ungarn, die noch bis zum heutigen Tage dran schwer zu tragen haben, daß sie bei dieser Sache mitgemacht haben. Das ist wieder eine Wahrheit, die wir nicht „wahrhaben“ wollen! Sicher, wir waren relativ menschlich. Wenn Sie nach Polen gehen, das unglückliche Land war zwischen Rußland, Deutschland und Österreich aufgeteilt, können Sie noch heute hören: die Österreicher waren die mildesten Herrscher. Sicher — aber eben doch Herrscher. Und so haben wir eigentlich die Psychologie des gegenseitigen Verständnisses, die Wildgans zu Recht als Pflichtgegenstand bezeichnet, haben wir die eben nicht beherrscht! Und darum sind wir als Vielvölkerstaat im Zeitalter des Nationalismus zugrunde gegangen; es wird vielleicht Jahrhunderte dauern, bis diese Chance von damals wiederkommt.

Fünfte These: Es wurde schon darauf hingewiesen, daß als erstes Symptom der Neurotisierung im Kind Haßgefühle gegen die Eltern entstehen. Dafür kann das Kind gar nichts, es kommt schuldlos in diese Situation (oft sind auch die Eltern schuldlos, weil sie selbst in ihrer Kindheit neurotisiert worden sind und nur in einer verhängnisvollen Staffelte diese Neurotisierung weitergeben). Aber da sich Haßgefühle in ihm regen, und weil diese Haßgefühle mit seinem Gewissen nicht vereinbar sind, fühlt es sich schuldig. Ist unschuldig und fühlt sich schuldig — man kann gar nicht genug Zeit aufwenden, um sich in diesen tragischen Tatbestand einzufühlen und zu begreifen, was es bedeutet! Dieses Schuldgefühl nun erzeugt ein unersättliches Bedürfnis — dieser in dem Zusammenhang ausgezeichnete Ausdruck stammt von Karl Stern — nach Sühne und Strafe! So wird der Neurotiker zu seinem eigenen Feind, er verfolgt sich selbst mehr, als jeder Außenstehende es könnte. Der österreichische Dichter Lenau sagt: „Mich regiert eine Art Gravitation nach dem Unglück!“ Die Patienten drücken es so aus: „Glück ist für mich ein Fremdwort“, „ich bin ein totaler Versager“, „das Schicksal hat mich in den Abfallkorb des Lebens geworfen“, „mein Leben ist auf Sparflamme gestellt“, „ich inszeniere alles vortrefflich, aber ich inszeniere es so, daß es nicht gelingen kann“, „alle meine Enttäuschungen sind in Erfüllung gegangen.“

Diese Feindschaft auch gegen die eigene Person ist in Österreich, ich möchte sagen, allgegenwärtig, ein Beweis für die weite Verbreitung der Neurose. Viel zu viele Menschen hier werden beherrscht von Lebensverunstaltung, Selbstschädigung, Selbstzerstörung, Selbstvernichtung. Nicht zufällig stammt das Wort: „Die wichtigste Aufgabe ist es, den Menschen vor sich selber zu beschützen“, von einem Österreicher, von Franz Theodor Csokor.

Es ist ganz unmöglich, hier alle Formen der Selbstschädigung, die der Österreicher ersonnen hat, aufzuzählen, nur ein paar ausgewählte Beispiele kann ich bringen. Fangen wir mit etwas Harmlosen, mit unserer Fußballmannschaft an: Sie gewinnt fast immer, nur wenn man ihr sagt: Heute geht es um alles — dann verliert sie garantiert. Sie kann den Druck, der dabei vom (Vater) Staat ausgeht, nicht aushalten, dabei entsteht, in Erinnerung an die Eltern in der Kindheit, unbewußter Protest: „Jetzt erst recht nicht.“ Treffen doch auch viele Kinder ihre Eltern in unbewußtem Protest durch nicht bestandene Prüfungen und mißglücktes Leben nach der Devise: „Recht geschieht meinem Vater, wenn ich mir die Finger erfriere“ und übersehen dabei beharrlich, daß ja sie selbst es sind, die die Rechnung vorwiegend bezahlen!

In diesem Lande blüht die Kriminalität, und Verbrechen ist oft nicht nur Aggression gegen andere (die ja begreiflicherweise immer bemerkt wird), sondern auch gegen die eigene Person (was gerne übersehen wird). Zerstört der Täter in der Mehrzahl der Fälle nicht auch sein Leben, seine sozialen Chancen, ist es ein „Vergnügen“ für Jahre Gefangener zu sein? Auch die Zahl von Verkehrsunfällen und Verkehrstoten ist in unserem Lande überdurchschnittlich hoch. Hier ist der Entgegenkommende sehr oft nicht ein Entgegenkommender in der anderen Bedeutung des Wortes. Vielmehr huldigt er einem Fahrstil, den man mit Stengel als ein Gottesurteil über Leben und Tod bezeichnen könnte: „Geht’s gut, soll es mir recht sein, geht’s schlecht, ist es auch gut.“ Und sehr oft werden natürlich auch andere. Unschuldige, zu Opfern dieser besonderen Form der Selbstzerstörung.

Das nächste Beispiel sind die psychosomatischen Erkrankungen, die in Österreich wie kaum in einem anderen Land grassieren. Daß sie durch Internalisierung chronischer Konflikte entstehen, habe ich bereits erwähnt. Es erübrigt sich, die umfangreiche Literatur über dieses Gebiet zu studieren, man muß nur eines verstehen: Unbewältigte Gefühle schädigen den Körper, was kränkt, macht krank, wie es der Wiener Internist Max Herz so treffend ausgedrückt hat. Wir aber haben nirgendwo gelernt, nicht im Elternhaus, nicht in der Schule und auch später nicht im Berufsleben, mit unseren Gefühlen zurechtzukommen, wir sind damit alleingelassen worden, haben keine Solidarität, keine Hilfe erfahren, sind, um es mit Ingmar Bergmann zu sagen, Analphabeten des Gefühls geblieben. Für dieses Heer von psychosomatisch Kranken gibt es in Wien ganze 16 Betten. „Was brauch ma denn des alles, net, is eh gnua da“, hätte Weinheber vielleicht auch darauf gedichtet. Wie dem auch sei, jedenfalls ist es ein gutes Beispiel für das Mißverhältnis, welches hier zwischen Selbstzerstörung und dem, was wir dagegen tun, herrscht. Überflüssig daran zu erinnern, daß immer mehr psychosomatische Erkrankungen tödlich enden, die Selbstzerstörung also zur Selbstvemichtung wird. Zu diesem Bild paßt es, daß wir mit Todesfällen durch Lebercirrhose an der zweiten Stelle der Welt stehen: daß die Lebercirrhose eine Folge des Alkoholismus ist, weiß heute jedes Kind. Wir greifen eben zu jedem Fluchtmittel, um über Probleme und Gefühle hinwegzukommen, für die wir keine Lösung wissen. „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ — und dann auch den Tod. In diesem Lande besteht fast eine Verpflichtung , zu trinken, wir nennen das ein „alkoholisches Klima“. Und auch der Ausdruck „Selbstmord mit Messer und Gabel“ könnte angesichts der herrschenden Eßgewohnheiten und der daraus resultierenden Übergewichtigkeit hier erfunden worden sein (vielleicht ist er es sogar, ich weiß es nicht). Und daß wir, was den direkten Selbstmord betrifft, seit Jahrzehnten im Spitzenfeld der Welt liegen, das ist bekannt. Thomas Bernhard hat geschrieben: „Ich wundere mich hier überhaupt nicht, wenn einer durch Selbstmord stirbt, ich wundere mich nur, wenn er nicht durch Selbstmord stirbt.“ — Natürlich klingt dies wie eine maßlose Übertreibung, aber irgend etwas Wahres ist dennoch darin. Da ich schon früher auf wesentliche Faktoren hingewiesen habe, die bei uns den Selbstmord konsequent fördern („Wenn einer laut um Hilfe schreit, außer sich, ist er zu leise für mich“, sagt Georg Kreisler), kann ich mich nun auf diese Feststellung beschränken. Jedenfalls: es war wiederum kein Zufall, daß Freud gerade hier seine vielbekämpfte, aber zweifellos richtige Entdeckung der Existenz eines „Todestriebes“ gemacht hat.

In diesem Österreich hat es eine Gestalt gegeben (das Wort Person vermeide ich absichtlich), in der die ganze Selbstbeschädigungs und Vernichtungstendenz dieses Landes in einer einmaligen Weise komprimiert in Erscheinung getreten ist. Der Mann wurde schon in der Kindheit durch seine Mutter und die Erziehung vernichtet, hat dann 68 Jahre regiert, hat in dieser überlangen Zeit keine einzige konstruktive Idee gehabt, keine einzige! (Wer mir eine nennen kann, ist schon prämiert.) Mit der zwangsneurotischen Pedanterie einer Maschine ist er am Schreibtisch gesessen, hat Akten studiert und unterschrieben, als personifiziertes Pflichtgefühl (wo blieben die anderen Gefühle?). Auf seinem Schreibtisch stand ein Spruch: „In jedem Ding der Welt, ob es tot ist oder atmet, lebt der große weise Wille des allmächtigen und allwissenden Schöpfers. Wie alles ist, so muß es sein in der Welt. Und wie es auch sein mag, immer ist es gut im Sinne des Schöpfers“ — der schreckliche Ausdruck einer Statik, einer Fixierung an das Bestehende, die konsequenterweise jede verändernde Entwicklung verunmöglicht.

Über diesen Menschen Franz Joseph hat Karl Kraus folgendes Gedicht geschrieben:

Wie war er? War er dumm? War er gescheit?
Wie fühlt’ er? Hat es wirklich ihn gefreut?
War er ein Körper, war er nur ein Kleid?
War eine Seele in dem Staatsgewand?
Formte das Land ihn, formte er das Land?
Wer, der ihn kannte, hat ihn auch gekannt?
Trug ein Gesicht er oder einen Bart?
Von wannen kam er und von welcher Art?
Blich nichts ihm, nur das Wesen selbst, erspart?
War die Figur er oder nur das Bild?
War er so grausam wie er altersmild?
Zählt’ er Gefallne wie erlegtes Wild?
Hai er’s erwogen oder frisch gewagt?
Hat er auch sich, nicht nur die Welt geplagt?
Wollt’ er die Handlung oder bloß den Akt?
Wollt’ er den Krieg? Wollt’ eigentlich er nur
Soldaten, und von diesen die Montur,
von der den Knopf nur? Hat’ er eine Spur
von Tod und Liebe und von Menschenleid?
Nie prägte mächtiger in ihre Zeit,
jemals ihr Bild die Unpersönlichkeit.

Vielleicht wäre es nicht nötig, einen Exkurs über Franz Joseph zu halten, wenn nicht mit Schrecken zu bemerken wäre, daß immer mehr Menschen eine merkwürdige nostalgische Sehnsucht nach eben diesem Franz Joseph entwickeln, ganze „Wallfahrten“ nach Ischl und anderen Gedenkstätten stattfinden. Da muß sich gerade der Tiefenpsychologe fragen: Ist das die Sehnsucht nach der verlorenen Vaterfigur? Sind die Regierenden den Österreichern vielleicht noch zu wenig neurotisch, daß sie den Franz Joseph wollen? — Oder wollen sie gar wieder einen Totengräber an der Spitze? Denn es ist doch überhaupt kein Zweifel, daß dieser Mann vor allen anderen der Totengräber Österreichs war! Wenn er am Schluß seines Lebens aussprechen mußte: „Mir bleibt auch nichts erspart“, war das die logische Konsequenz einer lebenslangen neurotischen Selbstvernichtung auf allen Gebieten. Diesem Mann mußte alles, was er anrührte, mißlingen! — Und nach ihm eine Sehnsucht?

Ich weiß, daß ich damit ein fatal heißes Eisen angerührt habe, und weil ich nun schon dabei bin, will ich an einem zweiten nicht vorbeigehen, über das endlich einmal ehrlich zu sprechen, es mich schon lange drängt. Es hat ja nicht nur Totengräber Österreichs gegeben, sondern auch eine ganze Reihe von Baumeistern — übrigens gehört Wildgans mit seinem Bekenntnis zum österreichischen Menschen in eben dieser Rede, die für den heutigen Vortrag zum Paten wurde, zweifellos zu ihnen. Ich aber will jetzt über einen anderen sprechen, der für die einen Baumeister, für die anderen aber Totengräber ist: Engelbert Dollfuß. Und damit bin ich vielleicht beim größten Wagnis des heutigen Abends. Als am 25. Juli 1934 dieser Mann unter den Kugeln feiger Mörder am Ballhausplatz verblutete, da habe ich als l3jähriger — warum soll ich es leugnen — geweint, so geweint, wie ich es selten später in meinem Leben getan habe. Ich war damals nicht der einzige, viele weinten mit mir, nicht der Geringste unter ihnen war Friedrich Heer, der an anderer Stelle einmal bekannte, er habe in seinem Leben einen einzigen politischen Personen-Glauben gekannt, den an Engelbert Dollfuß. Aber ich muß mich natürlich heute fragen: Hast du damals zu Recht geweint? Denn, das muß mit aller Deutlichkeit und auch Schärfe gesagt werden, das Bild dieses Mannes ist verbunden mit mehr als tragischen Ereignissen: Er hat die Demokratie in Österreich zerstört, hat mit Kanonen auf Arbeiterhäuser schießen lassen, ist zum Arbeitermörder geworden. Und wenn man für beides auch bestimmte Umstände zur Erklärung heranziehen kann, nämlich, daß er gefürchtet hat, die Nationalsozialisten könnten in das Parlament, wie in Deutschland, mit immer größerer Mehrheit einziehen; daß er unter Druck Italiens stand, welches immer stürmischer verlangte, die Sozialdemokratie auszuschalten, und Italien damals der einzige Garant der Unabhängigkeit Österreichs war — (Daß wir nicht 1934 kassiert worden sind. sondern erst 1938, das haben wir nur Mussolini zu verdanken und nicht England und Frankreich, die uns schon damals völlig im Stich gelassen haben, so wie sie später auch die Musterdemokratie Tschechoslowakei im Stich ließen. Das muß ausgesprochen werden!) — so können sie niemals eine Entschuldigung, ja nicht einmal „mildernde Umstände“ darstellen, besonders der Februar 1934 bleibt eine ganz und gar unverzeihliche, unmenschliche Tat. Mit Ehrfurcht müssen wir verstehen lernen, daß ein Sozialdemokrat es heute noch nicht erträgt, den Namen Dollfuß in positiver Weise genannt zu hören. Und doch sollten wir im Sinne Friedrich Heers das „Gespräch der Feinde“ lernen, müssen auf der einen Seite unmißverständlich und verurteilend bis zum letzten Augenblick klarstellen, daß dieser Mensch falsche Wege gegangen ist, dürfen dann aber vielleicht auf der anderen Seite auch darauf hinweisen, daß derselbe Mann ein gutes Ziel gehabt hat, nämlich die Rettung Österreichs vor der braunen Flut. Diesem Dollfuß, der, wie Heer sagt, die Uniform nie ausgezogen hat, der ein Kämpfer war, wäre das nicht passiert, was seinem Epigonen geschehen mußte: ein sang und klangloser Untergang. Dieser Mensch hat als erster den Spruch revitalisiert „Österreich über alles, wenn es nur will“, er hat versucht, das Selbstvertrauen Österreichs zu wecken, hat sein Leben dafür eingesetzt, daß dieses Land nicht von der Landkarte verschwindet, hat mit seinem Blute seine Treue besiegelt und wohl auch seine Schuld bezahlt und gesühnt. Die Feinde von einst müßten folgenden (vorläufig noch utopischen) Dialog lernen: Die einen über seinen Qualitäten nicht die unbestreitbaren schweren Vergehen zu übersehen, die anderen in ihrem „Todfeind“ doch auch den Mann zu erkennen, der für Österreich gekämpft hat. Dann mag vielleicht in ferner Zukunft der Weg dafür sich öffnen, auch Dollfuß als Baumeister Österreichs anzuerkennen, freilich als einen, der mit unrechten Mitteln gebaut hat, wo also Selbsterhaltung mit Selbstzerstörung gekoppelt war, vielleicht die tragischeste und österreichischeste Art des Bauens.

Ich wäre nicht Schüler Alfred Adlers, wenn ich bei der Diagnose stehenbliebe und nicht mit Aspekten der Hoffnung für die Zukunft schließen würde. Zwar heißt es bei Polgar: „Wien bleibt Wien, und das ist das Schlimmste, was man über diese Stadt sagen kann“, und sicher könnte es auch Gründe geben, diese Sentenz auf das ganze Land auszudehnen. Dennoch bin ich hoffnungsvoll und erlaube mir, dies mit den folgenden Argumenten zu belegen.

l. Es beginnt, sich ein neues Selbstbewußtsein dieses Staates zu entwickeln. Das Land war ab 1867, ab dem sogenannten Ausgleich mit Ungarn, unrettbar dem Untergang geweiht. Es war der ungarische Außenminister, der um 1912 gesagt hat: „Wir müssen uns selbst umbringen, bevor das die ändern tun.“ Und im Jahr 1918 begann die Verfassung des übriggebliebenen Restes mit den Worten: „Deutsch-Österreich ist eine Republik, sie ist Bestandteil des deutschen Reiches.“ Mit anderen Worten, das war ein Staat, der mit dem ersten Satz, den er aussprach, zugleich schon Selbstmord begangen hat. Wann habt Ihr dessentgleichen je gesehen?, könnte man Grillparzer variierend fragen. Da war schon in der Wurzel „der Staat, den keiner wollte“ enthalten und damit der neuerliche Tod besiegelt.

Aber heute glaube ich, seit 1945, ist die Situation eine andere. Der Österreicher hat diesmal, scheint mir, seine Lektion gelernt. Hitler mußte offenbar kommen und das von vielen ersehnte Ziel, den Anschluß verwirklichen, um dem Österreicher ein für alle Mal begreiflich zu machen, was er an diesem Lande hat (das ist wieder eine so typisch österreichische Verhaltensweise selbstschädigender Art: erst zu wissen, was man besaß, wenn man es verloren hat — so verhält sich ja auch der Mann in diesem Lande, er vernachlässigt seine Frau und wacht erst auf, wenn er sie an einen anderen zu verlieren droht). Langsam, aber sicher wächst ein neues Bekenntnis zu diesem Österreich, ja darüber hinaus zu so etwas, was man die „österreichische Nation“ nennen könnte. Man sollte vielleicht nicht allzuviel darüber sprechen, um das Wachstum nicht zu stören. Auch wenn wir jetzt einen Justizminister haben, der sich nostalgisch als Deutschösterreicher bezeichnet (wofür diejenigen mit die Verantwortung tragen, die ihn diese Position erreichen ließen), wird das diesen Prozeß nicht aufhalten. Stattdessen möchte ich nur Friedrich Torberg zitieren: „in einem Punkt allerdings sind diese Jungen besser dran als ihre Vorfahren: Wenn sie Österreich sagen, so wissen sie, was sie meinen, und wenn sie sich zu diesem Österreich bekennen, so wissen sie warum.“ Ich aber finde mit dieser Sentenz den Übergang zu meinem nächsten Punkt.

2. Die heutige Jugend gibt mir Hoffnung für die Zukunft. Ich habe als Universitätslehrer viel Gelegenheit, sie kennenzulernen, und aufgrund dieser meiner Erfahrung kann ich nur sagen: Obwohl diese Jugend aus tausend Wunden frühkindlicher Neurotisierung blutet, obwohl wir sie vielfach mit einer schrecklichen Welt konfrontieren, in Österreich ebenso wie in anderen Ländern, mit einer Welt, die Materielles an die Stelle von Gefühl und Seelischem, die Organisation, also Versachlichung, an die Stelle von Ideen gesetzt hat; einer Welt, die Erfolg und Technik vergötzt und den Menschen dabei unter die Räder kommen läßt; einer Welt, die Feindschaft mehr fördert als Solidarität, in der Frieden in Vorkrieg und in kalten Krieg verwandelt wird; in der Medizin ist an die Stelle der partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung die unpersönliche Durchuntersuchung getreten, in der Psychologie dominieren Fremdheitsgefühl erzeugende Fragebögen und Tests; in der Religion ist es genauso. Die Worte des verstorbenen Kardinal Wyszynski klingen zwar sehr schön, sie warten aber bis zum heutigen Tage weitgehend vergeblich auf Erfüllung: „Wir müssen wieder die Pharisäer und die Schriftgelehrten aus dem Tempel vertreiben, Abschied nehmen von theoretischen, theologischen Spielereien, wieder zu einem Glauben finden, der nicht von der Ratio beherrscht ist, sondern von der Liebe Gottes zu den Menschen, die zur Liebe der Menschen untereinander werden soll.“

Das ist das Wunderbare an dieser Jugend in meinen Augen, daß sie mit dieser Welt, die wir ihr präsentieren, nicht zufrieden ist; und daß sie trotz alledem nicht aufgibt, sich in der großen Mehrzahl nicht enttäuscht zurückzieht, nicht „aussteigt“, sondern versucht, sich den Problemen zu stellen, Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft zeigt, daß sie neue Wege sucht zu Versöhnung, Gemeinsamkeit, Freundschaft und Frieden, wie es Christa Wolff ausdrückt: „Was ignoriert und geleugnet wird, müssen wir schaffen, Freundlichkeit, Würde, Vertrauen, Spontaneität, Anmut, Duft, Klang, Poesie, ungezwungenes Leben, was schnell, was zuerst verfliegt, wenn der friedlose Friede in Vorkrieg überzugehen droht, das eigentlich Menschliche, was uns bewegen kann, diesen Frieden zu verteidigen.“ Wir Alten aber müssen lernen, mit dieser Jugend zu sprechen. Ich bin überzeugt, wir sind gar nicht so bedroht von ihr, wie wir vielfach glauben. Und vielleicht wird sie eine Sprache finden mit der Zeit, die uns nicht noch mehr schockiert als notwendig. Darin sehe ich eine große Chance für die Zukunft unseres Landes. Aber wir müssen zugleich zugeben, daß es die Jungen noch unendlich schwer haben hier, man braucht nur ihr Schicksal in den politischen Parteien zu betrachten. Wer läßt sie schon ihre Utopien einbringen, die vielleicht die Realitäten von morgen sein werden ? Aber wir sehen auch, daß die Wähler denen einen Denkzettel verpassen, die glauben, einen jungen Menschen aus der Kandidatenliste streichen zu können, nur weil er aufbegehrt, nicht mit den Wölfen ; heult, Mißstände aufzeigt. Sie werden es in der Zukunft -ich wage das zu prophezeien — noch in größerem Umfang tun.

3. Eine ganz große Hoffnung geht auch von den Künstlern aus. Ihre große und wunderbare Aufgabe ist es, Zivilisation in Kultur zu verwandeln, die versachlichende rationalisierende Tendenz unserer Zeit durch Wiederzulassung der Gefühle aufzuheben. Natürlich müssen auch, und ganz ; besonders, schockierende darunter sein: Nur wenn ich betroffen Mißstände in unserer Welt und in mir entdecke, wenn ich wachgerüttelt werde, besteht die Aussicht auf Änderung. Ich zitiere Friedrich Heer: „Das Hohe und Erhabene, es bleibt solange Fiktion, solange Wunsch-Traum solange es uns nicht gelingt, die Höllen im Heute zu erhellen, auf der Bühne des Theaters anzusprechen.“

Wildgans hat in seiner Rede über Österreich, wie schon erwähnt, eine Reihe von großen verstorbenen Künstlern i aller Art aufgezählt, die den Ruhm des vergangenen Österreichs ausmachen. Es stimmt mich sehr glücklich und zuversichtlich, daß ich nun auch, ohne irgendeine Mühe, eine Liste präsentieren könnte, Komponisten, Musiker, Dichter, Schauspieler, Maler, Bildhauer, Architekten, die größtenteils den Vorzug haben, noch am Leben zu sein:
Ich hoffe, daß Sie verstehen, daß ich keine einzelnen Namen nenne, ich hätte Angst, irgendeinen zu vergessen und — was schwerer wiegt — Sie kennen sie ohnehin. Und sie haben fast alle den Vorteil, daß wir noch viel Aufdeckendes von ihnen in der Zukunft erwarten können: Und daß sie alle sich an keine Grenze halten, daß sie ihre „Kompetenz“ nicht einschränken lassen, sondern sich in ihren Werken für den ganzen Menschen verantwortlich fühlen. Hier kann man wirklich sagen: Heimat bist du großer Söhne und Töchter (letzteres sei besonders betont!). Eines freilich darf dabei nicht verschwiegen werden: Die Liste großer Persönlichkeiten ist jetzt nicht so dicht und intensiv wie nach 1918, so daß man für jedes dieser Leben doppelt dankbar sein und um jedes doppelt zittern muß.

4. Den letzten Punkt meiner Hoffnung muß ich zu meinem Leidwesen mit einem großen Fragezeichen versehen (im Gegensatz zu den bisherigen), dies trifft mich umso mehr, als er mir besonders am Herzen liegt: Ich meine die römisch-katholische Kirche, von der schon Anton Wildgans in der „Rede über Österreich“ sagt, sie sei ein wesentliches Element Österreichs. Was soll ich damit heute anfangen: Handelt es sich nicht weitgehend um ein Taufschein-Christentum Haben wir nicht gerade hier aus einer lebendigen Religion vielfach eine tote gemacht? Wir haben in Österreich seit 1945 zumindestens drei massenhysterische Reaktionen erlebt, von zweien, der Schranz-Affäre und dem Ortstafelsturm, habe ich schon gesprochen, die dritte muß jetzt Erwähnung finden. Lotte Ingrisch hatte ein wunderliebes Textbuch „Jesu Hochzeit“ geschrieben, in dem Christus den Tod besiegt, Gottfried von Einem die Musik dazu komponiert. Die bloße Tatsache, daß darin Jesus und Maria mit menschlichen Eigenschaften und Schwächen (keineswegs Defekten) ausgestattet waren, erregte nun die dritte hysterische Massenreaktion: Sühne-Prozessionen mit Kindern wurden organisiert, Drohbriefe mit Todes und Verdammungswünschen geschrieben, es wurde verlangt, die Uraufführung durch den Staatsanwalt zu verbieten, als dies nicht gelang, fanden Protestaktionen statt, im Theater kam es zu Schreiexzessen, Stinkbomben wurden geworfen und Besucher insultiert. Man könnte zur Tagesordnung schreiten, wenn sich darin nicht gleichsam pathognomonisch der Zustand der Kirche in Österreich offenbart hätte. Es wurde deutlich, wie sehr es der Kirche hier „gelungen“ war, Jesus, Maria und Josef zu „entmenschlichen“, so sehr, daß menschliche Probleme an ihnen geradezu als unerträglich und blasphemisch empfunden werden. Dies entspricht dem Hochmut, mit dem man immer wieder von kirchlicher Seite zwischen Humanismus und Katholizismus Mauern errichtet, statt eine diesbezügliche Verbundenheit anzuerkennen. Human und christlich sein, beides bedeutet ja, Verständnis für die Nöte des Menschen zu haben und alles für seine gesunde glückliche Entwicklung im natürlichen Bereich zu tun. Wer vom Menschen Unmenschliches verlangt, kann nicht wirklich christlich sein. Aus diesen Zusammenhängen leitet sich eine alarmierende Diagnose ab: Wo Menschliches mit Akribie eliminiert oder verurteilt wird, die Menschwerdung nicht stattfinden darf, geht für eine Lehre auch die Attraktivität auf Menschen verloren, sie droht, aus lebendiger Substanz totes, theoretisches System zu werden. Dies steht in Übereinstimmung mit der gerade in Österreich festzustellenden psychotherapeutischen Einsicht, daß Gott sich vielfach aus dem Bewußtsein zurückgezogen hat, dafür im Unbewußten eine unendliche Sehnsucht nach Religion besteht, die aber von einer menschenfernen, ja oft menschenfeindlichen formalistischen Auslegung der christlichen Lehre nicht erfüllt werden kann. Vielfach verhalten sich die kirchlichen Institutionen gerade in diesem Lande, als würden sie einen Leitfaden besitzen mit dem Titel: Wie halte ich möglichst viele Menschen von uns fern? So wird zu schlechterletzt auch Gott in Österreich massiv verdrängt, führt ein Dasein größtenteils im Unbewußten, woran alle beteiligt sind, die Eltern (weil sie ein falsches Gottesbild vermitteln, „Gottesvergiftung“ betreiben), die Kirche (weil sie einen weltfremden Gott lehrt), aber auch die Betroffenen selber (weil ihnen Gott unbequem ist).

Für all das würde das Gedicht von Wildgans zutreffen, ich zitiere ihn damit für heute zum letzten Male:

Sie bauen noch immer Symbole aus Stein
in den längst entgoltenen Himmel hinein,
tun Glocken in die Gestühle.
Die künden mit ihrem bronzernen Mund
eine Sprache, die keinem Menschen mehr kund,
und fremd für unsere Gefühle.
Das macht, daß in den Glöcknern der Herr Jesus Christ
gestorben — aber nie wieder entstanden ist.

Aber es gibt auch Signale der Hoffnung in dieser österreichischen katholischen Kirche. Da ist ihre Trennung von den politischen Parteien, da ist der Abschied vom politischen Katholizismus, sofern er Machtausübung bedeutet, da ist die sehr kritische Haltung des Episkopats zur Pillen-Enzyklika und anderen vatikanischen „Weisungen“ (Frage der geschiedenen Ehen), da ist das stets wachsende Eingeständnis eigener Fehler, und alle diese wichtigen Pluspunkte sind untrennbar mit dem großen Erzbischof von Wien, Kardinal König, verbunden. Und es ist da der letzte Katholikentag, diese Heerschar so vieler interessierter Menschen, verbunden mit dem Papstbesuch. Aber hat nicht vielleicht gerade diese Verbindung letztlich geschadet, weil aus einem so nötigen Dialog (der, fürchte ich, mit diesem Papst nicht möglich ist) eine bloße Demonstration geworden ist? Und wie lange bleibt der Kardinal noch, und wer folgt ihm nach? Immer neue Fragezeichen, die manch einer als gewaltigen Dämpfer der Zukunftshoffnung empfinden mag.

Wenn mir jemand nun als Subsummierung all meiner Hoffnungs-Punkte sagt, „Ringel, unter diesen Umständen scheint es mir doch sehr unwahrscheinlich zu sein, daß es wieder aufwärts geht“, dann will ich das gerne annehmen, und antworten: „Je unwahrscheinlicher es ist, desto größere Hoffnung habe ich.“ Und als Bestätigung für diese meine Überzeugung schließe ich mit einem Zitat von Ludwig Wittgenstein, welches ich meinem Freund Hans Strotzka verdanke: „Ich glaube, das gute Österreichische ist besonders schwer zu verstehen, es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf der Seite der Wahrscheinlichkeit!“
 
 

Kommentar von Kaiser Günter, verfaßt am 05.07.2006 um 10.59 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=543#4575

Erwin Ringels Werk "Die österreichische Seele" sei hinzugefügt: die Österreicher zeichnen sich im Ertragen von Unfug durch unendliche Geduld aus.
 
 

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