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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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23.10.2015
 

ruhig
Beispiel eines integrierten Kommentars

Das Adjektiv ruhig wird oft in einer Weise verwendet, die dazu geführt hat, es zu den „Modalpartikeln“ oder „Abtönungspartikeln“ zu stellen, zum Teil allerdings nur in einen „Randbereich“.
Einzuwenden wäre vorab, daß bei flektierbaren Wörtern wie eigentlich, einfach oder eben ruhig nicht von Partikeln gesprochen werden sollte, wenn man nicht mit homonymen Dubletten rechnet. Die Abtönungsfunktion kann eben von Elementen verschiedener Wortart, vielleicht auch durch ganze Wortgruppen ausgeübt werden. Dieses Problem soll hier ausgeklammert werden.

Als Adjektiv hat ruhig die Bedeutung „unbewegt, still, gelassen“. Abtönend liegt es vor in Beispielen wie:
1. Spiel ruhig weiter!
2. Du kannst ruhig weiterspielen.
3. Die Katze kann ruhig hinaufklettern, das Flugloch ist zu eng.
4. Jetzt kann der Winter ruhig kommen.

In der Regel handelt es sich um Sätze mit einer Imperativform oder einem Modalverb wie können (dürfen, mögen, sollen). In den Beispielen 1 und 2 liegt eine Erlaubnis oder Empfehlung vor; das dritte und vierte Beispiel sind etwas schwerer zu deuten.
Daß das Adjektiv nicht in seiner normalen Bedeutung gebraucht ist, erkennt man am offenen Widerspruch, der sonst entstehen würde:
Reg dich ruhig auf! Du kannst dich ruhig aufregen.

Alle Beispielsätze sind zweideutig. Das Adjektiv ruhig könnte in jedem Fall die Handlung adverbial modifizieren: „auf ruhige Art weiterspielen bzw. hinaufklettern“. Gemeint ist jedoch, wie man frühzeitig erkannt hat, ein „nil obstat“. DUW verzeichnet für diesen Fall: „drückt Gleichgültigkeit od. Gelassenheit des Sprechers gegenüber einem bestimmten Sachverhalt aus“.
Entgegen dem Augenschein operiert also ruhig nicht innerhalb des Satzes, sondern auf einer anderen „Ebene“; es kommentiert die Erlaubnis, ohne ausdrücklich metasprachlich zu sein. (So sind autoklitische Sprachmittel definiert.)
Die Verlagerung eines Elements auf die Kommentarebene ist u. a. auch bei gern zu beobachten. Tatsächlich stehen ruhig und gern alternativ an derselben funktionalen Stelle, sie sind nicht kombinierbar:
Du kannst mich gern besuchen.
Du kannst mich ruhig besuchen.
*Du kannst mich gern ruhig/ruhig gern besuchen.

Eine passende Paraphrase wäre: „Du kannst mich besuchen, das habe ich gern.“ Das ist etwas mehr als „ich habe nichts dagegen“. (Wie ernst oder bloß höflich das gern gemeint ist, steht nicht zur Diskussion.)

Der Zusatz tritt auch in höflichkeitsbedingten Indirektheitsformen auf:
Hier könnte es ruhig etwas wärmer sein. (= Du könntest stärker heizen = Heize bitte stärker)

In Erzählungen und vergangenheitsbezogenen Sätze ist die Kommentierung nicht möglich:
In manchen Schlachthöfen stinkt es zum Himmel. Verdorbenes Schweinefleisch wurde trotz Verbot ruhig weiterverarbeitet (Titel und Untertitel Nürnberger Nachrichten 4.10.93:16).
Hier geht es wörtlich darum, daß die Handelnden ohne Bedenken weitermachten. Dagegen funktioniert die Verlagerung auch mit Synonymen:
An den Beinchen kannst du sie perfekt werfen und dein Hund kann ohne Bedenken daran zerren! (Werbung für Hundespielzeug)
Ihr Hund kann unbesorgt gesund genießen. Die hochwertigen Produkte sind unbelastet und außerdem bestens geeignet für allergische Hunde. (Werbung)
Es ist nicht der Hund, der keine Bedenken oder Sorgen zu haben braucht.



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Kommentare zu »ruhig«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2021 um 07.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#46181

Ein schönes Beispiel für autoklitischen Sprachgebrauch ist noch mal:

Wer war das noch mal? Wie heißt das noch mal?

Gemeint ist nicht, daß jemand mehrmals und noch ein weiteres Mal jemand ist, sondern man könnte paraphrasieren: "Sag noch mal, wer das war!" Der Kommentar ist integriert, daher unbetont. (Das Imperfekt kann ebenfalls noch autoklitisch gedeutet werden: "Ich wußte es schon mal.")
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.07.2019 um 18.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#41867

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30470
und den folgenden Einträgen:

Kinder, geht (mal) schön schlafen!

Das ist wohl die größte Annäherung an ruhig in abtönender Funktion.

(Mir ist es heute wieder eingefallen, und ich hätte es beinahe auf mein eigenes Konto verbucht, aber natürlich war es Herr Chmiela!)

Übrigens werden noch andere Wörter so ähnlich gebraucht, die aber anscheinend noch niemand zusammengestellt hat:

Es bleibt warm: Die Winterjacke kann in den kommenden Tagen getrost im Schrank bleiben. (MM 8.11.15)

Vgl. schon hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1611#30510
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2018 um 04.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#38929

Du kennst ja meinen Vater

Hier soll die Modalpartikel ja "Bekanntheit" signalisieren. Das ist aber der Inhalt des Satzes.

Man sollte es kaum glauben, aber dieser primitive Fehler durchzieht die ganze Partikelliteratur.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.05.2018 um 10.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#38813

Nicht gemeint ist hier wohl: Es wäre gut (oder schön), wenn ...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.05.2018 um 05.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#38809

Du solltest dich besser vorsehen.

besser ist hier auch als Satzadverb deutbar:

Es wäre besser, du siehst dich vor.
Besser, du siehst dich vor.


Auch im Superlativ, daher:

Am besten, du siehst dich vor.

Aber nicht mit dem Positiv:

*Gut, du siehst dich vor.

Auch nicht in dieser Lesart: Du solltest dich gut vorsehen.

Warum ist das so?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.11.2017 um 10.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#37053

Ich finde, an dieser Stelle sollte weder offenbar noch vermutlich stehen, denn letzteres ist schon im Rätseln enthalten.

Sie rätseln doch darüber, welche Motive Lindner wirklich antreiben, und nicht, welche ihn vermutlich antreiben. Über das Ergebnis der Rätselei muß man dann sagen, dies treibt Lindner vermutlich oder (wenn sie so meinen) offenbar an.

Beide Adverbien haben an der falschen Stelle so was Vorsichtiges, Rückversicherndes, was dort nicht hingehört. Das ist ähnlicher Unsinn wie "Die Polizei sucht den mutmaßlichen Täter".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.11.2017 um 09.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#37051

Umso mehr rätseln sie in den anderen Delegationen, welche Motive Lindner offenbar antreiben. (SZ 20.11.17)

Das Satzadverb offenbar steht an einer ungewöhnlichen, eigentlich sogar unmöglichen Stelle. Es ist hier in der Bedeutung "vermutlich" gebraucht, wie denn überhaupt die Ausdrücke der Gewißheit oder Evidenz durch einen pragmatischen Mechanismus diese scheinbar entgegengesetzte Funktion bekommen haben. Trotzdem ist das nicht die ganze Erklärung. Vielmehr ist aus dem Obersatz das "Rätseln" oder eben Vermuten in den Nebensatz hinübergeschwappt. Die Antwort ist gewissermaßen vorweggenommen: "Lindner tut das offenbar aus folgendem Grund...."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2017 um 07.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#35816

Das hätte er lieber nicht getan.

= Es wäre ihm lieber gewesen, es nicht zu tun.

Das hättest du lieber nicht tun sollen.

= Es wäre mir lieber, du hättest es nicht getan.

Im zweiten Satz liegt also ein impliziter (nicht metasprachlich formulierter, also autoklitischer) Kommentar des Sprechers vor.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.07.2017 um 04.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#35624

Welches soziale Anliegen soll bitte durch das Abfackeln abgestellter Kleinwagen in einer Seitenstraße befördert werden? (Spiegel 7.7.17)

Man sieht hier, wie eine Modalpartikel entsteht: bitte gehört logisch zu einem übergeordneten Satz, etwa: Bitte (sagen Sie mir): Welches soziale Anliegen soll durch das Abfackeln abgestellter Kleinwagen in einer Seitenstraße befördert werden? Der nächste Schritt wäre eine Parenthese: Welches soziale Anliegen soll, bitte, durch das Abfackeln abgestellter Kleinwagen in einer Seitenstraße befördert werden? Diese "Herausstellung" wird dann eingeebnet, und wir haben den "integrierten" Kommentar, den man mit Skinner "autoklitisch" nennt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 07.11.2015 um 01.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30499

Schön schrecklich

(FAZ, 6.11.15, S. 1, Bildunterschrift zu einem Foto der Sonnenprotuberanzen, Thema Klimawandel)
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 06.11.2015 um 19.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30498

Du kannst ruhig schreien.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 06.11.2015 um 16.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30495

Schöne Scheiße! (Oder auch: Ach du heilige Scheiße!)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 06.11.2015 um 13.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30486

Sehr bekannt ist das Oxymoron von Heinz Rühmann: Hübsch häßlich habt ihr's hier.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.11.2015 um 12.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30483

Ich wollte eigentlich Ihre Deutung (vorletzter Eintrag) stützen, und das Fragezeichen habe ich bloß gesetzt, weil ich meine, man müßte noch mal drüber nachdenken.
Stilfehler oder nicht – diese Umkehrung ist allgemein verbreitet, wie man ja frz. auch formidable sagt usw. – sehr ist bekanntlich auch schon so entstanden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.11.2015 um 10.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30482

Die Frage verstehe ich nicht ganz, jedenfalls sehe ich da doch einen Unterschied.

In schön blöd ist m. E. schön im genauen Wortsinn gebraucht, es handelt sich nicht um eine Steigerung von blöd, sondern um eine selbstironische Beschreibung.
Dagegen würde ich ganz schön blöd nicht ironisch, sondern als leichte Steigerung (ziemlich/erstaunlich blöd) verstehen.

Gar nicht ironisch ist für mich aber schrecklich gefreut, sondern eine Steigerung (sehr gefreut). Das Wort schrecklich in diesem Sinne zu gebrauchen halte ich aber für einen Stilfehler.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.11.2015 um 04.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30473

Also "Ich war schön blöd" wie "Darüber habe ich mich schrecklich gefreut"?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.11.2015 um 00.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30472

Es ist nicht immer ganz einfach, zwischen Adverbien und Abtönungspartikeln genau zu unterscheiden. Ich glaube, das betrifft hier vor allem ganz schön, da möchte ich mich nicht festlegen. Dagegen finde ich, ist schön in diesen Beispielen ganz wörtlich, wenn auch ironisch, gebraucht.
 
 

Kommentar von Gunther Chmela, verfaßt am 05.11.2015 um 22.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30471

Ich meine, mein zweites Beispiel paßt nicht ganz wegen des fehlenden Verbs. Vielleicht ist das besser: "Da haben wir uns schön blamiert!"
 
 

Kommentar von Gunther Chmela, verfaßt am 05.11.2015 um 21.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30470

Hat nicht schön oft eine ähnliche Funktion?
Man sagt ja z. B. "Das Haus ist ganz schön groß", auch wenn das gemeinte Haus möglicherweise alles andere als schön ist. Oder man sagt gar: "Ein schöner Mist!"
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 23.10.2015 um 17.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1646#30316

Man könnte ruhig in der hier beschriebenen Verwendung auch ein Pseudo-Adjektivadverb nennen, da es von einem echten Adjektivadverb (wenn man sich mit diesem Begriff anfreunden kann) zum Teil nur aus dem Kontext heraus (oder durch die Intonation) zu unterscheiden ist:
(a) Er soll ruhig weitermachen (bis er zu einem befriedigenden Ergebnis kommt), aber
(b) Er soll ruhig weitermachen (dann wird er schon sehen, was er davon hat)

 
 

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