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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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16.04.2010
 

Sprache und Denken
Anmerkungen zur Psycholinguistik

Die Süddeutsche Zeitung berichtet über Untersuchungen, mit denen der Einfluß des Denkens auf die Sprache untermauert werden soll. Die Experimente der Psychologen replizieren größtenteils Altbekanntes (Farbnuancen usw.). Die methodischen Mängel sind auch dieselben wie früher.
Es ist bekannt, daß Sprachen, die gewisse Unterscheidungen obligatorisch kodieren (Geschlecht, räumliche Orientierung, Farbtöne, Quelle der Information usw.), die Aufmerksamkeit auf diese Unterschiede lenken. Aber man darf die Möglichkeiten der Neutralisierung im Kontext nicht übersehen. Am wichtigsten sind die inklusiven Oppositionen: Tag und Nacht sind sprichwörtliche Gegensätze, aber neutralisierbar: Nach zehn Tagen hatte er sich an das neue Haus gewöhnt. Hier sind natürlich die Nächte mitgemeint. Ebenso drei Mann usw. Kochen und braten sind zweierlei, aber zum Kochen gehört auch das Braten. Essen und trinken sind zweierlei, aber wenn wir essen gehen, gehört das Trinken dazu. Wir unterscheiden in vielen Regionen Wochentag und Sonntag, aber der Sonntag ist auch ein Wochentag. Vor und hinter sind geradezu entgegengesetzt, aber wir lesen im selben Text: "Merkel stellt sich vor die Bundeswehr" und "Merkel stellt sich hinter die Bundeswehr", und es bedeutet dasselbe.
Die psycholinguistischen Experimente isolieren stets das Unterscheidende, erfassen daher – weil eben der natürliche Kontext fehlt – die Neutralisationen nicht. Oft werden außerdem Metaphern und Allegorisierungen untersucht, die ihrer Natur nach zu einigermaßen konsistenten Bildfeldern zusammenwachsen, aber es wird die weitreichende Austauschbarkeit unvereinbarer Bildfelder übersehen. (Das ist der wichtigste Einwand gegen die "kognitive" Metapherntheorie von Lakoff/Johnson usw.)
So werden auch wieder die Zeitmodelle erwähnt, und dazu ist zu sagen, daß sie kaum irgendwo in sich konsistent sein dürften, weder als lineare noch als zyklische, wie man behauptet hat. Natürlich wirkt die Schreibrichtung sich aus, aber das hat ja nur peripher mit Sprache zu tun. Das Vergangene ist auch innerhalb derselben Sprachgemeinschaft mal vorn, mal hinten, mal oben, mal unten. Wir sprechen von der "Heraufkunft des Industrialismus", sagen aber auch "bis herab in unsere Zeit".

Zu Sprache und Denken noch dies: Newton schrieb die „Principia“ auf lateinisch, die „Opticks“ auf englisch, ähnlich Galilei und viele andere. Irgendein Einfluß der gewählten Sprache auf den Inhalt ist bisher nicht behauptet worden.



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Kommentare zu »Sprache und Denken«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.07.2019 um 05.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#41785

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#31736

Die Anekdote wird nicht nur verschieden erzählt, sndern auch über verschiedene Gelehrte, z. B. Haldane.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.04.2018 um 09.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#38515

Beim Korrekturlesen langer Texte schwankt die Aufmerksamkeit mit einer gewissen Periodik, das ist bekannt. Man kann aber auch Korrektur lesen und dabei an etwas anderes denken. Orthographische und sogar grammatische Fehler fallen trotzdem auf, wenn auch vielleicht nicht alle. Es ist wie bei einem dissonanten Akkord, der das Ohr quält, auch wenn man gar nicht auf die Musik geachtet hat.

Vor langer Zeit empfahlen manche Klavierpädagogen, stundenlang Fingerübungen zu spielen und dabei Zeitung zu lesen. Multitasking? Eher nicht, weil die Aufmerksamkeit nicht geteilt wird, sondern gegen Unaufmerksamkeit steht.

Man kann auch sprechen und an etwas anderes denken, das ist vielleicht häufiger als die ungeteilte Hingabe an die Rede, und noch mehr gilt es für das Zuhören.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.06.2017 um 08.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#35386

Wie gesagt, es gibt zahllose Belege wie bis herab in unsere Zeit und bis herauf in unsere Zeit. Wer nur eins davon kennt, könnte fundamentale Schlüsse auf die in der deutschen Sprache gespiegelte Zeit-Auffassung ziehen.

Dies wurde die erfolgreichste Lesart. Sie findet sich bis hoch ins zwanzigste Jahrhundert. (Kurt Flasch: Der Teufel und seine Engel. München 2015:79)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.04.2017 um 17.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#34816

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#16064

Dagegen dasselbe Bild:

Du hast hier nichts zu suchen und Du hast hier nichts verloren

Das zweite kommt mir eine winzige Kleinigkeit härter vor. (Wenn ich mir Zusammenhänge vorstelle, in denen ich es gebrauchen würde.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.02.2016 um 18.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#31736

Wo über die Macht der Gewohnheit gesprochen wird, ist auch eine Anekdote über David Hilbert nicht weit:

Before an evening gathering, Mrs. Hilbert says: “But David, your tie is dreadful. Go put on another one.” Hilbert disappears; the guests come. When he does not appear after a while, Mrs. Hilbert becomes restless and goes upstairs. She finds him in a nightgown and about to get into bed. He had absent-mindedly continued taking off his shirt and tie, as he was used to doing every day as he went to sleep.

Natürlich gibt es verschiedene Fassungen, Pascual Jordan erzählt sie auch in seinen Anekdotischen Erinnerungen.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 11.06.2013 um 09.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#23397

"Wie kann man solche Arbeiten und Theorien beurteilen?" Nun, sie sind recht unterhaltsam, nicht wahr? Besser als derartige Feinarbeit finde ich jedoch in Paul Schons' Ratgeber für Amerikaner, die in Deutschland Geschäfte machen wollen, den Einleitungssatz zum Kapitel "Punctuality": "The myth of German punctuality is not a myth." —
Witzig ist auch, daß sich das grammatische Futur in den germanischen Sprachen erst vor gar nicht so langer Zeit entwickelt hat. Vorher gab's eben nur das Präsens und das Imperfekt.
(Hierzu etwas zum englischen Futur, wie ich's noch hatte lernen müssen: Die genaue Form sei "shall" für die 1. Person [und bei Fragen die "implizierte" 1. Person!], sonst sei "will" das Hilfverb für die Bildung des Futurs. Nun, so ist es nicht. Heute ist das Hilfsverb "'ll"; die vollen Formen fallen unter "gehoben" [und "unter schulischen Einfluß gelernt"]. Und im selben Text aus dem 13. Jahrhundert, den ich mal studierte, wurden beide, "shall" und "will", klar als Zeithilfsverben fürs Futur [also nicht mehr als modale Hilfsverben!] und ohne Unterscheidung nach Person gebraucht [also "shall" und "will" bunt durcheinander für alle Personen].)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2013 um 06.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#23390

Ich halte das alles für unseriös. Erstens ist schon das sogenannte Tempus ein sehr fragwürdiger Begriff; er bedeutet für jede Sprache etwas anderes, und was er mit Zeit zu tun hat, ist gerade die Frage. Das kann hier natürlich nicht genauer diskutiert werden. Zweitens sind die Beschreibungsbegriffe für Nationalcharaktere nicht operationalisiert und viel zu vage. Die Korrelierung von zwei so willkürbehafteten Begrifflichkeiten ist eher was für Partygespräche.

(Man könnte noch hinzufügen, daß die empirische Grundlage zu schmal ist. Wie viele Gesellschaften mit vergleichbarem Niveau und einigermaßen homogener Sprache gibt es denn? Außerdem gilt, was man gegen jeden Sprachidealismus einwenden kann: Leben nicht innerhalb derselben Sprache Menschen mit ganz verschiedenen Einstellungen und Verhaltensgewohnheiten?)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 09.06.2013 um 23.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#23388

Sprache beeinflusst das Verhalten
Wer deutsch spricht, raucht weniger, treibt mehr Sport und spart für die Zukunft
(FAS, 9.6.13)

Es geht um das Buch von Keith Chen, The Effect of Language on Economic Behavior, 2013. Die FAS schreibt:

Will man sagen, daß es morgen regnen wird, so kann man dies auch im Präsens tun, also sagen: "morgen regnet es"; im Englischen funktioniert das nicht, man muss grammatikalisch ("it will rain tomorrow" oder "it is going to rain tomorrow") explizit klarmachen, dass dieses Ereignis in der Zukunft liegt.
...
Die ersteren [Sprachen] nennt Chen stark zukunftsbezogen, die zweiten schwach zukunftsbezogen.
...
Erstens erscheinen zukünftige Ereignisse weiter weg, wenn sie sprachlich gesondert ausgewiesen werden. Wer "Morgen regnet es" sagt, dem ist die Zukunft mental näher als jemandem, der die Zukunft explizit als solche ausweist ("it will rain tomorrow") - also wird er sich entsprechend mehr um seine Zukunft sorgen, eine geringere Gegenwartspräferenz haben und mehr sparen und auf seine Gesundheit achten. Zweitens glauben Menschen, deren Sprache präziser bei der Bestimmung der Zukunft ist ("it will rain tomorrow"), dass sie genauere Einschätzungen bezüglich der Zukunft haben, ähnlich wie Menschen, deren Sprache mehr Ausdrücke für Farbtöne kennt, präziser in der Unterscheidung von Farben sind. Wenn man sich aber bezüglich seiner Zukunft sicherer fühlt, weil man eine genauere Einschätzung zu haben glaubt, sorgt man sich weniger um dieselbe ...
Sprachen, die stark zukunftsbezogen sind, so Chens Idee, verführen die Menschen dazu, die Zukunft stärker zu vernachlässigen, also weniger zu sparen, mehr zu rauchen, weniger gesund zu leben; während Sprachen, bei denen die Zukunft sprachlich nicht so exakt abgebildet wird, dazu führen, dass Menschen sich mehr Gedanken um ihre Zukunft machen und entsprechend verantwortungsbewusster und zukunftsorientierter handeln.

Chen soll seine Hypothese empirisch überprüft und bestätigt gefunden haben. Wie kann man solche Arbeiten und Theorien beurteilen? Sind sie seriös? Es erinnert mich ein wenig an die angeblich so vielen Ausdrücke für Schnee bei den Eskimos.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 17.04.2010 um 15.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#16073

Was in dem S.Z.-Beitrag über das Russische gesagt wird, gilt für alle slawischen Sprachen. Daß das Perfekt geschlechtsabhängig gebildet wird, liegt ganz einfach daran, daß es grundsätzlich mit "sein" gebildet wird. Dadurch wird es geschlechtsabhängig, genauso wie das bei mit "sein" gebildeten Perfekten in den romanischen Sprachen ist; nur haben slawische Sprachen auch ein Neutrum.
Auf den Unterschied zwischen unvollendeten (imperfektiven) und vollendeten (perfektiven) Verben stößt man ganz einfach, wenn man einem slawischen Muttersprachler sagt, daß man ein Fach studiert hat. Dann kommt sofort die Frage "studiert (d.i. ohne Abschluß) oder ausstudiert (d.i. mit Abschluß)?" Die drücken sich gleich genauer aus.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 16.04.2010 um 19.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#16065

Bei der Austauschbarkeit ist die Frage immer, worauf sie sich bezieht. Wenn ich mich hinter jemanden stelle, mache ich ihn zu meinem Repräsentanten, stelle ich mich vor ihn, werde ich zu seinem Repräsentanten, und wenn ich jemandem zur Seite stehe, liegt kein Repräsentationsverhältnis vor. Austauschbar sind die drei Redeweisen also nur insoweit, als sie "unterstützen" bedeuten sollen oder, in der Politikersprache, möglichst überhaupt nichts Genaues.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 16.04.2010 um 10.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1297#16064

Man kann auch jemandem zur Seite stehen, und es bedeutet immer noch (fast) dasselbe! Sich hinter jemanden stellen dürfte eine Vermengung von Sich vor jemanden stellen (und so mit dem eigenen Körper Angriffe abwehren) und Hinter jemandem stehen (sich einreihen und so unterstützen) sein. Die ursprünglich durchaus motivierten räumlichen Vorstellungen verschwimmen, bis sie schließlich ganz austauschbar werden.
 
 

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