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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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28.07.2008
 

Die Zeiten ändern sich
„Die Sprache gehört dem Volk.“

Das ist unendlich lange her. Der Bundestag führte damals noch inhaltsreiche Debatten.
Heute läßt er auf seiner Website folgendes Gedenkblatt erscheinen:

Kata Kottra
VOR 10 JAHREN ...

Als aus daß dass wurde
1. August 1998: Die Rechtschreibreform tritt in Kraft

Nach jahrelanger Vorarbeit von Germanisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und endlosen Diskussionen waren sich die Kultusminister der deutschen Länder einig: Vom 1. August 1998 an sollte im deutschsprachigen Raum eine reformierte Rechtschreibung gelten, allerdings mit einer langen Übergangszeit bis 2007. Aus dem "daß" wurde, wie zuvor schon in der Schweiz üblich, ein "dass".

Schüler, Journalisten und Schriftsteller protestierten lautstark gegen den vermeintlichen Traditionsbruch. Bis vor das Bundesverfassungsgericht zogen die Kläger, weil sie dem Staat einen Eingriff in die Grundrechte von Schülern und Eltern vorwarfen. Dabei hatte es in den Jahren zuvor viel drastischere Vorschläge gegeben: Radikalreformer wollten die Kleinschreibung der Substantive durchsetzen, wie sie in den meisten Sprachen üblich ist - ein Vorschlag ohne Chance auf Verwirklichung. Vor zwei Jahren schließlich milderte der "Rat für deutsche Rechtschreibung" die Reform etwas ab und erlaubte in vielen Fällen das Nebeneinander von alter und neuer Schreibweise.

Um alle zu beruhigen, die noch mit den neuen Regeln kämpfen: Ins Gefängnis kommt in Deutschland wegen nicht befolgter Kommaregeln oder der eigenwilligen Schreibweise von Fremdwörtern niemand. Der Staat darf zwar Regeln erlassen, an die sich Beamte, Schüler und Richter halten müssen, doch als Gesetze gelten diese nicht. Im Brief an die Oma, in der Geburtstagseinladung oder in Menükarten muss sich - rein rechtlich - keiner an die neue Rechtschreibung halten. Und viele tun es ja auch nicht - bewusst oder unbewusst.



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Kommentare zu »Die Zeiten ändern sich«
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 30.08.2008 um 22.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1037#12948

Was dem Schwarzen Brett recht ist, muß der Schwarzen Kasse billig sein, sonst wäre es wie irgendein schwarz lackiertes Brett auch nur irgendeine schwarz lackierte Registrierkasse.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 10.08.2008 um 00.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1037#12893

Spätestens seit dem Fall Schleswig-Holstein (nicht der Dampfer!) wissen wir, daß die deutsche Sprache einzig und allein deutschen Ministerialen gehört bzw. dem Bundesverfassungsgericht, das über Dinge befindet, die absolut außerhalb seines "Kompetenz"bereichs in jedem Sinne liegen.
 
 

Kommentar von Borghild Niemann, verfaßt am 29.07.2008 um 00.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1037#12750

Weil die junge Frau nicht weiß, wovon sie schreibt, wiederholt sie die immer wiederkehrende falsche Behauptung, daß sich Beamte, Schüler, Richter an die neuen Regeln halten müßten.

Das stimmt nicht. Das (vermurkste) Verfassungsgerichtsurteil gilt nur für den Bereich der Schulen, von Richtern und Beamten ist nicht die Rede. Ich bin Beamtin, Bibliothekarin an der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat einen Präsidenten, das oberste Leitungsgremium ist aber der Stiftungsrat, gebildet aus Vertretern von Bund und Ländern, mit seinem jeweiligen Vorsitzenden, dem Kulturstaatsminister. Vor Jahren erhielten wir ein vom Präsidenten unterzeichnetes Rundschreiben, mit dem die neue Rechtschreibung im Preußischen Kulturbesitz eingeführt wurde. Der einzige präzise Satz in diesem Rundschreiben lautet: Preußisch bleibt preußisch. Unser Rundschreiben war abgeleitet aus einem Rundschreiben des Innenministeriums, ebenfalls unpräzise.

In einer schriftlichen Eingabe an meinen obersten Dienstherrn, den Vorsitzenden des Stiftungsrates der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, damals Julian Nida-Rümelin, bat ich um Auskunft, welche der mir damals bekannten sieben Varianten der neuen Schreibung für mich verbindlich sei. Keine Antwort, nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Nach etwa anderthalb Jahren konnte ich diese Nichtbeantwortung in einem Leserbrief in der FAZ öffentlich machen.
Daraufhin erhielt ich wenige Tage später einen bösen Brief vom Vizepräsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in dem er mir immerhin zugestand, daß die vielen Varianten ein Ärgernis seien.

Nach Ende der Übergangsfrist kann sich ein Dienstherr nicht mehr auf die Vorläufigkeit eines Rundschreibens beziehen. Vielleicht finden sich unter den Lesern dieser Seite noch andere Beamte/Richter (nicht Lehrer), und wir könnten uns austauschen? Immer wenn der Satz fällt: Rechtschreibung ist für Leser, werde ich verbittert, weil sich bis auf verschwindend geringe Ausnahmen (ein herzlicher Gruß an Herrn Eversberg!) kaum ein Bibliothekar für die RSR interessiert. Dabei wäre es gerade die Aufgabe des höheren Dienstes in wissenschaftlichen Bibliotheken, auf verschlechterte Suchbedingungen in Katalogen und die Vernichtung von Büchern in öffentlichen Bibliotheken hinzuweisen. Ich weiß nicht, wie stark der Druck auf kritische Kollegen in den öffentlichen Büchereien ist. Wenn es kritische Kollegen dort gibt, vielleicht fassen sie neuen Mut nach Ende der Übergangsfrist?
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 28.07.2008 um 19.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1037#12748

Nicht gegen die junge Frau wandte ich mich, sondern vielmehr gegen den Bundestag, der diesen Unsinn immerhin durch seine Plattform legitimiert (deshalb schrieb ich Politiker).

Der jungen Frau sollte man aber sagen, daß es manchmal besser ist, zu schweigen. Vor allem, wenn man so gar nicht weiß, was man eigentlich sagen will. Eben aus diesem Grund ignoriere ich beispielsweise auf diesen Seiten grundsätzlich hitzige Debatten über Klimaforschung und Exkurse über den Einbürgerungstest. Zu diesem verfüge ich noch über zu wenig Informationen und zu jenem fehlt mir einfach die grundsätzliche Sachkenntnis.

Aber schön, wenn alle trotzdem mal zu allem ihren Senf dazugeben. War nicht grundsätzliche Bildungsferne auch ein Kollateralschaden der Rechtschreibreform?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2008 um 19.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1037#12746

Erbarmen mit der jungen Frau! Sie war noch ein Kind, als das Unglück begann, und weiß nicht recht, wovon sie redet.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 28.07.2008 um 18.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1037#12745

Fast noch spannender als den ungeschickt gewählten Gefängnisvergleich finde ich, wie hier wieder einmal mit sprachlichen Kulturgütern umgegangen wird.

Da wird eine über 90jährige literarische Tradition in eine Schublade gequetscht mit dem "Brief an die Oma", "der Geburtstagseinladung" oder "Menükarten". Na wie gut, daß Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Paul Celan und Erich Fried schon tot sind!

Und der Hinweis auf das angeblich schweizerische "dass" ist ebenso überflüssig wie falsch. Ist das wirklich alles, was den armen Politikern zu zehn Jahren gescheiterter Rechtschreibreform einfällt? Immerhin zeigt das, daß diese Leute selbst nach zehn Jahren Heyse noch nicht kapiert haben. Braucht's noch mehr der Beweise?

Heute ist zwar erst Montag, aber den Sekt für Freitag (ein Mann, ein Wort) habe ich schon im Kühlschrank. Ich lade auch gerne noch mal alle hier mit einem "Brief an die Oma" ein, mir zu folgen.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 28.07.2008 um 18.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1037#12744

Ein interessantes Denkmodell: Jeder, der die neue Rechtschreibung nicht beherrscht, kommt ins Gefängnis.
Wie viele blieben da wohl außerhalb der Mauern?
 
 

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