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11.03.2008
Zu früh – zu spät?
Was man 1995 über die geplante Reform wußte
Wie uns die Reformer eingebläut haben (hier ist das Blau am Platze, sie haben es vom Himmel heruntergelogen), war es jederzeit "zu spät" für Einsprüche gegen das ganze Unternehmen. Ich stoße gerade auf eine interessante Stelle:
Johannes Volmert (Hg.): Grundkurs Sprachwissenschaft. München 1995 (UTB), S. 205:
"Diese allgemeinen Bemerkungen zur Orthographiereform mögen einstweilen genügen, denn wie die Neuregelung im Detail aussehen wird, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch niemand sagen. Das gilt selbst für die Bearbeiter des Neuregelungsvorschlags, denn die vorgeschlagenen Regeln sind prinzipiell interpretationsbedürftig, so daß sich ein endgültiges Bild erst ergibt, wenn die Wörterbücher sie auf den Wortschatz angewendet haben."
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 14.03.2011 um 21.13 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#18316
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Das „zu spät“ hat sich wohl dauerhaft in den Journalistenköpfen festgesetzt – scheint es doch auch in anderen Fällen zu passen:
»Das größte Problem der Bürgerbeteiligung ist vielfach, dass sie erst dann einsetzt, wenn wesentliche Entscheidungen längst gefällt sind. Bei der Rechtschreibreform und bei Stuttgart 21 war das so, auch bei der Fehmarnbeltquerung sieht es nach zu spätem Aufbegehren aus.«
(Die Journalistin Karin Lubowski in einem Interview, www.shz.de, 4. März 2011)
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 15.03.2008 um 22.32 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11666
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Dialektik oder späte Vernunft?
1. Die Reformer wollten "der Tendenz zur Zusammenschreibung", was auch immer sie darunter verstanden haben mögen, "entgegenwriken".
Sie haben also damals schon "das Schreibgeschehen verfolgt". Es mißfiel ihnen (ästhetisch / logisch / pädagogisch usw.). Also haben sie "eingegriffen" und das Schreibvolk zur rundumschlägigen Getrenntschreibung verdonnert.
2. Nach dem Desaster der RSR sind "Schreibverfolger" zur Instanz erhoben worden. Diese sollen dem "Schreibgeschehen" nunmehr nicht – wie gehabt – "entgegenwirken", sondern es zunächst nur – mit nachsichtigem Auge und in löblicher Bescheidenheit – zur Kenntnis nehmen.
3. Danach entscheiden (un)berufene und wie immer anonyme Sprachobere, in welcher Weise ins "Schreibgeschehen einzugreifen" ist – wie vordem allein zur Volksbeglückung.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 14.03.2008 um 19.06 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11658
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Politische Sprachregelung ist es, nicht von einer Rücknahme oder Reform einer Reform zu sprechen, sondern von ihrer "Weiterentwicklung". Nennen wir uns "Weiterentwickler", die die Aufgaben des Rechtschreibrats weiterführen!
Die Univerbierung lebt: In der neuesten Ausgabe der "SiemensWelt" heißt es: "Bei einem Triebzug sind die Antriebskomponenten und Technikmodule unterflur über den gesamten Zug verteilt angeordnet."
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 14.03.2008 um 00.50 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11652
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Galina Leljanowa stellt die peinliche Entscheidungsfrage :
"Handelt es sich bei diesem Durchpeitschen der neuen Rechtschreibung nicht um ein bewußtes politisches Vorgehen zum Sprachtod?"
Ei gewiß, es handelt sich um gezieltes politisches Vorgehen zur Nivellierung von allem und jedem (einschließlich von Sinn-en). In diesem ersten Schritt wird das schriftliche Ausdrucksvermögen der Sprachgemeinschaft in die Runenzeit zurückgebombt, was den "Sprachtod" unweigerlich nach sich zieht, wie Quellen anschaulich belegen. Das so Vollzogene ist allerdings nicht "~tod", sondern ~tötung oder ~mord. Das sollte auseinandergehalten werden, damit fürderhin gegen die sedative Ausblendung von Verantwortung jemand wieder des Mordes (nicht "des Todes") angeklagt werden darf / kann / muß.
Dazu, daß die Unterscheidung zwischen Sterben und Töten heuer nicht mehr recht "abrufbar" ist, haben viele Linguisten eifrig und heftig beigetragen, nicht allein mit Formelchen wie COME ABOUT (die Titel in Bibliographien belegen es), um so die Gesellschaft vom leidigen Verantwortungsbegriff und dieser selbst zu befreien. Mit entsprechender behördlicher Genehmigung darf "Verantwortung" heute noch auf die Zeit vor 1945 angewendet werden.
Schon Augstein ("Der Spiegel") nannte gleich nach dem Ende (ich weiß: "die Wende") gnadenlose Polit-Richter des Honecker-Paradieses "unglücklich in die Geschichte verstrickte [nomina diversa]". Man sieht, dieser Liberale(?) war einer der Tür- und Büchsenöffner für die ethische wie moralische Anästhesie und Amnesie rundum – "Diffusa est gratia".
In einem gut bewaldeten Segment der Peripherie von Trier werden Richter auf ihre Verantwortungslosigkeit "ausgerichtet". In Deutschland fällt kein Richter mehr ein Urteil, denn sprachlich zulässig ist heute allein: "Es kam zu einem [Qualifikator] Urteil" wie zu einem Un- oder Glücksfall.
Die Sprache beugt sich demütig dem aktuellen Rechtsvollzugsverständnis. Im Zweifelsfalle muß sie ohnehin für alles geradestehen [zusammen!].
Schöner kann die Welt nicht werden.
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Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 13.03.2008 um 15.20 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11647
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"German is unfortunately a language in decline" wird in der englischen WikiPedia im Artikel German Language zitiert. (U. Kimpel, Uni Tübingen, soll das gesagt haben.) Es stehen in dem Artikel auch einige unschmeichelhafte Worte zur R-Reform.
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Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 12.03.2008 um 14.44 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11641
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Es wird sicher nicht bewußt auf einen "Sprachtod" hingewirkt – viele der Akteure wären auch sprach- und damit hilflos, wenn Deutsch wirklich abstürbe. Das Resultat der Reform ist dennoch eine Beschädigung des Kulturguts Schriftsprache mit negativen Folgen für ihre Brauchbar- und Wirksamkeit sowie Lehr- und Lernbarkeit und damit auch ihr Ansehen und ihre Attraktivität im Ausland. Zum Schadensbild gehören die "Verunreinigung" des Schriftguts insgesamt durch unnötige Inkonsistenzen und reformogene Fehler, mit negativen Auswirkungen für die maschinelle Verarbeitbarkeit deutscher Texte (z.B. Suchsoftware, Korrekturhilfen, maschinelle Übersetzung und Textanalyse). Auch die Verärgerung großer Teile der Bevölkerung sowie das Entstehen unnötigen Konfliktpotentials, was sich in massiven Zeitverlusten niederschlägt, rechne ich zu den Schäden am Kulturgut, nicht zuletzt die bornierte Aussonderung von Büchern aus Schulbüchereien, die nur möglich ist, weil man Reformschrieb sofort am -ss (und an sonst nichts, peinlicherweise) stets zuverlässig erkennen kann.
Zum Tode führt das alles ganz sicher nicht. Die Reformer kriegen es sogar hin, statt von Schäden unwidersprochen von einem Erfolg zu schwafeln, und die Medien sehen darin überhaupt gar kein Thema mehr, blamiert wie sie alle sind. Auch das sind eigentlich Schäden, wenngleich nicht am Kulturgut selbst.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 12.03.2008 um 14.30 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11640
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Der grundlegende Gegensatz zwischen Anhängern und Gegnern der Reform ist wohl, daß erstere behaupten, nur das äußere Abbild der Sprache verändert zu haben, während letztere beweisen können, daß die Sprache selbst Schaden genommen hat.
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Kommentar von Galina Leljanowa, verfaßt am 12.03.2008 um 09.58 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11639
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Zum Internationalen Tag der Muttersprache soll der Generaldirektor der UNESCO, Herr Koïchiro Matsuura, folgendes gesagt haben:
„Stirbt eine Sprache, gehen mit ihr nicht nur Traditionen, Erinnerungen und Geschichte verloren, sondern auch Chancen für die Zukunft“,
weshalb mit der Kampagne «Language Matters!» – Sprache spielt eine Rolle! – gegen den Verlust sprachlicher Kulturschätze angekämpft wird. 1993 lancierte die UNESCO das «Rote Buch», in dem Informationen über Sprachen und deren Zustand gesammelt werden.
Als Laie hätte ich von Ihnen nun gerne drei Fragen beantwortet:
Handelt es sich bei diesem Durchpeitschen der neuen Rechtschreibung nicht um ein bewusstes politisches Vorgehen zum Sprachtod? Es wird ja bewusst eine Gemeinschaft mitsamt ihrer Identität geschwächt. Bei diesem Prozess handelt es sich meines Erachtens nicht um einen natürlichen Tod, sondern um einen längeren Zeitraum, der ohne Massnahmen stattfindet. Von einer herkömmlichen Sprache, die zerstört wird, darf sicher gesprochen werden. Liegt somit nicht ein Verbrechen gegen einen Kulturschatz vor?
Finden sich die Reformer etwa auch in dem „Roten Buch“?
Übrigens: das Schweizerdeutsch ist im Buch der UNESCO aufgeführt als «Alemannic». Es gehört zu den nichtgefährdeten Sprachen! «Öppis dägege?»
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 11.03.2008 um 23.34 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=984#11636
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Der Autor des UTB-Bandes "Grundkurs Sprachwissenschaft" war seit etwa 1987 in der Vorbereitung der RSR sehr gut orientiert. 1995 äußert er sich zum bevorstehenden Destruktionsunternehmen sehr zurückhaltend, um nicht dem "Lager der Gegner" zugeordnet zu werden. Zugleich aber gibt er zu (verstehen), daß noch 1995 außerhalb des Zirkels der Eingeweihten niemand recht wußte und wissen sollte, was dieser ausheckt. Das Schreibvolk 1996 vor vollendete Tatsachen zu stellen war also die (demokratische!) Absicht, jeden Einspruch mit "zu spät" vom Tisch zu wischen, jeden Kritiker als Verunsicherer zu brandmarken und jede Insurrektion im Keim zu ersticken.
Heute nun lautet der – zu frühe – Schlachtruf: "Endlich Sicherheit!".
Der mag vielleicht Minister Schäuble freuen, denn Schreibsicherheit wird ja angesichts des "Schreibgeschehens" nicht gemeint sein.
Zunächst ist umgehend der Rest der dümmlichen und der verqueren Regelungen zurückzunehmen, um so (hübsch leise) den status quo ante wieder herzustellen. Danach erst kann die sicher mehr als ein Jahrzehnt dauernde Wiederherstellung der Schreibsicherheit beginnen.
Was für eine Perspektive!
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