Zum vorherigen / nächsten Tagebucheintrag
Zu den Kommentaren zu diesem Tagebucheintrag | einen Kommentar dazu schreiben
02.02.2008
Zur Erinnerung an Karlsruhe
Joachim Wieland bald Vizepräsident?
Als künftiger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts ist Joachim Wieland im Gespräch.
Zur Karlsruher Anhörung hatte er im Auftrag der Reformpolitiker ein Gutachten angefertigt, zu dem ich damals folgendes notierte (mit Ergänzungen aus heutiger Sicht):
"Die Geschichte der deutschen Rechtschreibung ist die Geschichte ihrer Reformen." (1) Das ist ganz falsch. Es hat nie eine Reform gegeben, nur Vorschläge – und Rust.
"Schon der Begriff der Rechtschreibung setzt eine normative Durchdringung der Schreibung voraus, die nur der Staat leisten kann." (5) Dann hätten die Engländer keine Rechtschreibung. Vgl. aber:
"ORTHOGRAPHY (...) A term for correct or accepted writing and spelling and for a normative set of conventions for writing and especially spelling." (The Oxford Companion to the English Language. London 1992)
Wieland widerspricht sich auch ständig, weil er andererseits ganz richtig hervorhebt, daß der Staat nur dem Usus folgte.
"Einige Umlautschreibungen wie Gämse werden einem heute schon verbreiteten Schreibgebrauch angeglichen." (27) Das ist sachlich falsch, diese und andere Augstsche Schreibungen waren keineswegs angebahnt.
"Kleine Änderungen ergeben sich auch bei der Getrennt- und Zusammenschreibung." (27) Sie waren so beträchtlich, daß die Reform daran scheiterte.
"Sie (die Reform) war durch jahrelange wissenschaftliche Untersuchungen vorbereitet und von den zuständigen Verwaltungsträgern auf ihre Angemessenheit hin überprüft worden." (40)
– Aber nie von Sprachwissenschaftlern, die nicht absolut reformwillig waren.
"Der Schreibgebrauch entwickelt sich in der Bevölkerung in verschiedene Richtungen, wenn er sich selbst überlassen bleibt." (41)
Nein, er konvergiert, vor allem durch staatliche Einheit, vor allem aber durch die Dichte der kommunikativen Beziehungen, ebenso wie die Sprache insgesamt: Ausgleichsbewegungen.
Schon das bloße Vorhandensein orthographischer Wörterbücher wirkt vereinheitlichend, z.B. Adelung, obwohl die Klassiker ihn verspotteten.
Wieland behauptet ohne Beleg (und aus heutiger Sicht nachweisbar irrig), daß die Neuregelug das Erlernen von Deutsch als Fremdsprache erleichtere.
"Die Vorstellung der Beschwerdeführer, Rechtschreibung könne sich allein am Schreibgebrauch orientieren, ist begrifflich und historisch verfehlt." (43)
Das ist bloßes Spiel mit Worten, Norm als Geltung und als Setzung sowie als Usus – Wieland kann das nicht auseinanderhalten. Der Beobachter erfährt die Norm als Usus, der Teilnehmer erfährt sie als Geltung, und manchmal tritt sie auch als Setzung auf, aber das ist unwesentlich.
"Rechtschreibung ist ohne Regeln nicht denkbar, Regeln wiederum entstehen nur durch den Akt der Regelsetzung." (43)
Das ist nochmals falsch, wenn man Regeln als Regularitäten versteht. Rechtschreibung kann funktionieren, ohne daß die Regeln je formuliert, geschweige denn gesetzt sind.
Damals erzählte mir ein befreundeter Juraprofessor, daß man für solche Gutachten mit Vortrag zwischen 30.000 und 70.000 DM bekomme. Ich hatte gerade meine Reise nach Karlsruhe mit Übernachtung aus eigener Tasche bezahlt …
Diesen Beitrag drucken.
Kommentare zu »Zur Erinnerung an Karlsruhe« |
Kommentar schreiben | neueste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben |
Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 02.02.2008 um 18.22 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=961#11341
|
Aufgrund welcher Befähigung haben eigentlich die Reformpolitiker den Juristen Wieland mit einem Gutachten beauftragt, in dem sprachwissenschaftliche Fragen behandelt werden (wie etwa das Konvergenz- bzw. Divergenzverhalten des Schreibbrauchs nach einer Aufhebung der staatlichen Rechtschreibnorm)?
|
Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.02.2008 um 16.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=961#11345
|
Was der andere Jurist, Wolfgang Löwer, in Karlsruhe vorlegte, ist in meinem Buch "Regelungsgewalt" ausführlich zitiert und kommentiert; der Text ist unter www.vernuenftig-schreiben.de/dokumente.html abrufbar.
Juristen können alles.
|
Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 03.02.2008 um 18.43 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=961#11346
|
"Wir Juristen können alles", sagte mir einmal ein Bekannter und bezog ausdrücklich auch die Medizin ein. Prophetische Fähigkeiten hatte er jedoch nicht, denn er hatte vorhergesagt, das Bundesverfassungsgericht werde die "Rechtschreibreform" nach dem Wesentlichkeitsprinzip kippen.
|
Kommentar von R. M., verfaßt am 29.07.2010 um 12.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=961#16616
|
Die Nichtabsetzbarkeit von Arbeitsräumen in Privatwohnungen ist »verfassungswidrig«, die Rechtschreibreform hingegen ging in Ordnung. Es ist immer wieder unglaublich zu sehen, wie Karlsruhe in die letzten Details der Steuergesetzgebung hineinpfuscht, statt die Kernfragen in seinem Kompetenzbereich (man denke nur an die Auflösung des Bundestags 2005 oder die kürzlich vom EuGH mißbilligte Entscheidung zur Sicherungsverwahrung 2004) befriedigend zu beantworten. Es handelt sich wohl um eine Art juristischer Ersatzbefriedigung.
|
Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.05.2011 um 12.07 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=961#18603
|
Der Jurist Wolfgang Löwer, der in Karlsruhe das zweite Gutachten neben Wieland vorlegte, hat jetzt extern im Fall Guttenberg gegutachtet. "Als Ombudsmann der Deutschen Forschungsgemeinschaft wacht Löwer bundesweit über die Integrität der Wissenschaft."
Der Text, den er seinerzeit vorlegte und in sehr ähnlicher Form auch schon in der Sache Holstein/Land Berlin verwendet hatte, stimmte weitgehend überein mit einem Aufsatz, den sein Assistent Jörg Menzel in der NJW veröffentlicht hatte. Das ist aber kein Fall von Plagiat, sondern unter Jura- und Medizinprofessoren üblich. Die Assistenten nehmen es hin, weil sie ja auch einmal Professoren zu werden hoffen und es dann ebenso halten werden.
Löwer hat übrigens noch einmal nachgetreten. In einer Arbeit über Tierschutz als Staatsziel bemerkt er beiläufig:
"Signifikante Beispiele für solches Raumgeben für subjektive
Präferenzentscheidungen hat z. B. die Diskussion um die Rechtschreibreform geliefert24: Hier haben jene Verwaltungsrichter, die in sich selbst das Hüteramt für die Sprache spürten, durchaus leichtherzig Konstruktionen gewählt, mit denen sie sich im Sinne angemaßten Wissens über kompetenzgerecht getroffene Entscheidungen hinweggesetzt haben. Korrigiert hat das erst das Bundesverfassungsgericht.25"
Dazu die Fußnoten:
24 S. dazu Jörg Menzel, Sprachverständige Juristen. Ein Zwischenbericht zum Rechtsstreit um die Rechtschreibreform, RdJB 1998, S. 36 f.
25 BVerfGE 98, 218 – Rechtschreibreform.
(Wolfgang Löwer: Tierschutz als Staatsziel – Rechtliche Aspekte. In: Tierschutz als Staatsziel? Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte, herausgegeben von Felix Thiele. Bad Neuenahr-Ahrweiler 2001.)
–
Also: Die Juristen, die gegen die Reform entschieden haben, maßten sich ein Hüteramt für die Sprache an, die Befürworter hingegen, wie Löwer und sein Assistent sowie die Verfassungsrichter, brauchen sich diesen Vorwurf nicht machen zu lassen. Wie wir alle wissen, haben Löwer, Wieland und die Richter sehr wohl auch sprachwissenschaftliche Aussagen gemacht oder zumindest den sprachwissenschaftlichen Aussagen der Kultusminister zugestimmt, obwohl sie von der Mehrheit der Sprachwissenschaftler entschieden abgelehnt wurden. Wir wissen, wie es weiterging: die Reform mußte großenteils zurückgenommen werden, vor allem wegen der Verkehrtheit des sprachwissenschaftlichen Ansatzes und der Unfähigkeit der Reformer. Mit wieviel List und Tücke die Reform sonst noch durchgesetzt wurde, ist bekannt. Ein Ombudsman der DFG hätte in Sachen Rechtschreibreform einiges zu tun.
|
Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 07.05.2011 um 15.19 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=961#18605
|
Die Auffassung von Professor Löwer ist mitnichten inkohärent. Daß für die Rechtschreibung die Schule kompetent ist, weiß er genau; schließlich hat er selbst dort lesen und schreiben gelernt. Daß für die Schule die Kultusminister kompetent sind, ist eine durch sein juristisches Fachwissen hinreichend gesicherte Tatsache. Und bei der Schlußfolgerung, also seien die Kultusminister für die Rechtschreibung kompetent, darf er sich unwidersprochen auf die "allgemeinen Denkgesetze" berufen. Deshalb haben nicht nur Verwaltungsgerichte "sich im Sinne angemaßten Wissens über kompetenzgerecht getroffene Entscheidungen hinweggesetzt", sondern auch die Sprachwissenschaftler, die deren Urteile mit ihren Argumenten stützten. Denn wenn die Rechtschreibung vom Staat kommt, beschränkt sich die diesbezügliche Zuständigkeit von Sprachwissenschaftlern auf das Abfassen von Ausführungsbestimmungen. Entsprechend maßt Professor Löwer seinerseits sich keineswegs Wissen an, wenn er auf sprachwissenschaftliche Argumente zurückgreift, soweit die Kultusminister sich diese Argumente zuvor zu eigen gemacht haben. Wer ihnen die Zuarbeit geleistet hat, ist dabei unerheblich.
|
nach oben
Zurück zur vorherigen Seite | zur Tagebuchübersicht
|