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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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14.01.2008
 

Weniger Begriffe
Zu einer überholten Dissertation von Sabine Mayr

Von Frau Mayrs Dissertation war hier schon einmal die Rede.
Die Medien meldeten seinerzeit, die Germanistin habe herausgefunden, daß die Neuregelung mit etwas weniger Grammatikkenntnissen auskomme (science.orf.at).

Das mag so sein, niemand will ausgerechnet die Regelformulierung bei Duden und Bertelsmann loben. Es gibt bessere, z. B. meine. Aber was hat Frau Mayr eigentlich untersucht? Hier die Verlagswerbung:

»Grammatikkenntnisse für Rechtschreibregeln?
Drei deutsche Rechtschreibwörterbücher kritisch analysiert
Welche Rechtschreibregeln verlangen weniger Grammatikkenntnisse von Schreibenden – die "alten" oder die reformierten? Sabine Mayr untersucht die Regelverzeichnisse dreier gängiger "alter" und "neuer" Rechtschreibwörterbücher (Duden, 20. Aufl. 1991 und 22. Aufl. 2000; Bertelsmann 1999) darauf hin, welche grammatischen Fachausdrücke sie als bekannt voraussetzen, wo Verständnisprobleme liegen und ob bzw. wie diese gelöst werden können (z. B. welche Grammatik weiterhilft). Der Vergleich zeigt, dass mit der Reform die Regelverständlichkeit etwas verbessert worden ist.«

Wen interessieren die Regeln in drei völlig veralteten Wörterbüchern? Und haben die Wörterbücher die amtlichen Regeln überhaupt angemessen wiedergegeben? Nur die amtlichen Regeln sind ja jetzt noch verbindlich, nicht was Verlage oder Redaktionen daraus machen.

Die Dissertation ist bei Niemeyer im Dezember 2007 erschienen – in alter Rechtschreibung!



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Kommentare zu »Weniger Begriffe«
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Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 22.01.2008 um 09.39 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11233

Der Frage von Herrn Weiers würde ich vorsichtig zustimmen. "Rein optional" ist methodisches Vorgehen bei Dissertationen nicht, das wäre übertrieben, aber daß man mit erheblichen methodischen Mängeln durchkommen kann – dafür hat Frau Doktor Mayr den Beweis ja angetreten.
"Man soll Dissertationen nicht zu streng bewerten", schreibt Professor Ickler. Diese Großzügigkeit müßte ich auch für meine eigene Doktorarbeit in Anspruch nehmen – sie enthält einen (Gott sei Dank für die Arbeit und ihr Ergebnis nicht wichtigen) methodischen Fehler, der mir erst Jahre später klargeworden ist, nachdem ich mich mit einer der genutzten Methoden sehr viel eingehender beschäftigt hatte.
Durch Zufall erfuhr ich lange Zeit später, daß meine Arbeit für vier oder fünf andere Doktoranden als "Strickmuster" gedient hatte, die – trotz anderer Fragestellungen – gerade in der Methodik vieles mehr oder minder "abgekupfert" haben – das hat alles problemlos funktioniert.
Aus meiner heutigen Sicht ziehen Mängel in der Methodik in erster Linie mehr Mühen für Doktoranden und evtl. Leser/Nutzer nach sich.
 
 

Kommentar von David Weiers, verfaßt am 21.01.2008 um 17.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11231

Ich bin ein wenig ratlos. Nach allem, was ich jetzt über die Arbeit von Frau Mayr weiß, frage ich mich, ob methodisches Vorgehen bei Dissertationen doch nur rein optional ist. Oder bin ich der einzige, dem Frau Mayrs Methode unverständlich geblieben ist?
 
 

Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 20.01.2008 um 14.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11219

Nach Frau Mayrs Logik würde die Kommasetzung erheblich vereinfacht, wenn man die amtlichen Kommaregeln durch die Vorschrift ersetzte: „Nach Wörtern mit einer ungeraden Anzahl von Buchstaben steht ein Komma.“ In dieser Regel ist überhaupt kein wirklicher grammatischer Fachausdruck enthalten, und dennoch wäre nach einer solchen „Reform“ das richtige Schreiben viel mühseliger.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 20.01.2008 um 10.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11217

Eigenartige Sache, das ...

Zunächst die Nichtanwendung der eigentlich als Ergebnis gelobten reformierten Schreibung.
Dann die übertriebene Political Correctness.
Weiters die Art des Umgangs mit Banalitäten.
Sowie die offenbar ausführliche Beschäftigung mit Fragen, die sich eigentlich niemandem stellen.
Schließlich als Hauptthema die Erkenntnis, daß Wörterbuchredaktionen bei ihrer Formulierung der jeweiligen "Regeln" bei der reformierten Version offenbar weniger grammatische Fachbegriffe verwendeten als bei früheren Beschreibungen. Und letztlich der Schluß, daher seien die Regeln der reformierten Version verständlicher.

Man kommt irgendwie nicht umhin, entweder anzunehmen, die Autorin könnte sich auf subtile Weise über die Situation lustig gemacht haben, indem sie eine Art Persiflage verfaßte, andernfalls hätte sie das Thema großflächig verfehlt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2008 um 07.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11216

Der Schweizer Erziehungswissenschaftler Arthur Brühlmeier ist der Verfasser eines ziemlich bekannten Artikels: "Sprachzerstörung aus Konzilianz – die Umkehr ist fällig". Darin wird das generische Maskulinum verteidigt. Der Verfasser sah sich genötigt, unter die letzte Fassung zu schreiben:

"Bemerkung April 2007: Meine Argumentation ist für gewisse Befürworter der hier kritisierten feministischen Sprachgebräuche offenbar so störend, dass bei Wikipedia im Artikel "Binnen-I" der Link auf diese Seite systematisch gelöscht wird."

Löschvandalismus und Zensur bei Wikipedia werden auf die Dauer den Ruf dieses Unternehmens stärker ramponieren als Fehlinformationen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2008 um 06.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11215

Zur feministischen Korrektheit noch eine Beobachtung: Nur in Fach- und Verwaltungstexten, wo man weder auf Schönheit noch auf Lesbarkeit Wert legen zu müssen glaubt, kann man sich diese Verschnörkelung der Sprache erlauben. Ein Schriftsteller würde sich damit sofort unmöglich machen. Die Praxis zeigt, daß belletristische Texte nach wie vor mit dem generischen Maskulinum auskommen:

"Wenn man sich jahrelang mit allen Tricks gegen die Tagebuchspitzelei seiner Mutter verteidigt hat und plötzlich hat man ihre sämtlichen Aufzeichnungen zur persönlichen Verfügung – da kommt schon eine schwere Entscheidung auf einen zu." (Kirsten Boie: Kerle mieten. Hamburg 2001:57; die Sprecherin ist weiblich)

In Fachtexten kann die Politische Korrektheit leicht lächerlich wirken. Hatte ich das folgende Beispiel aus einem biologischen Artikel schon mal zitiert?

"How does one determine when an organism is wielding concepts generalized from what he or she can directly perceive (the outward manifestation) ..."

Wohlgemerkt, es geht nicht um Menschen, sondern um Organismen, die normalerweise mit "it" wiederaufgenommen werden. Aber das Mühlchen der Korrektheit klappert mechanisch weiter.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.01.2008 um 17.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11212

Mayr, Sabine: Grammatikkenntnisse für Rechtschreibregeln? Drei deutsche Rechtschreibwörterbücher kritisch analysiert. Tübingen 2007 (RGL 273)

(Dissertation bei Werner König, Augsburg)

Man soll Dissertationen nicht zu streng bewerten. Immerhin ist das vorliegende Buch in einer repräsentativen Reihe bei einem angesehenen sprachwissenschaftlichen Verlag erschienen. Interessierte haben ein Recht darauf, über Inhalt und Qualität informiert zu werden.

Aus der Einleitung:

„Ich habe mich für die 'alte' Rechtschreibung nach dem RS-Duden, 20. Aufl., entschieden, da ich sie trotz ihrer Schwächen (z. B. zu wenig generelle Varianten im Bereich der Fremdwortschreibung) für eine Norm halte, die insgesamt lesefreundlicher ist und dem Sprachsystem des Deutschen und seiner Entwicklung besser gerecht wird als die reformierte Rechtschreibung.“ (6)

Der erfreulichen Orthographie steht leider eine gar nicht lesefreundliche Störung des Leseflusses durch feministische Formeln gegenüber: „Daher erwartet der Benützer/die Benützerin, wenn er/sie schon nicht die fertige Lösung präsentiert ...“ usw. Dieses vollautomatische „Sichtbarmachen“ des weiblichen Teils der Menschheit bei jedem Vorkommen von Personenbezeichnungen ist ungemein lästig.

Beschwerlich wirkt auch die dissertationstypische Explizitheit, die Banalstes aussprechen und auch noch mit Zitaten belegen zu müssen glaubt:

„Der Unterschied zwischen Fachleuten und Laien besteht generell darin, daß letztere 'in einem bestimmten Fach bzw. in einem bestimmten Sachbereich über ein signifikant niedriges Wissensniveau' verfügen, erstere aber 'über ein signifikant hohes Wissensniveau' (Wichter 1994: 54).“ (S. 8)
Wer hätte das gedacht! Fachleute wissen mehr als Laien - dazu muß man keinen Gelehrten zitieren, man muß es eigentlich gar nicht aussprechen.
„Man spricht im Anschluß an Kalverkämper (1990: 112, 123) auch davon, daß Texte einen unterschiedlichen Grad an Fachsprachlichkeit aufweisen können.“ (S. 14) Davon spricht man nicht erst seit Kalverkämper.
Über die „prekäre Lage von Analphabeten/-innen“: „Sie haben aufgrund ihrer eingeschränkten Lesefähigkeit nicht einmal ausreichenden Zugang zu schriftlicher Information.“ (S. 299)
In den ausufernden Fußnoten werden Lesefrüchte mitgeteilt, von denen die Verfasserin sich nicht trennen konnte, auch wenn sie nicht zum Thema gehören.

Aus der Verlagsankündigung:

„Welche Rechtschreibregeln verlangen weniger Grammatikkenntnisse von Schreibenden - die "alten" oder die reformierten? Sabine Mayr untersucht die Regelverzeichnisse dreier gängiger "alter" und "neuer" Rechtschreibwörterbücher (Duden, 20. Aufl. 1991 und 22. Aufl. 2000; Bertelsmann 1999) darauf hin, welche grammatischen Fachausdrücke sie als bekannt voraussetzen, wo Verständnisprobleme liegen und ob bzw. wie diese gelöst werden können (z. B. welche Grammatik weiterhilft). Der Vergleich zeigt, dass mit der Reform die Regelverständlichkeit etwas verbessert worden ist.“

Hier zeigt sich schon die Prolematik der Arbeit: Wen interessieren die Regelformulierungen der Wörterbuchredakteure? Es geht doch um den Vergleich der traditionellen und der reformierten Rechtschreibung. Außerdem sind die drei Wörterbücher inzwischen mehrfach überholt, aber die Verfasserin begnügt sich mit dem Hinweis in einer Fußnote, die Revision habe an den Dudenregeln nichts Wesentliches geändert. Es wird gar nicht berücksichtigt, daß die Dudenredaktion gegen ihren Willen und gegen ihr besseres Wissen aus den amtlichen Regeln etwas machen mußte, was in etwa den bisherigen Gepflogenheiten des Duden entsprach: „Richtlinien“ zu formulieren, weil man offenbar nicht von der Vorstellung loskam, so etwas gehöre zu einem ordentlichen Rechtschreibwörterbuch dazu. (Entgegen einer von Mayr mitgeteilten Auskunft der heutigen Dudenredaktion kann das traditionelle „R“ im alten Duden nur als Abkürzung von „Richtlinie“ und nicht von „Regel“ verstanden werden, vgl. die Benutzungshinweise in den älteren Ausgaben!)

Die Verfasserin versteht unter Rechtschreibung oder Orthographie die „explizite, kodifizierte Norm der Schreibung einer Sprache“ (1). „Kodifiziert ist die Rechtschreibung als 'externe' Norm in schriftlich aufgezeichneten Regeln, die als Handlungsanweisungen dienen.“ (2) Selbst wenn man die „Regeln“ so weit faßt, daß auch schlichte orthographische Wörterverzeichnisse darunterfallen, ist das eine willkürliche Einengung. Orthographie hat es als lehr- und lernbare Fertigkeit lange vor jeder Kodifizierung gegeben, und verbindliche Regelwerke gibt es noch heute in vielen Kultursprachen nicht, die durchaus großen Wert auf Orthographie legen.

Die behauptete Abwertung von Menschen, die schwach in Rechtschreibung sind, ist nicht wirklich belegt. Stickel übertreibt wahrscheinlich stark, wenn er sagt: „Wer vor einem erweiterten Infinitiv kein Komma setzt, gilt nicht nur als dumm und ungebildet, sondern wäscht sich vielleicht auch nicht regelmäßig.“ (zitiert S. 2) Die „Pervertierung der Rechtschreibung zum Mittel der sozialen Selektion und Diskriminierung“ wird zwar oft behauptet, aber selten empirisch nachgewiesen, zumal für die Gegenwart. Bekannt ist Augsts Berufung auf vierzig Jahre alte Beispiele. Daß Arbeitgeber auf Rechtschreibung einen gewissen Wert legen, ist ja nicht abwegig. Warum sollten Rechtschreibfehler in Bewerbungen weniger ins Gewicht fallen als Fettflecke und Eselsohren?

„Zwar schreiben Erwachsene vieles unbewußt normgemäß, doch können sie dann, wenn sie bei einer Schreibweise unsicher sind, aber normkonform schreiben müssen oder wollen, nicht immer vermeiden, sich mit Rechtschreibregeln auseinanderzusetzen. Diese sind aber ohne grammatisches Wissen weder erschließbar noch aufstellbar.“ (1)

Das ist unrealistisch. In den Dudenregeln wurde gerade von professionell Schreibenden, etwa Sekretärinnen, praktisch nie nachgeschlagen. Man schlug und schlägt im Wörterverzeichnis nach. Die Regeln, genauer „Richtlinien“, waren immer etwas für Kenner und Liebhaber (Lehrer). Die Verfasserin spricht selbst von „oft nicht einmal wahrgenommenen Teilen“ des Rechtschreibwörterbuchs, wozu sie auch die Regelteile zählt. (7) Nach ihrer Vorstellung sollte aber, wie ja auch Augst und andere Reformer meinen, der Regelteil in Zukunft eine größere Rolle spielen. Deutlicher ausgedrückt: Während die Richtlinien des alten Dudens weitgehend redundant und unbeachtet waren, sollen die Regeln der reformierten Rechtschreibung geradezu das Kernstück der Norm bilden, von dem die Einzelwortschreibungen abzuleiten seien. Diese erhoffte größere Bedeutung der Regeln nimmt die Verfasserin gewissermaßen vorweg, sonst wäre ihre Arbeit noch unwichtiger, denn wen kümmert die Qualität von Regelformulierungen, die er nie zu Rate zieht?

Die Regeln in den reformierten Wörterbüchern sind auf das amtliche Regelwerk von 1996 bezogen, von dem die Verfasserin ausdrücklich nicht handelt. (Die seltsame Begründung steht auf S. 21: es sei nicht beworben worden und nicht mehr lieferbar. Lieferbar sind die Wörterbücher inzwischen auch nicht mehr, und das Regelwerk war kein kommerzielles Erzeugns, sondern ein Erlaß der Kultusminister, wurde daher nicht beworben! Das amtliche Regelwerk ist aber immerhin der einzige noch verbindliche Text, man kann es nicht einfach aussparen.) Demgegenüber waren die alten Dudenregeln längst ohne Bezug zur amtlichen Regelung von 1901; es handelte sich um – inzwischen alphabetisch angeordnete – „Richtlinien“, die kaum mit der systematischen Darstellung im amtlichen Regelwerk von 1996 und später verglichen werden können.

Die Reformer sahen sich vor der selbstgestellten Aufgabe, die neue Rechtschreibung von erst noch aufzustellenden Regeln abzuleiten, zugleich aber das schriftliche Erscheinungsbild deutscher Texte nicht allzu stark zu verändern – und zwar einzig aus taktischen Erwägungen der politischen Durchsetzbarkeit, denn die Reformer selbst hätten auch gegen radikale Veränderungen nichts einzuwenden gehabt, wie ihre Reformvorschläge der späten achtziger Jahre zeigen. Diese Konstellation wird ebenso wie die besondere Situation der alten Dudenredaktion von der Verfasserin zu wenig berücksichtigt.

Mayr präpariert aus den Regelformulierungen jeweils die Grammatik heraus, die dem Wörterbuch implizit zugrunde liegt, und vergleicht diese Grammatiken dann. Es wäre sinnvoller gewesen, die den Wörterverzeichnissen implizit zugrundeliegende, von den Redaktionen aber nur teilweise korrekt beschriebene Grammatik zu vergleichen. Noch sinnvoller wäre es gewesen, die grammatischen und sonstigen linguistischen Grundlagen der tatsächlich üblichen Schreibweisen mit denen zu vergleichen, die von den Reformern in die neuen Regeln gefaßt und von dort in die neuen Schreibweisen hineindeduziert worden sind. Aber die tatsächlich im Deutschen üblichen Schreibweisen und ihre verborgene intuitive Grundlage in grammatischen, textsemantischen und lesepsychologischen Interessen hat bisher niemand dargestellt - außer mir, der ich zuerst das Nächstliegende unternommen habe: ein Wörterbuch der wirklich üblichen Schreibweisen anzufertigen; erst dann konnte versucht werden, diesen Befund auf deskriptive „Regeln“ zu bringen. Ich hätte nicht ungern einmal erfahren, wie es um die Verständlichkeit meiner eigenen Regelformulierungen bestellt ist. Aber so etwas liegt ganz außerhalb des Gesichtskreises von Frau Mayr, die mein Wörterbuch (in der früheren Fassung von 2000) immerhin im Literaturverzeichnis anführt.

Ich habe mich übrigens nicht nur knapp in von Mayr zitierten Schriften über die Dudenregeln geäußert, sondern ausführlich in meinem Kommentar zum Duden von 1991. Mayr zitiert meinen Satz über den alten Duden: „Alle Richtlinien sind allgemeinverständlich und in keiner Weise schwierig oder kompliziert zu lesen.“ (S. 10) Sie findet das „aus Laiensicht [nicht] nachvollziehbar“. Darüber kann man streiten, aber Mayr übersieht, daß ich gleichwohl die Problematik dieser scheinbar einfachen Richtlinien deutlich herausgearbeitet habe.
Die Verfasserin zitiert mich oft und auch zustimmend (wie sie überhaupt Kritik an anderen Autoren meidet), aber ich bin darüber nicht immer ganz glücklich. Hier eines der wenigen Beispiele einer kritischen Wiedergabe: „Im Gegensatz zu Ickler (2001: 292) bin ich der Meinung, daß nicht erwartet werden kann, daß nur diejenigen Entlehnungen benützen, die die Herkunftssprachen beherrschen. Ein Fremdwort wie Prognose dürfte z. B. bei vielen zum aktiven Wortschatz gehören, ohne daß sie auf Altgriechischkenntnisse zurückgreifen und den Wortaufbau bestimmen können.“ (S. 211)
Nun, so töricht oder versnobt, wie Mayr mich hier darstellt, bin ich nicht, und ich habe auch die legitime Verwendung griechischer Fremdwörter nicht von der Beherrschung des Altgriechischen abhängig gemacht, sondern gegen die Duden-Silbentrennung (im „Großen Wörterbuch“) an der betreffenden Stelle folgendes eingewandt: „Besonders sinnvoll erschienen dem Duden: Anas-tigmat, Emb-lem, Emb-ryo, Emig-rant, E-nergie, E-pis-tyl, Lac-rosse, Me-töke, Monoph-thong, monos-tichisch, Pen-tathlon, Prog-nose, Katam-nese, Tu-ten-cha-mun und viele tausend ähnliche Trennungen, die man nicht einmal mehr als laienhaft bezeichnen möchte. Es ist unplausibel, daß jemand solche bildungs- und fachsprachlichen Wörter benutzen und zugleich so wenig von ihrem Aufbau wissen sollte, daß er sie nach Metzgerart zerlegen müßte.“ (Wie man sieht, hat Mayr sich das gemeinsprachlich geläufigste meiner Beispiele herausgesucht.) Man muß kein Altgriechisch können, um die Bestandteile von Prognose wiederzuerkennen und eine im Sinne der Sprachkultur gepflegtere Trennung vornehmen zu können. Im Duden-Universalwörterbuch will die Redaktion bezeichnenderweise nichts von der neuen Trennung wissen. Man schlägt nach, um die beste Trennung zu finden und nicht irgendeine, die man sich auch ohne Wörterbuch hätte ausdenken können.

Die Forderung nach „einfachen“ Regeln wird in ihrer Problematik deutlicher, wenn man die gleichzeitig erhobene Forderung danebenstellt, die Wortschreibungen müßten aus den Regeln ableitbar sein. Wenn man auf Begriffe bringt, was normalerweise intuitiv getan wird, kann die Formulierung ungemein kompliziert ausfallen. Man denke an Fertigkeiten wie das Binden eines Schlipses oder das Radfahren. Wer könnte ausschließen, daß die Intuitionen, die unserer Rechtschreibfertigkeit zugrunde liegen, ähnlich komplex erscheinen, wenn man sie in begriffliche Form zu bringen versucht?

Außer den drei Wörterbüchern zieht die Verfasserin verschiedene Grammatiken heran, um herauszufinden, was die Wörterbuchbenutzer allenfalls an Grammatikkenntnissen mitbringen könnten. Hier kommt es zu wahrhaft abenteuerlichen Hypothesen. Zuerst nimmt Mayr an, daß die Ratsuchenden überhaupt den Regelteil der Wörterbücher benutzen, was schon sehr selten der Fall sein dürfte. Sodann nimmt sie an, daß ein Wörterbuchbenutzer, wenn er mit den grammatischen Begriffen des Regelteils nicht zurechtkommt, eine Grammatik zur Hand nimmt, und zwar der Dudenbenutzer vorzugsweise die Dudengrammatik, der Bertelsmannbenutzer die Bertelsmanngrammatik! „Hier dürfte wie bei den Duden-Benützer/-innen die Markentreue bzw. die Annahme, Rechtschreibwörterbücher und Grammatik aus dem gleichen Hause ergänzten sich besonders gut, eine Rolle spielen.“ (S. 29) Die Verfasserin macht sich also Gedanken, warum sich Wörterbuchbenutzer so verhalten, wie sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach praktisch nie verhalten!

Das Verfahren der Verfasserin läßt sich am Beispiel des Stammprinzips veranschaulichen. Hier weist sie zuerst mit entsprechenden Zitaten nach, daß Quäntchen eine volksetymologische Umdeutung ist. Entsprechend gehorcht auch verbläuen nicht wirklich dem Stammprinzip. Aus Götzes Bertelsmann-Rechtschreibung wird zitiert: „Hier wird jetzt konsequent das Stammprinzip angewendet“ usw. Ihre Schlußfolgerung aus den umständlichen Erörterungen: „Das Verständnis der Duden-Grammatik von 'Stammprinzip' hilft den Benützern/-innen des RS-Bertelsmanns nur begrenzt, da es zu eng ist. Denn der RS-Bertelsmann geht von einem Stammprinzip sowohl nach sprachgeschichtlichen als auch nach volksetymologischen Kriterien aus.“ (S. 205)

Man sieht hier, wie sehr Mayrs Erörterung neben der eigentlichen Sache liegt. Der Bertelsmann vollstreckt doch nur die von Augst in die Reform eingebrachte Orientierung an willkürlich ausgewählten Volksetymologien. Heranzuziehen wären also die amtlichen Regeln. Götzes Zutat ist die sachlich falsche Propagandaformel von der „konsequenten“ Anwendung des Stammprinzips. Was soll hier die Dudengrammatik? Sie verficht als wissenschaftliche Grammatik natürlich den wissenschaftlichen Begriff von Etymologie und Morphologie; Volksetymologie gehört in ein anderes Kapitel der Sprachwissenschaft. Der eigentlich bedeutsame Sachverhalt ist die Augstsche Gewaltsamkeit mitsamt ihren verhängnisvollen Folgen für die sprachliche Bildung, nachzulesen in reformierten Sprachbüchern (und in „Regelungsgewalt“). Darauf geht die Verfasserin aber gar nicht ein. Stattdessen stellt sie die irreale Frage, ob ein Benutzer der Bertelsmann-Rechtschreibung in der Dudengrammatik erfährt, wie das Stammprinzip auszulegen ist. So hat das ganze Buch etwas Gespenstisches.

 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 19.01.2008 um 13.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11209

Neben den bereits diskutierten Sachfragen erscheint es nartürlich interessant, wieso der Max Niemeyer Verlag im Dez. 2007 ein Buch mit Listenpreis 74.- € herausbringt, das eine Fragestellung behandelt, die als vollkommen obsolet betrachtet werden kann? Wie ich es verstehe, wird das 98er amtliche Regelwerk untersucht. Schlußfolgerungen auf dieser Basis sind bestenfalls für Geschichtsschreiber von Interesse.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2008 um 11.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11206

Zur Dissertation von Sabine Mayr, die ich inzwischen überflogen habe, will ich in Kürze ein paar Notizen mitteilen. Vorab nur dies: Der erste kleine Test zu den Grammatikkenntnissen von Studienanfängern wurde im Wintersemester 2000/20001 in Augsburg durchgeführt, d. h. die Arbeit an der Dissertation muß kurz vorher begonnen worden sein, als die zweiten Reformauflagen der beiden Wörterbücher gerade erschienen waren. Die Arbeit ist also mitsamt ihrer Fragestellung im Kern bereits acht oder neun Jahre alt, erscheint aber erst jetzt im Druck.
 
 

Kommentar von David Weiers, verfaßt am 18.01.2008 um 09.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11202

Die anderthalb Jahre sind auch nur reine Höflichkeit, teilweise aber Vorsichtsmaßnahme. Bedenken Sie: der Doktorvater, der sich mir für solch eine Arbeit zur Verfügung stellte, sollte doch bitte nicht kompromittiert werden; vielleicht hätte er eine solch bahnbrechende Untersuchung schon längst selbst durchgeführt, ...wenn er die Zeit gehabt hätte. Und stellen Sie sich mal vor, da kommt dann einer und knallt ihm die Vergleichstabellen mit Erläuterungstext schon nach drei Wochen hin.
Oder alles wird abgelehnt, weil er meint, es wäre abgepinnt.
Also man muß das schon was in die Länge ziehen.

Beinahe possierlich anzuschauen sind auf der angegebenen Seite des ORF aber auch die doch so qualifizierten Kommentare der Diskutanten, die zu einem Thema, wovon sie aber auch gar keine Ahnung haben, mal wieder nur die besten Äußerungen bringen.
Hach, was ist die Welt doch schön, wenn man nur einen klitzekleinen Teil von ihr kennt!

(Es gab mal im Radio Werbung für die Gelben Seiten. Da hieß es dann: "Vielleicht hätten Sie jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt?"
Ganz hübsch dieses Sätzchen. Eigentlich.)
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 18.01.2008 um 08.14 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11201

Dem Forumsteilnehmer "Erste gelungene Rechtschreibreform seit 1902" vielen Dank für seinen entlarvenden Hinweis.
Früher war es ein peinlicher, ja peinigender Zustand, entlarvt zu sein und ohne Kleider dazustehen. Mir kommt das lateinische Wörtchen "olim" in den Sinn, so vergangen muß das sein.

Zu Herrn Weiers: Nach der Lektüre des ORF-Beirags, auf den Professor Ickler verwiesen hat, habe ich keine Zweifel, daß alle seine Befürchtungen bezüglich der Doktorarbeit von Frau Mayr zutreffen. (Allerdings sollte man für eine solche Abarbeitung keine anderthalb Jahre brauchen.)

Noch eine Korrektur zu meinem letzten Beitrag in diesem Diskussionsfaden: Die Produktion von Bio-Diesel aus Raps ist nicht so sehr widersinnig wegen einer ungünstigen Kohlendioxidbilanz - es ist die insgesamt deutlich negative Treibhausgasbilanz, die eine Weiterführung der Subventionierung eines solch unsinnigen Tuns als trotziges Anrennen gegen die Wirklichkeit erscheinen läßt.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 17.01.2008 um 19.27 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11199

Bereits ein Ansatz mit einer Frage wie
"Welche Rechtschreibregeln verlangen weniger Grammatikkenntnisse von Schreibenden?"
sollte in der neueren Linguistik sofort verworfen werden, da seit langem zwischen bewußtem (deklarativem) und nicht-bewußtem (nicht-deklarativem) fachlichem und allgemeinem grammatischem Wissen unterschieden wird. Im zweiten Falle ist zudem noch zu bedenken: Das grammatische Wissen mancher Linguisten ist umfangreich und mehr oder weniger geordnet. Aus ihren Deklarationen indessen läßt sich nicht unmittelbar auf dieses und seine Qualität schließen.

Wer also meint, das Schreibvermögen eines Sprechers sei direkt mit seinen (deklarativen) Kenntnissen im Bereich der Grammatik (welcher?) der gegebenen Sprache korreliert, beweist nur, daß er so gut wie nichts von den Bedingungen des Schreibvermögens (samt Konventionsbewußtsein) der Sprachteilhaber weiß.

Pädagogen als "über den Fächern Stehende" nutzen bzw. mißbrauchen u.a. diesen linguistischen (Bewußtseins)notstand, um die Landeskinder (und in der Andragogik auch manche Erwachsene) täglich neu zu beglücken.
 
 

Kommentar von "Erste gelungene Rechtschreibreform seit 1902", verfaßt am 17.01.2008 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11194

Siehe hier.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 16.01.2008 um 11.39 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11188

Der Regelbegriff in der Linguistik

Zumindest Linguisten sollten wissen, daß "Sprachregeln" nicht erfunden werden, sondern (gott)gegeben sind. Es geht als darum, sie – möglichst sinnvoll usw. – nachzubilden, ohne daß solche Regelformulierungen auch nur den Hauch psychischer Realität hätten. Wenn die Reformer statt einer Gemse lieber eine Gämse hätten, nutzen sie gewisse Arbitraritäten der Einzelwortschreibung. Wenn ihnen aber statt leid tun plötzlich lLeid tun einfällt oder statt zusammenstellen ganz unwitziges zusammen stellen, dann schicken sie sich größenwahnsinnig an, die Sprache zu regeln. Eigentlich müßten sie wissen, daß ihr kleinliches Tun nichts "regelt", sondern nur zu (allein vorübergehender) Verwirrung führt.

"Wir beschreiben also; erschaffen tut Gott" konstatiert Karin Pfeiffer-Stolz. So ist es, denn die uns konstituierende Sprache steht niemandem zur Disposition, auch Oberpriestern und Allwissend(inn)en nicht. Sie verlangt allein die Demut ihrer "Besitzer" oder gar "Beherrscher". Und nur, wer sich für gottähnlich hält, kann auf die Idee kommen, per Schreibung das Regelsystem seiner Sprache zurichten und also zerstören zu wollen.

Den Reformern ist nicht bewußt, daß ihr Eingriff in die – auch Grammatik manifestierende – Schreibung direkt das ohnehin nur recht mäßig beschriebene Regelsystem des Deutschen tangiert. Bis heute geben sie vor, das System dieser Sprache zu verstehen, und blamieren sich genau damit täglich neu.
 
 

Kommentar von David Weiers, verfaßt am 15.01.2008 um 09.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11172

Ich wollte gar nicht so viel anstoßen (sonst diskutieren wir hier nachher noch Kant), sondern nur wissen, wie Sabine Mayr "Regelverständnis" im Rahmen ihrer Dissertation definiert. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß man mit einem bloßen Abmessen von Regeldarstellungen an einer zugrundegelegten (womöglich willkürlichen) "Verstehensmeßlatte" promovieren kann.
Wenn ja, dann gebe man mir anderthalb Jahre Zeit, um meinen Namen zu erweitern: das kann ich dann nämlich auch.

Vielleicht wird so klarer, was ich meine:
Ich kann natürlich solch eine Untersuchung so durchführen:
Regeldarstellung A enthält x grammatische Begriffe; die "Kenntnisnorm" umfaßt aber nur x-n Begriffe. Also ist Regeldarstellung A nicht so gut wie B, denn die enthält n Begriffe weniger.
Die "Kenntnisnorm" (also der "Nullwert", der angibt, wieviel grammatische Kenntnis "normal" ist) müßte dann aber empririsch ermittelt werden, oder aber sie ist willkürlich gesetzt (dem Augstschen Vorgehen bei Erfindung der Etymogeleien identisch), was das Ganze dann natürlich sowieso wertlos macht.
Wenn ich so vorgehe, dann mache ich mir aber nur Schreibarbeit; im Endeffekt kommt ja nichts Aussagekräftiges bei raus.

Abgesehen davon ist es doch schnurzpiepe, ob da eine Regeldarstellung vermeintlich einfacher ist als eine andere, wenn die dargestellten Regeln totaler Kappes sind.

Was hat Frau Mayr also genau gemacht?
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 15.01.2008 um 09.34 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11171

Frau Pfeiffer-Stolz und Herr Weiers führen einmal mehr hervorragende Argumente ins Feld, aufgrund derer die Diskussion um „die“ Rechtschreibreform einfach nicht abreißen darf: Sie ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie „Regelungsgewalt“ (Ickler) in Deutschland derzeit mißbraucht wird. Man muß den Eindruck gewinnen, die Lust an der Ausübung einer sinnwidrigen Gewaltanwendung feiere geradezu fröhliche Urständ. Wenn die dem proklamierten Ziel der Kohlendioxidreduktion zuwiderlaufende Gewinnung von „Bio-Diesel“ aus Raps weiter subventioniert wird (statt diesen fatalen Irrtum umgehend zu beenden), so ist dies ein weiteres Beispiel für die von Frau Pfeiffer-Stolz angeprangerte Hybris, die Wirklichkeit durch willkürliche Regelsetzungen außer Kraft setzen zu wollen.
Wenn wir das mit großem Abstand komplexeste soziale Sicherungssystem der Welt haben (keine Bürokratie außer der deutschen könnte so etwas überhaupt am Laufen halten), so tut die anhängige unausgegorene „Gesundheitsreform“ auf jeden Fall eines: einen tollkühnen Schritt in Richtung von noch mehr Komplexität. Das hochnotable Mitglied unserer Alma mater, das zumindest im Finanz- und Steuerbereich die Dinge in die Richtung von weniger Komplexität lenken wollte, fand sich geschmäht und verunglimpft und vom gezielt in Angst und Schrecken versetzten Wähler abgestraft. („Der Professor aus Heidelberg“ wird nie wieder einen solchen – dringend nötigen – Vorstoß unternehmen.)
An der Spitze der Regierung steht heute in Deutschland zum ersten Mal eine Frau, zugleich zum ersten Mal ein Naturwissenschaftler, zugleich nach sieben Jahren der Hoffart ein Mensch, dem der Begriff Demut vertraut ist – alles gute Voraussetzungen für Besserungen. Daß diese dennoch ausbleiben, ist deprimierend.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.01.2008 um 07.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11169


Nachtrag

Meine grundsätzlichen Anmerkungen sollen nicht den Eindruck erwecken, als sei ich der Meinung, der Mensch könne seine Umgebung nicht formend beeinflussen. Mit dem vorgefundenen „Material“ kann er sehr wohl etwas „Neues“ schaffen. Doch muß er sich dabei auf den vorgegebenen Rahmen stützen und darf die Naturgesetze nicht außer acht lassen. Jeder Architekt weiß, daß er beim Bau eines Hauses die Gesetze der Statik beachten muß. Er kann diese Gesetze in keiner Weise verändern. Jeder Versuch, es dennoch zu tun, würde praktisch mit einer Katastrophe enden.

In den Geisteswissenschaften haben wir eine andere Situation. Die Folgen einer versuchten Einflußnahme auf natürliche Ordnungen werden uns nicht sofort vor Augen geführt. Ja, es kann sogar der Fall eintreten, daß zunächst eine Verbesserung der Lage auftritt und die „Macher“ blendet. Fehler, die in der Ernährung, der Medizin, der allgemeinen Menschenführung, der Pädagogik, in Wirtschaft oder Politik gemacht werden, entfalten ihre möglichen negativen Wirkungen meist mit einer langen zeitlichen Verzögerung, weshalb wiederum die ursächlichen Zusammenhänge verschleiert sind.

Was folgt daraus? Wir sollen nicht darauf verzichten, das Leben aktiv zu gestalten mit dem Ziele, es angenehmer einzurichten. Ich glaube, daß wir dazu eine Art Auftrag haben. Wer handelt, wird auch immer Fehler machen. Dieser Punkt aber sollte uns bewußt sein: Irrtümer dürfen nicht mit Gewalt verfolgt werden, wie dies jedoch immer wieder versucht wird. Der irrende Mensch – auch der irrende Wissenschaftler – muß umkehren können!

In der sogenannten Rechtschreibreform wird der falsche Weg konsequent weiterverfolgt. Dies kann geschehen, weil das politische System dahintersteht: es ist ein System der Verantwortungslosigkeit (und hier ist nicht der Ort, dies auszuführen). Es gibt niemanden, der das Projekt stoppen könnte. Allein die Sprache, diese festgefügte und mächtige Ordnung, wird dies mit der Zeit erreichen. Daß allein in der Schweiz eine aktive und politisch gestützte Abkehr von der Verstümmelung der deutschen Sprache – und als eine solche muß man die „Schreib“veränderungen sehen – stattfindet, ist kein Zufall.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.01.2008 um 06.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11168

Regeln und Wirklichkeit

Die Diskussion um die schlecht anwendbaren Regeln kranken im Kern wiederum an der verkehrten Ableitungsrichtung der Kausalitäten. Daraus resultiert eine Art Größenwahn, nämlich dergestalt, daß der Mensch meint, die Welt und ihre Ordnung maßgeblich durch den eigenen Verstand geformt zu haben.
Menschen sind nicht dazu in der Lage, Regeln aufstellen, um Tatsachen zu erfinden und völlig neue Ordnungen auf die Welt zu bringen. Unser Verstand bildet sich allein am Erkennen der Wirklichkeit, an ihren Ausformungen und Wiederholungen. Das also ist Erkenntnis: wir beginnen zu denken und zu verstehen, WEIL wir die Regelhaftigkeit zu einer bereits vorhandenen Ordnung bewußt wahrnehmen und benennen können, nicht umgekehrt! Welcher Wahn!

Wir beschreiben also; erschaffen tut Gott. Man möge den Hinweis auf die Religion nicht falsch verstehen: Religion ist Ausdruck der demütigen Erkenntnis, daß es etwas Mächtigeres gibt als den Verstand des Menschen, von dem ich im übrigen nicht besonders viel halte. Die Ereignisse des verflossenen und gegenwärtigen Menschengeschlechts beweisen, wie wenig das bloße akademische Erkennen und Wissen zur praktischen und erfolgreichen Bewältigung des täglichen Lebens beiträgt. Wir müssen uns also nicht wundern, wenn künstliche und willkürlich ersonnene „Regeln“ (es sind ja keine!) nicht funktionieren. Sie passen nicht zur Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, von der wir nur einen Bruchteil verstehen. Es kennzeichnet dumme Menschen, daß sie überzeugt sind, genug zu wissen, um sich selbst an die Stelle des Schöpfers setzen zu wollen.

Dostojewskij warnte: „Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt!“ Eine Rechtschreibreform ist dabei noch das Harmloseste.
 
 

Kommentar von David Weiers, verfaßt am 14.01.2008 um 22.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11167

Eine wichtige Frage zu dieser Dissertation:
Was bedeutet hier "Verständnis": soll der Leser der Regeldarstellungen nur oberflächlich "verstanden" haben, was die konkret formulierten Regeln besagen, oder soll er verstanden haben, was sie aussagen?

"Das maximale Volumen subterrarer Agrarprodukte steht im reziproken Verhältnis zur spirituellen Kapazität ihrer Erzeuger."

Wenn ich keines der hier verwendeten "Fremdwörter" kenne, dann kann ich den Satz überhaupt nicht verstehen. Wenn ich einige der Wörter auch nur ungefähr oder zum Teil kenne (maximal, Volumen, Agrar-, Produkte, Kapazität), dann verstehe ich vielleicht schon, was sozusagen "auf erster Ebene" "gesagt" wird; aber was er aussagt, verstehe ich doch nur dann, wenn ich wirklich weiß, was die Wörter bedeuten.

Also welche relevante Aussage kann man aus dem Fazit obengenannter Untersuchung bei der ihr zugrundeliegenden Fragestellung ableiten: doch nicht etwa, daß man das Wort "Partizip" nicht versteht, wenn man es nicht kennt, was ja soviel heißt wie: man weiß nicht, was ein Partizip ist, wenn man nicht weiß, was ein Partizip ist?
Wenn das der Fall sein sollte: man kann damit wirklich promovieren?
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 14.01.2008 um 21.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=951#11165

Wenn die Regelverständlichkeit bei einer Orthografie besser ist als bei einer anderen, könnte man annehmen, daß die besser verständliche sich automatisch durchsetzt und die zugehörige Fehlerhäufigkeit geringer ist als bei der schwieriger verständlichen.

Als durchschnittlicher Zeitungsleser kann ich sowas keiner der "neuen" bescheinigen.
Gibt es tatsächlich seriöse Untersuchungen, die einer reformierten dieses Zeugnis ausstellen?

Wenn ja, würden mich die untersuchten Kriterien interessieren. Dann wäre nämlich zu untersuchen, warum bessere Regelverständlichkeit zu schlechteren Schreibergebnissen führt.
 
 

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