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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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23.01.2007
 

Leichtverderbliche Ware
Auswirkungen der Reform auf unterschiedliche Texte

Zeitungen sind für den Tag geschrieben, weniges hebt man auf, und in den Archiven stöbern nur Fachleute, die dann eben in Ausgaben seit 1999 auf eine sehr sonderbare Epoche der deutschen Geschichte stoßen. Inzwischen rüttelt sich manches wieder zurecht.
Die Süddeutsche Zeitung schreibt heute z. B. potentiell, im übrigen, selbständig, alles wie früher, nur im Lokalen häufen sich noch die Reformschnitzer, darunter solche, die unmöglich auf irgendwelche Programme zurückgehen können.
In den Vorlagen des hiesigen Gymnasiums für die Anfertigung von Facharbeiten ist von „Fussnoten“ die Rede. Auch das wird nach einigen Jahren korrigiert werden. Schlimm sieht es mit Büchern aus, die man länger in Gebrauch hat. Zum Beispiel steht im Duden Universalwörterbuch (2001) unter so: „das tut uns ja so Leid! so betrachtet/gesehen, hat er Recht; die so genannten Schwellenländer“. Je eifriger die Umsetzung, desto schneller veraltet. Ob es wenigstens dem Geschäft nutzt?



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Kommentare zu »Leichtverderbliche Ware«
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Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 23.01.2007 um 06.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7378

Langfristig wird es dem Geschäft sehr schaden.

Gestern hatte ich wieder eines der Erlebnisse, die eigentlich zum Lachen sind, wäre der Hintergrund nicht so deprimierend. Anruf einer Lehrerin, ob wir denn nun wirklich neue Rechtschreibung anböten. Ich fragte zurück, was sie damit meine. „Na, die eben, die jetzt … das was jetzt neu ist.“ Was genau jetzt anders und neu sei, konnte sie nicht sagen. Es ging eine Weile hin und her, und dann kam sie mit der Befürchtung heraus, „alte Rechtschreibung“ zu bekommen. Aber sie meinte „natürlich nicht die ganz alte“, sondern die „alte vom Vorjahr“.
Also die „ganz alte“ ist schon kein Thema mehr. Innerhalb von nur zehn Jahren ist unser traditionsreicher Kulturschatz Sprache „ganz alt“ und anscheinend völlig indiskutabel geworden.

Das Gespräch läßt befürchten, daß an den Schulen die Beharrungstendenz der Sprachzerstörung sich länger halten könnte. Völlige Ahnungslosigkeit paart sich mit grandiosem Desinteresse, getarnt als Mitläufertum. Man tut alles mit, was von oben verordnet ist, damit erspart man sich Scherereien und – vor allem eigenes Nachdenken. Man ist „engagiert“ und „modern“, ganz im Sinne der Obrigkeit. Einige scheinen sich beim Lernen der neuen Schreibweisen völlig verausgabt zu haben. Sie möchten die persönliche Errungenschaft „Neuschrieb“ schon allein deshalb nicht aufgeben, weil sie Mühe gehabt haben damit. Das ist tiefenpsychologisch gut nachzuvollziehen, solche Versuchung steckt in uns allen. Falsche Schreibweisen werden also beharrlich weiterbenutzt. Schon Bertolt Brecht wußte: „Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er genügend große Ausmaße angenommen hat.“

Aber – alles ist eine Frage der Zeit. Deshalb möchte ich persönlich nicht damit aufhören, den Finger in die Wunde zu legen und bin sehr dankbar, daß es dieses Forum gibt. Man muß andere Unzufriedene aus ihrer Vereinzelung holen. Das Kunstprodukt „Neue Rechtschreibung“ ist trotz aller Beharrlichkeit, mit der sie verteidigt wird, nicht überlebensfähig. Es hängt am Tropf der Politik, der Apparatschiks und Volkserzieher, der technischen Korrekturprogramme. Nebenwirkungen und unvorhergesehene Entwicklungen werden das Projekt trotzdem irgendwann zu Fall bringen. Es wird einen Umsatzrückgang bei Wörterbüchern aller Art geben. Möglich auch, daß selbst die Freude am Lesen Schaden erleidet und überhaupt weniger gelesen wird. Wissen kann man das natürlich nicht. Die Überschwemmung der Menschen mit inhaltlich und orthographisch minderwertigen Texten dürfte dennoch für Überdruß sorgen.
 
 

Kommentar von B. Eversberg, verfaßt am 23.01.2007 um 08.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7381

"Angekommen" ist ja in der Fläche nur -ss. Wer einmal erlebt, wie das im Ausland ankommen kann, mag dabei einen Denkanstoß erleiden. Polen (aber nicht nur diese) beobachten Deutschland mit aufmerksamer Vorsicht. Daß nun ausgerechnet das Signet ss am Wortende das einzige Unterscheidungsmerkmal deutscher Neutexte sein soll, mit dem man diese zweifelsfrei sofort erkennen kann, befremdet. Aber Sensibilität gilt dort, sagen wir's mal wertfrei, nicht als deutsche Eigenschaft. Unsere famose neue Regel ist überdies in Polen nutzlos – den Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen kann niemand wahrnehmen, der mit polnischen Ohren aufgewachsen ist. (Dank persönlicher Beziehungen ist mir das wohlbekannt.) Man gerät in heillose Erklärungsnot, warum "dass" sein muß. Aber daß "die Deutschen" einen verordneten Unfug geschlossen mitmachen, ist eine vertraute Erfahrung.
 
 

Kommentar von De Gruyter, verfaßt am 23.01.2007 um 11.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7383

Presse-Information

Bedeutender Zeitschriftenzuwachs bei de Gruyter

Vor allem die Naturwissenschaften werden gestärkt

Berlin, 23. Januar 2007

Zum Anfang des Jahres 2007 wächst das Portfolio der Naturwissenschaftlichen Zeitschriften bei de Gruyter um neun Periodika. Zwei davon, das Journal of Mathematical Cryptology und das Journal of Applied Geodesy, sind Neugründungen.

Allein sechs mathematische Journals (Discrete Mathematics and Applications, Journal of Inverse and Ill-posed Problems, Journal of Numerical Mathematics, Monte Carlo Methods and Applications, Random Operators and Stochastic Equations und Russian Journal of Numerical Analysis and Mathematical Modelling) sind Übernahmen aus dem Kauf des Mathematischen Programms von Brill, Niederlande, den de Gruyter bereits im Dezember bekannt gegeben hat.

Im Weiteren konnte die Zeitschrift Mammalia erworben werden. Sie wurde 1936 gegründet und bislang vom Museum national d'Histoire naturelle, Paris, herausgegeben. Mammalia behandelt alle Aspekte zum Thema Säugetiere und ist eines der bedeutendsten internationalen Journals auf diesem Gebiet.

In den Geisteswissenschaften wurde im Bereich Theologie/Religionswissenschaft/Judaistik die Zeitschrift NAHARAIM neu gegründet. Sie wird vom Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum in Jerusalem herausgeben und widmet sich der aktuellen Forschung zu philosophischen, literarischen und geschichtlichen Aspekten der deutsch-jüdischen Kultur.

Mit dem Journal of Literary Theory im Bereich Literaturwissenschaften steht nun erstmals im deutschsprachigen Raum ein Periodikum zur Verfügung, dass sich allein der Publikation und Diskussion literaturtheoretischer Themen zuwendet.

Ausführliche Informationen sind unter http://www.degruyter.com/rs/102_DEU_h.htm abrufbar.

 
 

Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 23.01.2007 um 18.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7390

Zu DE GRUYTER: Ist im Deutschen der Plural Journals üblich?
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 23.01.2007 um 19.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7391

"Ist im Deutschen der Plural Journals üblich?" — Mein 1948er Rechtschreibduden kennt nur die Pluralform "Journale". Aber ich bin sicher, daß der/die VerfasserIn dieser Presseinformation sie nicht kennt und "Journals" nur englisch ausspricht. Denn so redet man halt heutzutage, wenn man nur bürosalopp daherredet, seine Sprache aber dabei eben nicht weiter bedenken will/darf/kann. Das ist, wie man sieht, auch beim Verlag de Gruyter so.
 
 

Kommentar von R. H., verfaßt am 23.01.2007 um 20.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7392

Und die "bürosaloppe" Weltläufigkeit wird tagtäglich noch übertoffen. Man begegnet dem Dschournalisten inzwischen auf allen Kanälen (vorzüglich, so der subjektive Eindruck, auf den privaten). Die klassische Chimäre: ein deutsches Wort aus dem Französischen mit englischem Anlaut. Trinational in einem Atemzug – top that!
 
 

Kommentar von div. Press, verfaßt am 23.01.2007 um 20.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7393

Selbst ein ernannter Guru muß sich nun in Österreich dem Gericht stellen http://derstandard.at/?url=/?id=2738761
Außerdem droht dem Tunfisch das Aus. http://www.orf.at/?href=http%3A%2F%2Fwww.orf.at%2Fticker%2F242156.html
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 23.01.2007 um 22.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7394

Ich glaube nicht, daß es jemals noch zu einer vollständigen Wiederherstellung der früher bewährten Orthographie kommen wird.

Als Hauptgrund dagegen sehe ich die Tatsache an, daß die Art ihrer Schreibung einer riesigen Masse von Menschen kein wichtiges Anliegen ist. Jene Leute, die sich an konservativ richtiger Schreibung noch erfreuen können, sind eine rasch ausdünnende Gruppe. Sieht man sich Zeitungen, Broschüren, Homepages, Internetforen und Chats an, so erkennt man, wie heute geschrieben wird.

Auch den vielzitierten Personalchef, der Bewerbungen mit Schreibfehlern aussortiert, gibt es längst nicht mehr. Er schreibt nämlich genauso fehlerbehaftet wie viele andere, z.B. wie Journalisten, Marketingleute, Lehrer, usw. Es gibt ca. 100 Mio. Deutschsprachige; der Webmaster dieser Seite wird vermutlich wissen, wie viele davon hier auf dieser Seite regelmäßig oder fallweise Gast sind. Das zeigt die wahren Relationen.

Anzunehmen ist, daß sich in Zukunft die überwiegende Mehrheit dem Korrekturpaket des verwendeten Schreibprogrammes sehr gerne anvertrauen wird (wie heute auch schon). So lange dadurch keine wirklich sinnstörenden Formulierungen produziert werden, wird die Mehrheit das gerne annehmen und froh sein, der "Last" der eigenen Schreibentscheidung enthoben zu sein. Vermutlich wird die Verschriftung zukünftig ohnehin vorrangig mittels akustischer Spracherkennung arbeiten.

Ob das alles eine ganz normale Entwicklung ist oder ein zu bedauernder Umstand, diese Antwort wird man vermutlich erst im Rückblick geben können.

Eine Richtungsänderung in diesem Trend könnte ev. dann eintreten, wenn es aus irgend einem Grund plötzlich Mode wird, seine schriftlichen Elaborate genauso zu "stylen" wie das eigene Äußere, sein Auto oder sein Heim …
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 23.01.2007 um 22.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7397

Borella hat den Ausweg erkannt: Es muß wieder zur Mode (gemacht) werden, korrekt zu schreiben. Mein Vorschlag: eine "Elite"-Gruppe, in die man nur durch eine genügend strenge Eignungsprüfung und eine Verpflichtungserklärung aufgenommen wird. Als Auszeichnung und zum gegenseitigen Erkennen gibt es eine Urkunde und ein Ansteckabzeichen. Wenn das dann auch die Bewerber-Auswähler als positives Merkmal werten, werden sich die Anwärter auf eine Mitgliedschaft drängeln. Name: "Die Korrektschreiber"
 
 

Kommentar von Alexander Glück, verfaßt am 24.01.2007 um 10.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7403

Ich würde das eher mit einem klangvolleren Namen versehen, z. B. "Palmenorden", den es aber schon (wieder) gibt, oder "Stylusgesellschaft". Der Aufnahmeritus sollte vor Obskurem nur so flirren, z. B. mit einem Schluck Buchstabensuppe aus dem güldenen Gesellschaftsbecher im Kreise von mit Versalienwimpeln ausgestatteten Posaunenbläsern am Grabe Adelungs, das dann auch gleich auf Gesellschaftskosten (und durch den Frondienst gutgesonnener Legastheniker) mit einem Mausoleum aus ägyptischem Stein überbaut wird. Ich wäre jedenfalls sofort dabei, mit ein paar Mitstreitern einen "Bund für Rechtschreibung" ins Leben zu rufen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 24.01.2007 um 10.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7404

Leichtverderblich ist auch die neueste Getrennt-/Zusammenschreibung Stand 2006, obwohl man von ihr zu sagen pflegt, sie sei weitgehend in Ordnung gebracht worden. Gerade lese ich, immerhin als Überschrift einer großformatigen Anzeige: Eine, die sich gerne kurz fasst. Sieht perfekt aus, oder? Aber die neue GZS verlangt: Eine, die sich gerne kurzfasst.

Soll ich so etwas überhaupt der Werbeagentur mitteilen? Es wird doch wohl kein Leser meckern, wenn es unkorrigiert bleibt. Weiß doch keiner Bescheid. Wenn die Zeit drängt, lasse ich es auf sich beruhen. Aber diesmal teile ich es mit. Irgendwann kommt ein Spinner daher, sei es in der Werbung, beim Anzeigenkunden oder in der Leserschaft, und reklamiert den "Fehler". Dann heißt es: Warum hat der Lektor nicht eingegriffen? Ich muß mich absichern. Also sage ich: "Die neueste Regelung will da Zusammenschreibung, aber das ist Blödsinn. Die Reformer haben die Regeln immer noch nicht in Ordnung gebracht. Ihr könnt es auf jeden Fall so lassen. Das sieht besser aus, und es stört niemanden. Eher würde die Korrektur stören." Das hat den schönen Nebeneffekt, daß man mich für unentbehrlich hält oder jedenfalls für einen fähigen Lektor. Ich werde auch die nächste Version der Rechtschreibreform parat haben müssen. In der globalisierten Welt werden nun einmal erhöhte Anforderungen gestellt. Die Chinesen bedrohen mich.

Übrigens muß man laut Duden schreiben sich kurzfassen, man kann jedoch getrennt oder zusammenschreiben bei ein kurzgefasster Überblick, ein kurz gefasster Überblick. Stimmt, so sieht sie aus, die leichtverderbliche oder leicht verderbliche staatliche Regelung.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 27.01.2007 um 01.25 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7464

Ganz so veraltet ist das Problem "Leid tun" ja noch gar nicht, denn soviel ich weiß (na ja, es ändert sich schon alles sehr schnell) gibt der Duden immer noch nicht zu, daß es "leid tun" heißt, sondern er meint nun "leidtun".
Eine chinesische Freundin hat mal zu mir gesagt "Dort ist mir zu Lärm", und da sie mich gebeten hatte, ihr beim Deutschlernen zu helfen, erklärte ich ihr, daß das nicht geht. Entweder "zuviel Lärm" oder "zu laut".
Genauso kann es einem nicht "zu Leid" tut, sondern höchstens "zu leid".
So weit war man nun in der Mannheimer "Rechtschreib"-Kommision auch schon durchgedrungen. Aber mit Verben haben sie es immer noch nicht versucht. Denn ebenso wenig wie man sich nicht "zu freuen" kann und wie etwas nicht "zu schmerzen" kann, sondern nur zu sehr freuen und zu sehr schmerzen, so kann es auch nicht "zu leidtun", sondern nur zu leid tun.
Wieso soll man aber "leidtun" zusammen schreiben, wenn man "zu leid tun" nur getrennt schreiben kann?
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 27.01.2007 um 06.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7467

Weil man dafür anderes zusammenschreibt. Das schafft Ausgleich. Denken wir nur an die vielen zwangsverheirateten "zurzeit" oder "mithilfe". Und gestern begegnete mir tatsächlich ein "inkraft", ganz ans Ende des Satzes "getreten". Armes Wort.
 
 

Kommentar von David Weiers, verfaßt am 29.01.2007 um 11.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7505

Ich äußere mal einen ernsthaften Gedanken zum Beitrag #7394 von borella vom 23.1. (Kommt etwas verspätet, aber da funkte was dazwischen):

Ich bin mir nicht sicher, ob borellas Zukunftsvorstellungen, die ja nun in dieser Art doch recht populär sind, eine Möglichkeit kommender Entwicklungen richtig skizzieren. Hinsichtlich der Korrekturprogramme muß man z.B. voraussetzen, daß irgend jemand sie ja schaffen muß; und da Sprache und v.a. Rechtschreibung keine logarithmischen Systeme sind, wird sich das auch nicht ändern können, also fällt auf diesem Gebiet eine technische Autoevolution – ein einmal induzierter Selbstläufer auf dem Gebiet der Korrekturprogramme – schon einmal weg. Natürlich kann man sich fragen, ob das ein Argument ist: schließlich könnten sich alle auch daran gewöhnen, wie es das Programm vorgibt, und prompt hätte man eine zutiefst logische Rechtschreibung – die aber eben nicht in der Lage ist, eine durch ihre unlogischen Momente größtenteils determinierte Sprache wiederzugeben. Die Akzeptanz wäre höchst fraglich.
Es bleibt dabei: ein Jemand muß dahinterstehen, und dieser Jemand wird menschlich denken, und das eben auch in sprachlicher Hinsicht, denn die natürliche Sprache ist kein rein formallogisches Gebilde. (Eine "unnatürliche" Sprache wäre z.B. eine Formalsprache, also eine reine Logiksprache u.ä. Aber solche Sprachen sind für zwischenmenschliche Interaktion schlecht brauchbar.)

Daß sich allerdings immer mehr an den Vorgaben von Menschen orientieren werden, die sich in Korrektuprogrammen ebendieser Menschen äußern, ist wohl sehr wahrscheinlich. Und da jetzt schon diese Programme und die ihnen zugrundeliegenden Vorgaben in gewisser Hinsicht den Gesetzen des Marktes unterworfen sind und sich das in nächster Zeit wohl nicht ändern wird, wird es wohl eine Vielzahl von Rechtschreibungen geben; und die des jeweiligen Marktführers wird natürlich die dominante sein.
(Die Reformer werden das Variantenreichtum nennen und sich selbst aber dabei kaum wohlfühlen; denn das wäre ja nur noch ein Beweis dafür, daß die Reform voll und ganz gescheitert ist.)

Daß das Prinzip der "Funktionalität" einer Orthographie allerdings keine Rolle mehr spielen soll, halte ich nicht für wahrscheinlich. Denn ganz kurz formuliert: Wenn auf einmal keiner mehr weiß, was denn jetzt irgendwo geschrieben steht (und gerade dann, wenn nur noch mittels Spracherkennung geschrieben wird, ist dieser Punkt wichtig; auch wenn dieses Geschriebene nicht mehr von einem selbst gelesen wird, sondern wenn ein Computer es nur noch vorliest, also übermittelt), es also nicht mehr versteht, dann wird die verwendete Orthographie schnell aussterben, weil sie dann nutzlos ist.
Auch ein Computer muß ja richtig erkennen können, um richtig wiederzugeben. Und wenn er mit einem orthographisch minderwertigen "Umwandler" ausgestattet ist, liefert er selber auch nur minderwertige Endergebnisse.
Und wenn oder gerade weil die "alte" Rechtschreibung auf diesem Gebiet sämtlichen reformierten den Rang abläuft, sehe ich nicht ganz so schwarz in die Zukunft.

Ich glaube, daß es vielleicht eine ganze Zeit dauern wird, bis die wirklich brauchbare und auch ausbaufähige Rechtschreibung, die wir ja nun "offiziell" nicht mehr haben dürfen/sollen, in allen Bereichen wieder heimisch ist, aber ich denke nicht. Aussterben wird sie aber nicht!

... Natürlich könnte allerdings immer noch ein Politiker ankommen und wieder einmal alles verbrezeln ... dann ist natürlich Essig.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 04.02.2007 um 10.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7583

Fundstellen aus Druckwerken:

"... so dass kaum die Notwendigkeit besteht, sich bewusst mit der einheimischen deutschen Gesellschaft auseinander zusetzen." (Publikation zum Thema Asyl)

"... bleibt festzustellen, dass die Richtung "Eigenverantwortlichkeit" auch unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus den NRW-Schulversuchen Ziel führend sein wird." (aktuelle Zeitschrift einer Lehrergewerkschaft)

"Zum Schluss wies er daraufhin, dass weitere Informationen und Vorträge über die Homepage ... zugänglich sind." (ebd.)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.02.2007 um 12.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#7584

Rechtschreibkorrekturprogramme sehen das als korrektes Deutsch an. So entsteht das Doofdeutsch, auch Rechtschreibreformdeutsch genannt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.05.2011 um 11.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#18596

Nachtrag zu meinem Beitrag #7404 vom 24.01.2007, letzter Absatz

Nach wie vor verzeichnet Duden die angeblich zwingende Zusammenschreibung bei sich kurzfassen sowie sich kürzerfassen.

Google-Check, aktuelles Ergebnis:

sich kurzzufassen: 389
sich kurz zu fassen: 141.000
sich kürzerzufassen: 0
sich kürzer zu fassen: 8.630
 
 

Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 07.05.2011 um 13.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#18604

kurz zufassen kommt auf gut 8.000 Einträge – und das keineswegs in der Bedeutung kurzzeitig zugreifen, sondern in der Bedeutung kurzzufassen.

Ich lese es in letzter Zeit häufiger, daß Wörter, die die Reform scheinbar oder tatsächlich auseinandergerissen hat, derart geschrieben werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.03.2014 um 07.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#25396

Die FAZ hat keine Bedenken, ihren Leser folgendes vorzusetzen:

Es gibt nur Weniges, was wir über die Vorgänge an Bord wissen. (FAZ 17.3.14)

Zur Erinnerung: Im amtlichen Wörterverzeichnis steht, änigmatisch genug:

„substantivisch auch“ Vieles, Weniges (aber nicht Einiges, Manches!)

Warum sollte man einige Indefinitpronomina groß schreiben, andere nicht? Warum findet die FAZ das gut? Oder tut sie es, obwohl sie es nicht gut findet? Vielleicht um die Erstkläßler nicht zu verwirren?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 18.03.2014 um 00.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#25402

zu "Vieles, Weniges (aber nicht Einiges, Manches!)"

Die SZ schreibt zwar nicht ganz genau Einiges, aber (15.3.14, S. 7) dick als Untertitel:

Der Wert des Rubels verfällt, die Börse gibt nach -
doch auch im Fall von Sanktionen werden Einige verdienen
 
 

Kommentar von MG, verfaßt am 18.03.2014 um 01.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#25403

Warum sollte man einige Indefinitpronomina groß schreiben, andere nicht? Warum findet die FAZ das gut? Oder tut sie es, obwohl sie es nicht gut findet? Vielleicht um die Erstkläßler nicht zu verwirren?

Ich glaube, man muß dazu etwas weiter ausholen:

Warum schreiben die Leute Indefinitpronomina - halt: generell Pronomina - groß? Ganz einfach: Weil Pronomina nun einmal an der Stelle von Nomina stehen und die Leute sich nach der Faustregel richten: "Jetzt schreibt man *Viel mehr groß als *Früher."

Auf diese Weise werden wir von den Manchen beglückt, den Vielen und den Allen.

Man wollte *Reformerseits (Auch so ein Fall!) sämtliche Eventualitäten in den Regeln berücksichtigen, hier auch die Großschreibung von Pronomina, die ja möglich ist, aber halt der Ausnahmefall. Das hat die Regel über das Maß verkompliziert, das ein Nach-der-Spur-Schreiber (die meisten heutigen Journalisten dürften dazu zählen) beherrscht.

Schon immer hieß es beispielsweise:
"Viele Wenig machen ein Viel." - und diese Schreibung halte ich sehr wohl für angemessen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.04.2014 um 17.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#25712

„Die 'Germanistik' druckt deutschsprachige Beiträge ab Heft 1/2008 in der neuen Rechtschreibung.“ (Richtlinien für die Manuskriptgestaltung)

Pardon wird nicht gegeben; die Richtlinien selbst sind allerdings in nichtreformierter Rechtschreibung gedruckt! ("Germanistik" erscheint bei de Gruyter.)
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 28.04.2014 um 19.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#25713

Das ist eine Erbschaft von Niemeyer. De Gruyter selbst scheint die Orthographie nicht so wichtig zu sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.02.2015 um 09.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#28075

In der WamS beklagt sich Hannes Stein über die Irrtümer und Eigenmächtigkeiten seines Rechtschreibprogramms, das er anscheinend nicht abzuschalten versteht. Natürlich kann es kein Latein und korrigiert dei zu die, weil das nun mal ein häufiger Buchstabendreher ist. Das kann man aber leicht abstellen oder eben das Ganze deaktivieren. Bedauerlicherweise verbindet Stein seinen Bericht mit Seitenhieben auf die Kritiker der Rechtschreibreform, die angeblich damals den Untergang des Abendlandes heraufbeschworen hätten. Reiner Kunze erwähnt er ausdrücklich. Inzwischen schreibe jeder, wie er will. Das alles ist nicht glaubwürdig, solange man gehorsam mitmacht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.11.2016 um 13.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#33898

Stefan Tolksdorf/Holm Tetens (Hg.): In Sprachspiele verstrickt. Berlin, Boston: de Gruyter 2010.

In gemischter Orthographie (auch innnerhalb einzelner Beiträge); der Aufsatz von Hans G. Ulrich in herkömmlicher Rechtschreibung, nur muß ist bei jedem Vorkommen in muss geändert.

Übrigens: „Mir ist nicht recht begreiflich, wie ein so intelligenter Mensch [wie Richard Dawkins] den religiösen Glauben für eine 'Hypothese' halten und niederschreiben kann 'Gott existiert mit ziemlicher Sicherheit nicht'.“ (Harald Wohlrapp, ebd. S. 401)

Mir ist nicht recht begreiflich, wie ein Philosophieprofessor in Kenntnis der Geschichte von Philosophie und Religionskritik niederschreiben kann, das sei ihm nicht recht begreiflich. Immerhin wird sich Dawkins freuen, daß ihm eine gewisse Intelligenz bescheinigt wird.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.01.2017 um 05.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=779#34209

Zu den Indefinitpronomina hier noch einmal die geltende Regelung:

Das fragten sich manche.
Das fragten sich Einzelne.
Das fragten sich viele/Viele.


Der Rechtschreibrat sieht keinen Grund, hier etwas zu ändern.
 
 

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