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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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22.04.2005
 

leidtun

Mein Plädoyer für das herkömmliche leid tun stieß auf Widerspruch von Peter Eisenberg.
Er meint, es müsse zusammengeschreiben werden, weil sich die getrennt geschriebene Fügung nicht syntaktisch erklären lasse.
(Ich übergehe hier die Frage, welchen Status die "trennbaren Verben" überhaupt haben; daß ich sie nicht für morphologische Wörter halte, habe ich anderswo oft genug dargestellt.)
1. Es ist nicht plausibel, daß die Deutschen seit Hunderten von Jahren etwas geschrieben haben sollten, was aus grammatischen Gründen nicht so geschrieben werden dürfte. Irgendwann muß das Adjektiv leid standardsprachlich defektiv geworden sein – aber muß sich das in einer veränderten Schreibweise niederschlagen? Übrigens ist der Übergang wohl noch nicht ganz abgeschlossen, so daß man bei sehr leid tun nicht klar erkennt, worauf sich die Steigerung bezieht, vgl. den möglichen Dialog: "Hat es dir nicht leid getan? - Sehr leid sogar!"
2. Wenn eine übliche Schreibweise vom Grammatiker nicht analysiert werden kann, dann liegt es vielleicht am Grammatiker. Vielleicht taugt seine Grammatik nicht, zum Beispiel in der Hinsicht, daß sie Verbzusatzkonstruktionen in eine allzu enge Beziehung zur Zusammenschreibung bringt.
3. Ist denn Stellung nehmen ohne weiteres syntaktisch analysierbar? Müßte es nicht wie teilnehmen zusammengeschrieben werden? Unzählige Beispiele ähnlicher Art ließen sich anführen.
Die Verbzusatzkonstruktion ist gerade nach dem Entwurf der Arbeitsgruppe unverstandener als je. Rebus sic stantibus sollte man den Usus respektieren und nicht gewaltsam verändern, was man nicht verstanden hat.



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Kommentare zu »leidtun«
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Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 22.04.2005 um 19.51 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#123

Bisher wurden 'leid tun', 'weh tun' und 'not tun' getrennt geschrieben, weil 'leid', 'weh' und 'not' adverbiale Artangaben auf die Frage 'wie?' sind, aber 'wohltun' und 'guttun' zusammengeschrieben, weil bei Getrenntschreibung 'wohl' auch 'vielleicht' und 'gut' auch 'richtig' bedeuten kann.

In Reformschreibung wird ohne Rücksicht auf die Doppeldeutigkeit von 'wohl' und 'gut' 'wohl tun' und 'gut tun' getrennt geschrieben, weil 'wohl' und 'gut' gesteigert werden könnten.
Das Steigerbarkeitskriterium widerspricht dem Grundsatz, daß die Schreibweise eindeutig sein soll und wiegt weniger als die Eindeutigkeit.

In Reformschreibung wird 'Leid tun' und 'Not tun' geschrieben, obwohl 'Leid' und 'Not' Akkusativobjekte auf die Frage 'was?' sind und damit etwas ganz anderes als die Adverbien oder adverbial gebrauchten Adjektive 'leid' und 'not' bedeuten. Das widerspricht völlig dem Grundsatz der Eindeutigkeit der Schreibweise.

Natürlich wäre es leichter, sich nach praktischen Mustern (Paradigmen) statt nach theoretischen Regeln zu richten und das Wortfeld '... tun' einheitlich zu behandeln. Wegen der Doppeldeutigkeit von 'wohl' und 'gut' wäre einheitliche Zusammenschreibung dieses Wortfeldes vertretbar, obwohl es sich hier nicht um Ergebnisangaben auf die Frage 'was?' handelt..
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 22.04.2005 um 21.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#124

Dann gibt es wohl auch nur die beiden Möglichkeiten Recht haben und rechthaben, denn recht haben ist ja gewiß syntaktisch "nicht erklärbar". Herr Eisenberg erweist sich allerdings als erstaunlich lernfähig - wenn man die aktuelle (Eisenbergsche) Vorlage zur GZS mit seiner vorausgegangenen vergleicht.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 23.04.2005 um 20.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#127

Eisenberg schrieb schon vor der Reform, daß es zweifelhaft sei, ob man "Verben wie grünstreichen, totschlagen oder weichkochen ansetzen" kann, daß dagegen Verben wie krankschreiben und gesundbeten zu abgeben und aufhängen "analog gebaut" wären (Grundriß der deutschen Grammatik, 1994, S.225). Nur bei letzteren Beispielen spricht er von den eigentlichen Verbpartikeln, die "morphologische Bestandteile" des Verbs sind. Das ist ganz auf der Linie seines damaligen Kompromißvorschlags, in dem seine Theorie jedoch deutlicher formuliert wird: Wenn das fragliche Verb ohne die Partikel nicht das gleiche Objekt regieren kann (z.B. jemanden krankschreiben, aber nicht jemanden schreiben), so liegt ein Partikelverb vor, das zusammenzuschreiben ist. In diesem Sinne wäre auch leid tun "syntaktisch nicht erklärbar".
Obwohl diese Ansicht in der jetzigen Vorlage nicht mehr vertreten wird, scheint Eisenberg ihr noch irgendwie anzuhängen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.04.2005 um 05.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#128

Das Kriterium ist ungeeignet, weil nicht nur Verbzusätze, sondern Objektsprädikative, Richtungsangaben usw. die Valenz des Verbs ändern können. So kann man ein Buch auf den Tisch knallen, in die Ecke pfeffern usw., aber man kann es nicht einfach knallen oder pfeffern. Man kann auch den Wein ausgießen oder den Krug, aber man kann den Krug nicht gießen, nur den Wein. Folglich müßte man ausgießen mal getrennt und mal zusammenschreiben. Ein Holzweg, offenbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.11.2009 um 17.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#15218

Bei der Zeitungslektüre fiel mir wieder einmal auf, daß die Zusammenschreibung leidtun sich offenbar nicht durchgesetzt hat, obwohl sie ja leicht umsetzbar wäre. Man kann sich davon überzeugen, wenn man die Formen bei Google News eingibt. Es wird in jeder Flexionsform ganz überwiegend getrennt geschrieben.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 22.02.2011 um 15.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18160

Wenn man „leidtun“ schreiben soll, müßte man doch eigentlich auch schreiben: Leidtut mir der wirkliche Vater. Oder?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.02.2011 um 16.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18162

Nein, hier gilt seit je, daß Verbzusätze am Anfang des Satzes getrennt geschrieben werden, so daß wenigstens optisch die Verbzweitregel gewahrt ist. Immerhin ein interessantes Problem.

In meinem Wörterbuch steht der Fall übrigens unter § 8 der Hauptregeln:

"Die Zusammenschreibung unterbleibt, wenn der Verbzusatz allein das Vorfeld füllt: Auf geht die Sonne um 5.30 Uhr. Aber: Aufgegangen ist die Sonne um 5.30 Uhr. – Hinzu kommt, daß ... Aber: Hinzukommen muß ..."
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.02.2011 um 16.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18163

Nein, so schriebe man höchstens im Telegrammstil: Ankomme Freitag, 13.
Ansonsten schreibt man:
An komme ich am Freitag, 13. (Das Vorfeld wird immer abgesetzt.)
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 22.02.2011 um 17.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18165

Mit leidtun möglich:
„Leidtun tut mir der wirkliche Vater“,
oder
„Leid tut mir der wirkliche Vater“
 
 

Kommentar von Elmar Zink, verfaßt am 22.02.2011 um 17.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18166

"[Die Kinder wollten es wissen,] um sicher zu gehen", schreibt etwa Thomas Mann noch 1929 (in "Mario und der Zauberer"). Das ergäbe Sicher gehen wollten sie, was ich in einem heutigen Text für undenkbar halte. Dennoch gibt der 'Ickler' sowohl Getrennt- wie Zusammenschreibung als möglich an, also sicher_gehen (auch sicher_stellen). Ist das wirklich optional? Beansprucht der 'Ickler' nicht, die moderne Orthographie des 20. Jahrhunderts abzubilden?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2011 um 05.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18168

Das Undenkbare erweist sich oft als das Wirkliche. Man muß sich schon die Mühe machen, die Tatsachen zu ermitteln, statt sie sich bloß auszudenken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2011 um 05.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18169

Leidtun tut mir der Vater – ja, natürlich, denn hier ist tun ja nicht das finite Verb, folglich füllt das ganze (reformiert-reformiert geschriebene) leidtun das Vorfeld.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 23.02.2011 um 09.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#18172

In dieser Vorfeldstellung erscheint mir das reformiert-reformierte leidtun noch am plausibelsten. Obwohl natürlich auch das klassische „Leid tun tut mir der Vater“ gut klingt und aussieht.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.11.2015 um 15.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#30511

Leidtut ihm nur, dass sich so viele an die Entscheidung des Verlags drangehängt haben, ...
(DER SPIEGEL, Nr. 46/7.11.2015, S. 42)

Mit der Grammatik standen die Rechtschreib-"Reformer" ja von Anfang an auf Kriegsfuß.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.08.2019 um 06.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=70#42007

Ungefähr zehn Jahre lang wurde den Deutschen eingebleut: Leid tun, Recht haben. Und so steht es dann millionenfach in den Büchern: wie Leid es mir tut, wie Recht du doch hast usw. – So auch in einem Krimi, der hier herumliegt: Dan Turèll: Mord am Rondell. Bergisch Gladbach (Bastei Lübbe) 2004.

Duden 2019:
„recht oder Recht haben; aber nur: wie recht sie hat!; du hast ja so recht!; damit hat er völlig recht“

Man sollte erwarten: recht haben, wegen wie recht sie hat! usw. Auch wegen du hast nicht recht, aber nicht du hast kein Recht (in dieser Bedeutung), wie übrigens Konrad Duden schon 1876 klarstellte.

Bei Leid tun haben sich die belämmerten Reformer wieder eine andere Reparatur ausgedacht, um nicht kleinlaut zur unverstandenen herkömmlichen Schreibweise zurückkehren zu müssen. Warum sollte man solchen Dilettanten folgen?
 
 

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