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29.07.2006
Ein Morgen bei „Thalia“
Lug und Trug
Vor der Kasse ein Stapel neue Rechtschreib-Duden: „Verbindlich ab 1. August“. Schon gelogen.
Daneben ein Stapel des zweifach überholten Bertelsmann-Rechtschreibwörterbuchs von Lutz Götze, jetzt in Lizenz bei irgendeinem dieser Verlage, die fürs „Moderne Antiquariat“ produzieren. Auf dem Einband wird die Aktualität versichert, aber diese Versicherung ist im Laufe der Jahre schal geworden wie Hegels „Jetzt ist die Nacht“. Kostet trotzdem fast 10 Euro. Auch eine Art Betrug. Dann eine französische Grammatik, in Lizenz von Falken Verlag/Random House, also auch wieder Bertelsmann, daher ist die „Verfielfältigung“ strafbar (Impressum).
Überall Martin Walsers neuer Roman, wenigstens in normaler deutscher Rechtschreibung, auch wenn der Rowohlt-Verlag bekanntgegeben hat, er versuche jeden seiner Autoren zu überreden, der Konvertierung seiner Texte in Neuschrieb (aber welchen?) zuzustimmen. In einer Anzeige in der heutigen Zeitung zitiert Rowohlt verschiedene Rezensenten, darunter Burkhard Müller von der Süddeutschen Zeitung – in klassischer Rechtschreibung. Müller lobt die „wunderbar schamlose Altherrenerotik“ und „obszöne Genialität“, Volker Weidermann findet den Roman „so schamlos und frei wie keinen Walser zuvor“; auch das ist lobend gemeint. Da kaufe ich mir doch lieber die wirklich sehr preiswerte Beethoven-CD mit Wilhelm Kempff, der laut Deutsche Grammophon 1896 in „Jüterborg“ geboren wurde. Und damit nichts wie nach Hause!
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.01.2020 um 10.05 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=571#42738
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Zum Haupteintrag:
Wenn es um die Fehlervermeidung ginge, sollte man Verfielfältigung zulassen. Es findet sich fieltausendmal, besonders gern im Impressum von Büchern, wo die Verfielfältigung untersagt wird.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.07.2006 um 07.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=571#5117
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Ja, es gehört nicht hierher, und ich bin schuld. Aber dann gehört es doch wieder hierher, weil es zur oberflächlichen Rezensentenart gehört, die nichts als gegenseitige Lobhudelei hervorbringt. Alle paar Wochen erscheint ein Jahrhundertwerk, die Rezensenten finden es "anrührend" oder "schamlos schön" oder wie die Vokabeln heute heißen, und dann ist es vorbei und vergessen, weil es naturgemäß, wie die meisten Bücher, wirklich nichts taugt. Nur darum ist ja auch die sprachliche Verhunzung der Texte weitgehend ungerüffelt geblieben. In welcher Kinder- und Jugendbuchrezension (sogar der FAZ) wäre denn die furchtbare kinderverachtende Orthographie auch nur erwähnt worden? Staub sollen sie fressen, und mit Lust. Gewissenhafte Journalisten müßten ein reformiertes Kinderbuch (wie ich an Dutzenden von Fällen gezeigt habe) schon deshalb schlichtweg zurückweisen. Jetzt steht das ganze lobgehudelte Zeug in den Regalen und ist – "überholt".
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Kommentar von jms, verfaßt am 30.07.2006 um 00.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=571#5115
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Wie wär's denn mal mit einem Lob der wunderbar schamlosen Altherrenorthographie Walsers? Ist "daß" nicht geil? Orthographie statt Pornographie. Stengel statt Stängel!
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Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 29.07.2006 um 18.26 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=571#5113
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Die „wunderbar schamlose Altherrenerotik“ ist, soweit aus Zitaten erkennbar (will nach deren Zurkenntnisnahme ein erwachsener Mensch tatsächlich mehr davon lesen?), nichts anderes als ein Verharren in offenbar niemals wirklich überwundener Pennälerphantasie, nur eben auf die veränderte Lebenssituation bezogen. Was fasziniert die Leser nur an diesem Langweiler seit Jahrzehnten? Das wunderbar schamlose Bekenntnis zur Trivialität? Naja, gehört ja eigentlich nicht hierher …
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