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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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21.05.2006
 

SED-Opfer Nerius
Aus Valerio 3

Peter Eisenberg referiert in seinem Beitrag:

"Die DDR richtete als Reaktion auf eine Anregung aus dem Westen an ihrer Akademie der Wissenschaften eine Arbeitsgruppe für Orthographieforschung ein, die sog. Nerius-Scharnhorst-Gruppe, deren Hauptaufgabe bei der internationalen Kooperation lag. Das ging so weit, daß die Gruppe seit Beginn der 80er Jahre nicht einmal mehr in der DDR veröffentlichen durfte."

Die Logik dieses Satzes ("das ging so weit") erschließt sich mir zwar nicht vollständig. Immerhin muß man ein wenig einschränken. Nerius selbst, als SED-Mitglied bestimmt nicht ganz uninformiert, erzählt bereits im Sammelband Augst et al. von 1997, daß er in den 80er Jahren nicht mehr veröffentlichen durfte, obwohl er andererseits zugibt, daß die Arbeitsgruppe ungehindert weiterarbeiten konnte. Aus einschlägigen Bibliographien erfährt man, daß auch weiterhin zur Rechtschreibreform veröffentlicht wurde, von Nerius wie von Scharnhorst, und 1989 erschien ja die zweite Auflage seines Standardwerkes in Leipzig. Scharnhorst schreibt noch in der dritten Auflage (Dudenverlag 2000) linientreu marxistisch im Sinne der DDR-typischen "Sprachkultur"-Debatte.



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Kommentare zu »SED-Opfer Nerius«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.07.2013 um 12.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=515#23757

Das Gute an der DDR war, daß man viele Fragen nicht zu stellen brauchte, weil die Antworten seit langem bekannt waren.

„Man muß sich stets vor Augen halten, daß die Sprache nicht zum Ausdruck von Gefühlen entwickelt worden ist, sondern zur Verständigung im Arbeitsprozeß.“ (Ingeborg Seidel-Slotty: Die Bedeutung der Wörter; Halle 1960:8)

Friedrich Engels hatte diese Antwort gefunden, folglich war das Problem gelöst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.05.2006 um 16.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=515#4156

Marx war bekanntlich kein Marxist, das hat er selbst gesagt (auf französisch).
Scharnhorst wiederholt weitgehend oder paraphrasiert, was er zwanzig Jahre zuvor über Orthographie und "Sprachkultur" (im Sinner der Prager Schule) schon geschrieben hatte. Nerius hat sich viel geschmeidiger angepaßt.
Scharnhorst entgeht nicht der bekannten Paradoxie, die mit dem marxistischen Schema der Geschichte verbunden ist: "Nicht übersehen werden darf, dass die Masse der Bevölkerung lange Zeit an der Benutzung der Schrift keinen Anteil hatte. Des Schreibens und Lesens kundig waren in der Regel nur die Angehörigen der herrschenden Schicht sowie diejenigen, die in ihrem Dienst standen (Schreibsklaven in der Antike, Mönche im Feudalismus)." (So in Nerius Hg. 2000, S. 16, wörtlich ebenso in Nerius/Scharnhorst Hg. 1980, S. 12) Und die Kaufleute? Und überhaupt: Standen die Mönche im Dienst der herrschenden Schicht? Selber kam's ihnen nicht so vor. Für die Benediktiner war das Schreiben fromme Pflichterfüllung im Sinne des "Ora et labora!" Jedenfalls wird das Bild vom Schreiben und Lesen als "Privileg" ein bißchen löcherig, wenn man genauer hinschaut.
Sogar die Marr-Stalin-Diskussion schwingt im Jahre 2000 noch nach, ein Schuh, den wir uns wirklich nicht anzuziehen brauchen.
 
 

Kommentar von Florian Bödecker, verfaßt am 21.05.2006 um 18.45 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=515#4134

Na ja, mit Marxismus hat die Linientreue wohl nichts zu tun - jedenfalls nicht im marxschen Sinne. Hat der sich doch gegen jeden Opportunismus in der Wissenschaft gewandt ("Furien des Privatinteresses") und schon damals reihenweise Apologeten der herrschenden Ordnung vor sich hergetrieben. Davon könnte sich mancher Sprachwissenschaftler bei der Auseinandersetzung mit der Reform eine Scheibe abschneiden.
 
 

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