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20.05.2006
Nicht so wild
Ein altes Thema, das nicht vergehen will
Ein Freund macht mich gerade darauf aufmerksam, daß der Brief jener fünf „Jungen Wilden“, die später zu Bettvorlegern wurden, so anfängt:
»Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister,
lieber Herr Kanther,
wir wenden uns heute gemeinsam als Fraktionsvorsitzende aus sechs (!) Bundesländern wegen der Frage der Inkraftsetzung der sogenannten „Rechtschreibreform“ an Sie.«
Sechs? Nun ja, aus dem Wüterichbuch von Hermann Zabel kann man noch bequem die Auskunft bekommen, daß der sechste Mann, Ole von Beust, seine Unterschrift zurückgezogen oder gar nicht erst daruntergesetzt hat. Der Brieftext konnte wohl in der Eile nicht mehr angepaßt werden. Beusts Gründe sind so unklar wie die der späteren Mutation bei den anderen fünf. Hat Kanther je auf den Brief geantwortet? Wir wissen es nicht, aber es muß alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um die Union (in der es praktisch überhaupt keine Reformbefürworter gab) geschlossen auf Reformkurs zu bringen. Im Bundesinnenministerium waren Kanther selbst, Prof. Wolfgang Bergsdorf und Dr. Monika Palmen-Schrübbers unter dem Spitznamen „die Heilige Dreifaltigkeit“ bekannt.
Ole von Beust war vielleicht der Weichste unter den sechs. Als Wulff Jahre später einen Reformstopp ins Auge faßte, bevor er endgültig einknickte, tönte Beust am lautesten dagegen: „'Für Hamburg ist eine Rückkehr zur alten Schreibweise kein Thema', sagte Bürgermeister Ole von Beust.“ (SPIEGEL)
Das Jahr 1995 gibt noch viele Rätsel auf. Ich kann einfach nicht glauben, daß Zehetmair vom SPIEGEL wirklich so überrascht war, daß er spontan die Reform abstoppte. Die Dudenleute glauben das auch nicht. Das Ergebnis und folglich wohl auch der Zweck des Manövers war, daß der Dudenverlag in größte Not geriet, weil er eine ganze Auflage einstampfen mußte. Zehetmair muß damals so präpariert worden sein, daß er diesen enormen Schritt für richtig hielt. Er selbst glaubte wahrscheinlich, drei Dutzend Fremdwörter und den Heiligen Vater retten zu müssen, und war sich über die verlagspolitischen Folgen nicht im klaren. Bertelsmann triumphierte zunächst, konnte aber den Wörterbuchmarkt trotzdem nicht an sich ziehen.
Als Reste sind geblieben: der überraschende heftige Einsatz des eigentlich recht unbetroffenen Bergsdorf für die Reform (in „Forschung und Lehre“) und der ebenso bemerkenswerte Eifer des von Bergsdorf mitherausgegebenen Rheinischen Merkur. Außerdem der Ehrenplatz der Ministerialrätin Palmen-Schrübbers in der „Chronologie der Rechtschreibreform“ von AOL/Bertelsmann.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.04.2010 um 11.16 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=511#15962
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Der erwähnte Beitrag von Wolfgang Bergsdorf in "Forschung & Lehre" veranlaßte mich damals zu einem Brief, den ich hier für historisch Interessierte wiedergebe:
4.5.1997
Sehr geehrter Herr Bergsdorf,
schon lange wollte ich mich einmal in Sachen Rechtschreibreform an Sie wenden, aber es bedurfte nun erst des besonderen Anstoßes, den Ihr Beitrag in "Forschung & Lehre" darstellt. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich sprachwissenschaftlicher Berater der Volksbegehren gegen die Rechtschreibreform; auch Herr Kollege Frühwald hatte ja die Freundlichkeit, mich namentlich zu erwähnen, so daß ich mich besonders aufgefordert fühle, in dieser Sache Stellung zu nehmen.
Sie beschreiben sehr treffend, was man sich von einer Rechtschreibreform erhoffte und was als ihr Ertrag angekündigt war. Leider ist es nicht das, was wirklich dabei herausgekommen ist. Wenn Sie sich für die Einzelheiten interessieren, darf ich auf das beigefügte Manuskript verweisen, das in etwas erweiterter Fassung demnächst als Taschenbuch erscheinen wird. (Bitte entschuldigen Sie die unordentliche Form.)
Zu Ihrem Beitrag möchte ich aber noch ein paar besondere Bemerkungen machen. Im ersten Absatz legen Sie zumindest nahe, daß Veränderungen der deutschen Sprache seit 1901 nun auch eine Anpassung der Rechtschreibung erforderlich machen. Aber welche Veränderungen sollten das sein? Ich kenne keine. Mit der Wortschatzerweiterung und besonders den Fremdwörtern sind wir recht gut fertig geworden. Lautlich hat sich nichts verändert, und außerdem haben wir zwar eine Alphabetschrift, aber keine phonetische, so daß selbst gewisse Verschiebungen der Lautung keine Anpassung zur Folge haben müßten. Es gibt aber auch keine.
Andererseits stellen Sie gleich darauf zutreffend fest, die Dudenregeln hätten sich seither erheblich verändert. Nun, das sind zum Teil gerade die Anpassungen gewesen, nach denen die Sprachgemeinschaft verlangt hat, hauptsächlich im Sinne größerer Regeldichte. Darüber hinaus gibt es natürlich auch Fehlentwicklungen, allerdings leicht reparierbare. Die Reform verschlimmbessert hier leider, wie erst jüngst wieder sogar aus dem Kreise der Reformer nachgewiesen worden ist.
Ihre Feststellung, daß die Spache sich von selbst entwickelt, ist natürlich richtig, aber wieso sagen Sie gleich darauf, von Zeit zu Zeit müsse ein Konsens über sie hergestellt werden? Die Entwicklung ist doch nichts anderes als die ständige Herstellung und Bestätigung eines Konsenses. Das ist ja gerade so, als wollten wir die Preisentwicklung zwar grundsätzlich dem Markt überlassen, von Zeit zu Zeit aber doch Preisfestsetzungen vornehmen ...
Ferner schreiben Sie, es gebe eine Systematisierung und eine stärkere Angleichung des geschriebenen an das gesprochene Wort. Davon habe ich leider trotz intensivem Studium des Regelwerks nichts bemerkt; Beispiele wären wünschenswert. Die Regeln sind nicht weniger geworden, eher mehr (wie Herr Kollege Veith, Mainz, im nächsten Heft der "Sprachwissenschaft" zeigen wird). Vereinfacht wird eigentlich nur die Kommasetzung (obwohl auch da die versteckten Unterregeln sehr zahlreich sind), aber gerade da haben die Reformer selbst eine vernichtende Kritik angesetzt und sind inzwischen praktisch zur alten Regelung zurückgekehrt, weil die neue zwar das Fehlermachen erschwert, den Anforderungen eines professionellen Schreibens aber nicht gerecht wird.
Daß die außerschulische Welt der Erwachsenen weiterhin schreiben kann wie gewohnt oder nach Privatgeschmack, ist ein Argument, auf dessen Haltlosigkeit schon so oft hingewiesen worden ist, daß ich gar nicht mehr erwartet hatte, es noch irgendwo zu hören oder zu lesen. Natürlich schicken wir unsere Kinder in die Schulen, damit sie dort so zu schreiben lernen, wie wir zu schreiben wünschen. Und umgekehrt: Wie in der Schule geschrieben wird, so wird in der gesamten Gesellschaft geschrieben. Ich will auf dieser schlichten Tatsache nicht lange herumreiten, in meiner Schrift ist Weiteres ausgeführt. Nur eins noch: Daß "nicht wenige Schriftsteller" bereits "von einer Beachtung jeglicher Rechtschreibregeln absehen", stimmt einfach nicht. Manche Schriftsteller erlauben sich gewisse orthographische Eigenwilligkeiten, die ihre stilistische Wirkung aber gerade daraus ableiten, daß es Abweichungen von einer grundsätzlich anerkannten Norm sind.
Was Sie über "die mit dem neuen Regelwerk erreichte Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung" sagen, die durch eine Ablehnung zunichte gemacht würde, scheint mir ein schlechter Witz zu sein, denn daß die Neuregelung die Einheitlichkeit gerade zerstört hat, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern.
Der Vorwurf, die Neuregelung verursache Milliardenkosten, ist nicht "absolut unzutreffend", sondern leider bittere Wahrheit. Deshalb ist in jener Sitzung des Bundestages, die ich von der Tribüne aus verfolgen konnte, zuletzt auch noch der Haushaltsausschuß des Bundestages eingeschaltet worden. Schließlich ist die Amtssprache der Bundesrepublik Deutschland betroffen. Die größten Lasten tragen freilich die Privatleute und die Wirtschaft. Bisher sind rund 6 Mill. neue Wörterbücher verkauft worden, dazu Software in unbekannter Menge. Bereits gedruckte Schulbücher mußten eingestampft werden, neue (nicht nur Fibeln) haben keine Aussicht auf Zulassung, wenn sie nicht umgestellt sind – alles lange vor dem Inkrafttreten! Unzählige Sekretärinnen sind umgeschult worden, unzählige werden umgeschult werden. Nach plausiblen Schätzungen ist die erste Milliarde schon jetzt ausgegeben, und die Reform ist noch gar nicht in Kraft getreten!
Die neue zwischenstaatliche Kommission wird es nicht schaffen, "Zweifelsfälle auf der Grundlage des Regelwerkes zu klären". Soeben hat ein Mitglied, Prof. Eisenberg, erklärt, die Reform sei linguistisch gescheitert und nicht reparierbar. Prof. Munske, ebenfalls Mitglied, meint dasselbe.
Übrigens ist Ihr Beitrag keineswegs nach den neuen Rechtschreibregeln verfaßt, wie Sie meinen. Die Wörter tiefgreifend, weitgehend und weitergehend gibt es nicht mehr, sie werden durch Getrenntschreibung beseitigt. Das ist zwar im Regelwerk ziemlich versteckt, aber da ich gerade über die Getrennt- und Zusammenschreibung eine Spezialuntersuchung geschrieben habe (erscheint in "Muttersprache"), können Sie mir glauben, daß es hiermit seine Richtigkeit hat. Die Wörterbücher irren hier teilweise. Bezeichnenderweise behalten Sie ebenfalls die bisherige Kommasetzung bei; die einzige Abweichung (am Ende des 3. Absatzes) wäre auch nach der Neuregelung (§ 74) ein Fehler und ist sicherlich nur ein Druckfehler.
Was mich seit Jahren am meisten wundert: Die Reform trägt ja, allen Umgestaltungen zum Trotz, in ihrer Begründung, ihrer Zielsetzung und ihrem Pathos immer noch die Spuren ihrer Herkunft. Der Geist der hessischen Rahmenrichtlinien und jenes GEW-dominierten Kongresses von 1973 ist ja unverkennbar. Kein Zufall, daß der Reformer Augst in der GEW-Mitgliederzeitschrift kürzlich kundtat, er halte die Reform für "in jedem Punkt sinnvoll"! Und nun vertritt niemand jene Position der "emanzipatorischen Pädagogik" heftiger als der bayerische Kultusminister ... Das bedarf noch der Aufklärung.
Jene obskure Herkunft erklärt auch das Reaktionäre am Inhalt der Reform. Eigentlich wollte man ja die mittelalterliche, daher vom Romantiker Jacob Grimm so geschätzte Kleinschreibung, und daran hängen die Herzen aller Reformer mit Ausnahme von Prof. Munske immer noch. Noch heute sind viele Menschen unfähig, in unserer Substantivgroßschreibung etwas Fortschrittliches zu sehen. Und doch ist es so, daß das Land Gutenbergs, als einziges, dieses ungemein raffinierte, durch die Textlinguistik glänzend rehabilitierte Hilfsmittel besitzt. Als es mit der "gemäßigten Kleinschreibung" nichts war, hat man widerwillig die vermehrte Großschreibung ausgearbeitet – ein Schritt ins neunzehnte Jahrhundert, wie gerade Herr Munske mit größter Schärfe gezeigt hat. Die exzessive Getrenntschreibung ist barock. Ich brauche das nicht weiter auszuführen, da Sie ja vom Fach sind.
Sehr geehrter Herr Bergsdorf, nicht jeder kann sich die Zeit nehmen, das neue Regelwerk so gründlich zu studieren, wie es einem von Berufs wegen damit Befaßten möglich ist. Es würde mich freuen, wenn Sie ein wenig von den Ergebnissen meiner Arbeit zur Kenntnis nehmen könnten. Die nächste Zeit wird, was diesen Gegenstand betrifft, noch manche Überraschung bringen. Es war mir immer ein beruhigender Gedanke, in der Kulturabteilung des Innenministeriums einen so geschätzten Fachmann wie Sie zu wissen. Daher meine kleine Enttäuschung und meine große Hoffnung.
Mit freundlichen Grüßen
(Das ganze Kapitel Kanther, Bergsdorf, Palmen-Schrübbers ist nahezu vergessen. Wir sind damals in der Aufdeckung der Hintergründe nicht weitergekommen und haben es aufgegeben. Bevor irgendwelche Akten aus dem Bundesinnenministerium ans Licht kommen, scheint sich daran nichts ändern zu lassen. Seinerzeit gab es aber einige Hinweise, daß die Rolle des BMI geradezu entscheidend gewesen sei.)
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