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04.02.2006
Ein Jahr „Rat für deutsche Rechtschreibung“
Ein Rückblick am 3.2.2006
„Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ (KMK-Präsidentin Johanna Wanka laut SPIEGEL vom 2.1.2006)
Der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ wurde gegründet, als die „Zwischenstaatliche Kommission“ und der ihr zugeordnete „Beirat“ im Jahre 2004 „keine ausreichende Akzeptanz“ mehr hatten, wie die hessische Kultusministerin Wolff es ausdrückte, die neben ihrer Kollegin Schavan die Urheberschaft an dieser Idee beansprucht. Der Mangel an Akzeptanz beruhte jedoch auf der Unfähigkeit der Kommission, die objektiven Fehler der Reform zu beseitigen. Es trifft also nicht zu, daß „die Weigerung vieler Zeitungen und Zeitschriften, die neue Rechtschreibung anzuwenden, sowie die traditionellen Lesegewohnheiten der Deutschen einen Kompromiss notwendig gemacht“ hätten, wie der Ratsvorsitzende Zehetmair laut ddp am 31.12.2005 gesagt haben soll.
Da dem Rat die Aufgabe zugedacht war, die Durchsetzung der Reform zu gewährleisten, wurde er fast ausschließlich mit Reformbefürwortern besetzt, darunter sieben Mitglieder der zwölfköpfigen „Kommission“, die nach deren Auflösung einfach sitzen blieben: alle drei Schweizer, alle drei Österreicher, dazu der Deutsche Hoberg, der bei jeder Gelegenheit verkündet, daß er keinerlei Änderungen an der Reform für nötig hält. Die Reformurheber waren reichlich vertreten und der Dudenverlag gleich siebenmal.
Wie sehr die ganze Aktion von vornherein auf Täuschung angelegt war, zeigt der offizielle Auftrag an den Rat: Wie zuvor die Zwischenstaatliche Kommission soll er die Schreibentwicklung und den Sprachwandel beobachten und Anpassungen des Regelwerks an diese Veränderungen vorschlagen. In Wirklichkeit ist er – genau wie zuvor die Kommission – mit nichts anderem als der Reparatur der mißratenen Neuregelung beschäftigt. Nur deshalb tagte er in Abständen von sechs bis acht Wochen, in denen sich gewiß kein orthographisch relevanter Sprachwandel beobachten läßt.
In den Sitzungen von Plenum und Arbeitsgruppen stellte sich informell und im Widerspruch zu Statut und Geschäftsordnung die alte Dominanz des „Instituts für deutsche Sprache“ (IDS) wieder her, das als Sitz der Geschäftsstelle bestimmt worden war. Das IDS war die Brutstätte der Reform und später die Zentrale der Reformpropaganda gewesen. Es hat aus unerfindlichen Gründen zwei Sitze im Rat. Sein Direktor, formell nur eines von 39 gleichberechtigten Mitgliedern, übernimmt automatisch die Leitung aller Arbeitsgruppen und stellt deren Vorschläge im Plenum vor, wo er als rechte Hand des Vorsitzenden tätig ist. Während der siebten Sitzung (25.11.2005) wurde festgestellt, „dass ihm mehr Verantwortung – nicht Recht – als anderen Mitgliedern des Rats zukommt, da das Institut für Deutsche Sprache Sitz der Geschäftsstelle ist.“ In der Geschäftsordnung ist eine solche Vorzugsstellung nicht erwähnt, denn das IDS ist tatsächlich nicht die Geschäftsstelle, sondern nur deren „Sitz“. Die Geschäftsführerin, vom IDS angestellt und ohne Mitwirkung des Rates berufen, hat sich schon vor Jahren im Dienst für die Rechtschreibreform bewährt (Näheres in meinem Buch „Regelungsgewalt“). Immer wieder betätigte sie sich auch in ihrer neuen Stellung als Sprachrohr der KMK, so im EURAC-Focus vom 9.5.2005. und in einem Interview mit dpa-Mitarbeiter Bernd Glebe am 29.6.2005. Vor der achten Sitzung des Rates teilte sie Glebe mit: „Natürlich sind unsere Vorschläge ein Kompromiss – aber sie sind vernünftig und gut“. Die Vorschläge des Gremiums seien sowohl der alten als auch der neuen Rechtschreibung überlegen und könnten auf Jahre hinaus Bestand haben. (Der Standard 2.2.2006) Die Geschäftsführerin hat keine Stimme im Rat; sie ist nicht die Sprecherin des Rates und hat weder Vorschläge zu machen noch Urteile über die Vorschläge des Rates abzugeben, schon gar keine euphorischen angesichts so gewichtiger Einwände, wie sie von unabhängigen Gutachtern vorgebracht worden waren.
Zunächst brachte der Rat die noch von der Kommission eingeleitete Korrektur der Getrennt- und Zusammenschreibung zu einem gewissen Abschluß, der allerdings immer noch viele Wünsche offenläßt. Unterdessen versuchten die Kultusminister, der Bearbeitung weiterer, grob fehlerhafter und seit je heftig umstrittener Teile der Neuregelung einen Riegel vorzuschieben, indem sie sie kurzerhand für „unstrittig“ erklärten und zum 1.8.2005 für die Schulen verbindlich machten. Nur Bayern, Nordrhein-Westfalen und der Kanton Bern erkannten die Gefahr und verlängerten die Übergangsfrist, in der die Reformschreibungen zwar unterrichtet, Verstöße im Sinne der „alten“ Rechtschreibung aber nicht geahndet werden. Der Rat beendete noch seine halbherzigen Korrekturen an Zeichensetzung und Silbentrennung und wollte es damit vorläufig sein Bewenden haben lassen. Bestimmend wirkten hier die wirtschaftlichen Interessen der im Rat vertretenen Verlage. Erst als die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Groß- und Kleinschreibung, vom Vorsitzenden energisch befürwortet, mit Argumenten gar nicht mehr zu verhindern war, wurde sie beschlossen – aber mit einer so begrenzten Agenda, daß man von einer weitgehenden Lähmung sprechen muß.
Die vielkritisierte Laut-Buchstaben-Zuordnung steht nicht auf der Tagesordnung. „Der Rat plane vorerst nicht, noch weitere Teile der Reform anzugreifen.“ (Zehetmair laut ddp am 31.12.2005) Für das Jahr 2006 ist damit nur neues Flickwerk zu erwarten, der Rat verrennt sich in dieselbe Sackgasse wie zuvor die Kommission. Ist diese halbfertige Revision erst einmal für die Schulen verbindlich, dürfte eine weitere Korrektur auf absehbare Zeit nicht mehr möglich sein; der Rat ist mehrheitlich ohnehin nicht dazu bereit.
Die ersten Änderungsvorschläge des Rates sind zwar der vorgesehenen Anhörung unterzogen worden, jedoch unter äußerst bedenklichen Umständen. In Deutschland wurden fast nur die ohnehin im Rat vertretenen Verbände um schriftliche Stellungnahmen gebeten, dazu das Goethe-Institut und der Bundeselternrat. Das entspricht nicht dem Statut des Rates. So ergab sich die groteske Situation, daß z. B. Fritz Tangermann im Rat an den Beschlüssen mitgewirkt hat, als Vertreter des Germanistenverbandes eine Stellungnahme zu den von ihm mitverfaßten Empfehlungen abgibt und anschließend als Beamter des Berliner Schulsenators noch einmal über sein Werk und sein Gutachten darüber gutachtet. Noch bedenklicher ist die offensichtlich von der Geschäftsführung veranlaßte Irreführung der Befragten. Im Anschreiben vom 1.12.2004 an die zur Anhörung Eingeladenen heißt es:
„Bereits jetzt dürfen wir Sie darauf hinweisen, dass der Rat für deutsche Rechtschreibung auf seiner Februarsitzung über Vorschläge zum Bereich der Groß- und Kleinschreibung befinden wird. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Anpassungen, die sich aus den Änderungen im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung ergeben. Die Vorschläge zu diesem Bereich werden wir Ihnen zu gegebener Zeit mit der Bitte um kurzfristige Stellungnahme nachreichen.“
Das ist falsch. Der Auftrag umfaßt vielmehr:
„(1) Schreibung des Anredepronomens du, (2) Schreibung fester Verbindungen aus Adjektiv und Substantiv (z.B. gelbe/Gelbe Karte), (3) Schreibung von Einzelfällen insbesondere aus dem Überschneidungsbereich von Groß-Klein- und Getrennt-Zusammen-Schreibung (Pleite gehen, Recht haben), (4) Schreibungen im Randbereich (z.B. auf allen vieren (gehen)).“
Wie man sieht, berührt nur einer der vier Punkte die Getrennt- und Zusammenschreibung, und auch der nur teilweise; eigentlich sind nur drei Einzelfälle betroffen (Pleite/Bankrott gehen, Recht haben, Not tun).
Die tatsächlich vorgelegten Änderungsvorschläge der Arbeitsgruppe gehen schon über die im Anschreiben genannte Beschränkung hinaus, die nur den Zweck hat, die Bedeutung der Änderungen kleinzureden. Es soll der Eindruck entstehen, man habe mit der Getrennt- und Zusammenschreibung alles Wesentliche bedacht und die weiteren Änderungen seien nur redaktionelle „Anpassungen“. In Wirklichkeit müßte natürlich sogar noch viel mehr in Ordnung gebracht werden, als die gewaltsam beschränkte Agenda und die tatsächlichen Vorschläge der AG vorsehen. Damit ist jedoch keinesfalls mehr zu rechnen, wie die erwähnte Agenturmeldung vom 31.12.2005 zeigt: „Nach den Korrekturen an der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Silbentrennung sowie der Interpunktion entscheidet der Rat am 25. Februar über die letzten Veränderungen bei der Groß- und Kleinschreibung. Anfang März werden die Empfehlungen des Rates der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgelegt.“
In diesem Sinne äußerte sich auch die neue KMK-Präsidentin Erdsiek-Rave bei ihrer Amtseinführung am 20.1.2006. In Wirklichkeit hat weder das genannte Datum noch das Jahr 2006 insgesamt irgendeine Bedeutung. Es dient lediglich dazu, dem Rat die Fessel von Zeitdruck und daraus folgender Themenbeschränkung anzulegen und eine wirklich durchgreifende Revision, die naturgemäß in einer weitgehenden Wiederherstellung der herkömmlichen Rechtschreibung enden würde, zu verhindern.
Da die Beschlüsse des Rates auch noch redigiert werden müssen, blieben bis zur Sitzung der KMK Anfang März nicht einmal einige Tage, in denen die eingeladenen Institutionen zu diesem außerordentlich komplexen Bereich Stellung nehmen müßten. Mit dem Hinweis auf diesen aberwitzigen Termindruck kann dann auch der gesamte Rat im Februar unter Zeitnot und Entscheidungszwang gesetzt werden. Eine sachgerechte Bearbeitung der Groß- und Kleinschreibung ist unter diesen Bedingungen nicht möglich – von den anderen beiden Bereichen ganz zu schweigen. Auch in diesem Punkt scheint sich der Vorsitzende fügen zu wollen, nachdem er noch im Sommer 2005 gesagt hatte: „Die klare und fachliche Verlässlichkeit sind ein höheres Ziel als das Datum 1. August.“ (Kölner Stadt-Anzeiger)
Mehrere Institutionen haben schon den gegenwärtigen Zeitdruck als unzumutbar kritisiert, den drohenden künftigen aber noch gar nicht recht wahrgenommen.
Während nur acht Prozent der Bevölkerung die Rechtschreibreform gut finden (Allensbach-Umfrage im Juli 2005), ist die reformfreundliche Besetzung des Rates – fast ausschließlich Reformbefürworter – aus der Sicht der Kultusminister konsequent. Neu ist, daß erstmals nicht Fachleute, sondern Interessen- und Verbandsvertreter mit Zweidrittelmehrheit darüber abstimmen, was satzwertige Infinitive, Verbzusätze, Silbengrenzen oder Desubstantivierungen sind. Daß es eine Sprachwissenschaft gibt, wird gar nicht mehr in Betracht gezogen; ihre Argumente werden als mehr oder weniger kuriose Expertenliebhabereien beiseitegeschoben.
Ein großes Ärgernis für die Ratsmehrheit sind die bedeutenden Zeitungsunternehmen, die ganz oder teilweise zur bewährten Rechtschreibung zurückgekehrt sind und sich damit das immer wieder zugesicherte, auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Recht genommen haben, so zu schreiben, wie sie es für richtig halten. Während der Novembersitzung wurden die F.A.Z., der Axel Springer Verlag und der SPIEGEL unwidersprochen als „Krawallmacher“ bezeichnet, die man nicht durch besondere Aufmerksamkeit belohnen dürfe. Solche und ähnliche Äußerungen kennzeichnen die Mentalität des Rates: außerhalb der Wagenburg ist die feindliche Umwelt, die man mit allen Mitteln täuschen und hinhalten muß. Und schuld an der Rechtschreibverwirrung sind nicht die Reformer, sondern die Kritiker. Das entspricht der Meinung des FOCUS vom 16.8.2004 über dieselben rückkehrwilligen Verlage: „Eins aber haben die Schreibrevoluzzer erreicht: Deutschland ist wieder geteilt.“
Nachdem die Kultusminister die Einheitlichkeit der Orthographie leichtfertig zerstört hatten, schrieben sie dem Rat den Auftrag ins Statut, die „Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren“. Die zerstörerischen Folgen der Rechtschreibreform werden im Rat niemals erwähnt, das Thema ist verpönt. Stets wird so getan, als gelte es nun, nach vorn zu blicken und eine an sich gute Sache nur noch von einigen Kinderkrankheiten zu befreien. Der Zweck, Schülern das richtige Schreiben zu erleichtern, wurde trotz gelockerter Bewertungsmaßstäbe nicht erreicht: Nach einer Untersuchung des Bundesinstituts für berufliche Bildung stellten 87 Prozent der befragten Experten aus der Wirtschaft fest, daß Schulabgänger die reformierte Rechtschreibung schlechter beherrschten als vor 15 Jahren die nichtreformierte (Meldung vom 28.10.2005). Auch darüber wird im Rat niemals gesprochen.
Wenn man fragt, was der Rat im ersten Jahr seines Bestehen geschafft hat, muß die Antwort lauten: fast nichts. Die weitgehende Wiederherstellung der früheren Getrennt- und Zusammenschreibung zählt nicht, denn sie war noch von der Zwischenstaatlichen Kommission auf den Weg gebracht worden. Es bleibt also im wesentlichen nur die Rücknahme der Abtrennung einzelner Buchstaben wie in A-bend, Dusche-cke und Bi-omüll. Der Rest ist Formulierungsakrobatik, mit der das Scheitern der Reform notdürftig kaschiert werden soll, oder Ablenkungsmanöver von lächerlicher Banalität, wie die Warnung vor Urin-stinkt. Dafür sind drei Dutzend erwachsene Menschen, die sich mit ernsthafteren Dingen beschäftigen könnten, bisher achtmal aus dem In- und Ausland angereist, die Mitglieder der Arbeitsgruppen noch öfter.
Bedauerlicherweise sind die Sitzungen des Rates für deutsche Rechtschreibung nicht öffentlich. Wären sie es, würde es bald keine mehr geben. Die Bevölkerung wäre mit Recht empört, wenn sie wüßte, mit welcher Mischung aus Leichtfertigkeit und Geschäftssinn hier über das Kulturgut Schriftsprache verfügt wird.
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Kommentar von Buchenstab, verfaßt am 04.02.2006 um 10.43 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=385#2419
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Von Rudolf Bahro stammt der Terminus "Organisierte Verantwortungslosigkeit". Er beschrieb damit einen Grund für den Untergang der DDR. (Deutsche Demokratische Rechtschreibreform?)
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Kommentar von borella, verfaßt am 04.02.2006 um 12.59 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=385#2421
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Zurücklehnen und amüsiert schmunzeln, das kann zum wiederholten Male jeder, der sich nicht der Reformschreibung unterwarf.
Man kann das Kasperltheater aus einer Art Vogelperspektive betrachteten und wieder einmal kopfschüttelnd erkennen, wie unendlich ineffizient sich staatlich eingesetzte Institutionen anstellen, wenn man das Ergebnis nach sachlichen Maßstäben beurteilt.
Wen aber interessieren heute schon sachlich einwandfreie Ergebnisse, das einzige was zählt, das ist doch lediglich, wie mediengerecht man über seine Heldentaten berichten kann; vollbracht in einem Umfeld verschiedenartigster Widrigkeiten!
Daß von 39 Ratsexperten, wie man hört, ganze 7 überhaupt in der Lage sind, Fachdiskussionen auf dem Boden der Sprachwissenschaft zu führen, wen interessiert das denn schon ...
Der bewährten Orthographie „innere Widersprüchlichkeit“ und „Ausnahmen von Ausnahmen“ auszutreiben, damit war man ursprünglich angetreten. Mit der Version 2006 ist man jetzt wieder dort angelangt, wo diese Attribute das Ergebnis gut charakterisieren.
Aus naturwissenschaftlicher Sicht handelt es sich also um ein lokales Optimum – allerdings nur bei der eigenen Befindlichkeit als nicht betroffener Beobachter.
Von einem globalen Optimum in der eigentlichen Sache ist man nach wie vor meilenweit entfernt, und noch schlimmer: niemand strebt so ein globales Optimum mehr an, so scheint’s jedenfalls...
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