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29.01.2006
Musil
Zum Gebrauch des Konjunktivs I
Im neuen Duden-„Newsletter“ (= Rundbrief) geht es um faktive Verben. Die Redaktion schreibt:
Die feine Dame, die im ersten Kapitel von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ Zeugin eines Verkehrsunfalls geworden war, »[...] wusste nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen«. Möglicherweise wollen Sie das - im Augenblick zumindest - auch nicht so genau wissen. Vielleicht aber interessiert es Sie, wie es sich mit dem Gebrauch des Konjunktivs I nach Verben wie "wissen", "erfahren", "feststellen" u. Ä. verhält. (...)
Wenn der Nebensatz von einem Verb abhängt, dessen Bedeutung impliziert, dass der Sprecher den Inhalt des abhängigen Satzes als gegeben betrachtet, ist allein der Indikativ möglich: »Der Minister stellt fest, dass der Lobbyist ihn nach allen Regeln der Kunst über den Tisch gezogen hat.«
Auch die Verben des Wissens ("wissen", "erfahren", "einsehen") verbinden sich normalerweise mit dem Indikativ: »Die Schüler haben eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann.« »Der Vater erfuhr nie, dass sein Sohn ein Dieb geworden war.«
Man hätte also bei Musil erwarten müssen: »[...] wusste nicht, was ein Bremsweg ist [...]«. Aber die Freiheit des Dichterischen ist ja schon sprichwörtlich ...
Kommentar: Zunächst einmal schrieb Musil, wenn ich mich recht erinnere, nicht nach der Heyseschen s-Schreibung, und es gibt auch keine Ausgabe seines Romans, in der sie verwendet würde. Allerdings haben auch die Schulbücher zuerst sehr stark in Musils Texte eingegriffen, bevor der Rowohlt-Verlag es ihnen untersagte.
Was die Verwendung des Konjunktivs betrifft, so entspringt sie hier nicht dichterischer Freiheit, wie die Reformer es den Schriftstellern gern nachsagen, um sie als nicht ganz zurechnungsfähig hinzustellen und damit für die Rechtschreibdiskussion zu entschärfen. Darin tat sich besonders das IDS hervor.
Im vorliegenden Fall muß zunächst beachtet werde, daß es sich nicht um einen abhängigen Aussagesatz (daß-Satz) handelt, sondern um eine indirekten Fragesatz. Der läßt sich paraphrasieren als eine Kette von Alternativfragen: Sie wußte nicht, ob ein Bremsweg ein x oder ein y oder ein ... sei. Das genügt aber nicht, um den Konjunktiv zu erklären, denn auch Wilhelm Buschs bekannter Vers ist ein solcher Fragesatz: Jeder weiß, was so ein Mai-/Käfer für ein Vogel sei - und wirkt doch komisch, auch aus grammatischen Gründen. Man muß meiner Ansicht nach hinzunehmen, daß in Musils Satz das an sich faktive Verb verneint ist. So wird es insgesamt zu einem Ausdruck des Zweifels: Was mag ein Bremsweg sein? Dies dann abhängig gemacht ergibt genau Musils Satz.
Übrigens sind viele faktive Verben mehrdeutig und können auch als gewöhnliche redeeinleitende Verben verwendet und dann auch mit dem Konjunktiv der indirekten Rede verbunden werden, gerade auch das angeführte "feststellen".
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Kommentare zu »Musil« |
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 29.01.2006 um 11.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=377#2346
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Sollen Schüler in der Eile eines Schulaufsatzes solche Überlegungen anstellen müssen und das Ergebnis später gegen den korrigierenden Lehrer verteidigen können? Oder gibt es für Schüler einfachere Regeln?
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 29.01.2006 um 13.01 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=377#2347
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Genau! Ich wollte erst noch die Variante hinzufügen: Sie wußte nicht, was das denn sei: ein Bremsweg. Im Text Musils wäre das aber doch zu über-emphatisch gewesen.
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Kommentar von R. M., verfaßt am 29.01.2006 um 13.03 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=377#2348
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Musil ist mit Heyse in der Schule aufgewachsen, hat die ss-Schreibung aber schnell wieder abgelegt. Er war tatsächlich zeitlebens unsicher im Gebrauch des Konjunktivs, aber nur deshalb, weil er provinziell wirkenkende Austriazismen unbedingt vermeiden wollte. Durch Wustmanns Sprachdummheiten hat er sich zusätzlich irritieren lassen. An seinen Tagebüchern und Fahnenkorrekturen läßt sich das studieren.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.08.2014 um 12.47 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=377#26547
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Die "einfühlende" Interpretation führt in den Geisteswissenschaften oft zu einem faktiven Gebrauch der Sprache, den man als metaphorisch bezeichnen kann.
Die Menschen jener frühen Kulturen wissen sich umgeben von Göttern und Dämonen, die ihr Leben bestimmen und die sie für sich zu gewinnen suchen. (Rüdiger Kaldewey/Franz W. Niehl: Grundwissen Religion. München 2009:21)
Da die Verfasser, katholische Theologen, nicht selbst an jene Götter und Dämonen glauben, hätten sie nicht wissen schreiben dürfen, aber man versteht schon, wie sie es meinen.
Ebenso schreibt man Bücher über die Geschichte der Seele (der Hölle, des Teufels, des Fegefeuers usw.) statt über die Geschichte der Vorstellungen über die Seele usw. – als ob man glaubte, daß es die Seele, die Hölle usw. wirklich gibt.
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