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31.07.2005
Nationale Schande
Gedanken am Vortag
Kulturstaatsministerin Weiss hat zwar recht, daß die Rechtschreibreform ein Gegenstand von nationaler Bedeutung ist, aber daraus folgt gewiß nicht, daß der Bund die Rechtschreibung regeln müsse.
Die Zuständigkeit des Staates konnte ja überhaupt nur über die Hilfskonstruktion der Zuständigkeit für die Schulen behauptet werden, die sind aber Ländersache.
Außerdem darf nicht vergessen werden, daß mehrere Bundesministerien an der Ausarbeitung und Durchsetzung der Reform beteiligt waren. Sie haben sich allesamt der Verantwortung entzogen, indem sie ihre Kompetenz entweder abgaben oder zu dissimulieren versuchten. Bundeskanzler Schröder hat durch Telefonanrufe (u.a. bei Stefan Aust) und ein "Machtwort" im Kabinett alles getan, um den Schulbuchverlegern zu Hilfe zu kommen und die Reform termingerecht durchsetzen zu helfen. An ihn sollte sich Ministerin Weiss zuerst wenden.
Daß von der Union auch nichts anderes zu erwarten ist, bestätigt - nach dem Rückzieher von "Bettvorleger" Wulff usw. - das unsägliche Schreiben von Herrn Schuldt im Auftrag von Ministerpräsident Carstensen.
Es gibt auf absehbare Zeit keinen Schüler, der die Schule verläßt, ohne die nichtreformierte Orthographie gründlich kennengelernt zu haben. Wie Herr Schuldt richtig sagt, lesen die Schüler auch Texte älterer Autoren. Aber nicht nur das, sie lesen Texte des 20. Jahrhunderts und sind auch heute überall von Texten in der bewährten Rechtschreibung umgeben. Hingegen ist die reformierte Schulorthographie, die sie selbst bisher benutzen mußten, sehr uneinheitlich, war sie doch mehreren nichtamtlichen und einer amtlichen Revision unterworfen. Ein Vergleich der reformierten Dudenbände von 1996, 2000 und 2004 zeigt dies unmißverständlich, und die nächste Generation reformierter Rechtschreibbücher wird gerade vorbereitet.
Es ist nicht zu erkennen, welche besonderen Schwierigkeiten die vollständige Umkehr bereiten könnte, die ja auch der BILD-Zeitung und vielen anderen Medien ohne weiteres gelungen ist.
Soll man Schuldt dies mitteilen? Er weiß es ja. Oder hält jemand deutsche Ministerialbeamte für so dumm, daß sie das fadenscheinige Gespinst solcher Vorwände nicht durchschauen?
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 31.07.2005 um 10.43 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=202#829
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"Oder hält jemand deutsche Ministerialbeamte für so dumm, daß sie das fadenscheinige Gespinst solcher Vorwände nicht durchschauen?"
Doch, denn warum sollten wir annehmen, daß die wirklich von der Sache etwas verstehen? Dem, was Bernhard Schühly
zur Entwicklung seiner Einsicht in unser Verschriftungssystem durch diese unsinnige Rechtschreibreform schreibt, kann ich nur beipflichten. Durch Herausgeberarbeit von deutschen und englischen Texten im Ausland (und nicht in meinem Studiengang!) war ich schon früher mit den wirklichen Grundlagen unseres Verschriftungssystem vertraut geworden; aber erst diese Reformiererei jetzt hat mir gezeigt, wie wenig selbst oft die von diesem System verstehen, die dazu von Amts und Ausbildung wegen eigentlich etwas mehr wissen müßten. Die meinen alle (auch meine germanistischen Lehrer), man müßte nur dem Duden folgen, dann ginge schon alles gut. (Und der Duden war ja auch immer größer geworden; zu allem hatte er etwas zu sagen, zehnbändig, — auch wenn's nicht immer so ganz stimmte [so stand in einem auch einmal "Der Grosse Duden"!], die Monopolstellung garantierte ja Sicherheit.) Aber wie ich vorigen Sommer nach der Entscheidung des Springer-Verlags die Ahnen um die armen Kinderchen weinen hörte, da sah ich, daß es Leute in hohen Ämtern gibt, denen Gott eben nicht den Ressort-Verstand dazu gegeben hat. Auch las ich kürzlich irgendwo zur Vierten Gewalt in unserer Demokratie: "Die Medien sind im Zweifel nicht Kultureinrichtungen, da gibt es Unmengen Schlafmützen, Einäugige, Blauäugige und Mitläufer." Auch von den Medien hätte ich eigentlich erwartet, "daß sie das fadenscheinige Gespinst solcher Vorwände [zur Rechtfertigung bloß politischer Entscheidungen zu ihrem doch ureigensten Handwerkszeug, dem geschriebenen Deutsch] durchschauen." Dem ist aber nicht so. Dumm — aber auch auf ihre Weise klug — sind viele, nachdem sie sich einen sicheren Job ergattert haben. So leben wir hin...
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.07.2005 um 17.25 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=202#830
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Nachtrag: Bundeskanzler Schröder hat im vorigen Jahr auch den Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Klaus Reichert, angerufen, um ihn von seinem Widerstand gegen die Rechtschreibreform abzubringen, allerdings ohne große Wirkung, soweit ich es erkennen kann. Aber es bleibt doch merkwürdig, wie sich die Oberen von SPD, Union und Grünen gleichermaßen ins Zeug legen für eine Maßnahme, deren Unsinnigkeit und Überflüssigkeit ihnen längst bekannt sein mußte und für die sie sich sonst auch gar nicht interessierten.
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Kommentar von F.A.Z., 1. 8. 2005, verfaßt am 01.08.2005 um 01.03 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=202#833
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Beschädigtes Vertrauen
Zum Artikel "Dem Sprachgebrauch folgen" (F.A.Z. vom 28. Juli): Es gibt Politiker, die mein volles Vertrauen haben, zum Beispiel Bundespräsident Köhler. Aber vielen Politikern geht es letztlich nur darum, sich dort, wo die Macht wohnt, das Wohnrecht zu sichern. Mein Vertrauen in diese Politikerinnen und Politiker ist erloschen. Und nicht nur, daß mein Vertrauen in sie erloschen ist, auch mein Vertrauen in die Demokratie in Deutschland ist beschädigt. So viel Diktatur in der Demokratie, wie sie seit Einführung der Rechtschreibreform im Jahre 1996 auf dem Gebiet der Sprache ausgeübt worden ist, habe ich nicht für möglich gehalten. Wenn sich Inkompetenz oder Skrupellosigkeit mit Macht paart - und das ist keine Frage einer bestimmten Partei -, ist jede Gesellschaft in Gefahr.
Reiner Kunze, Obernzell
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Kommentar von F.A.Z. / Briefe an die Herausgeber, verfaßt am 12.08.2005 um 18.37 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=202#905
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»Unbelehrbare Politiker
Seit längerer Zeit verfolge ich in Ihrer hervorragenden Tageszeitung die Entwicklung bezüglich der sogenannten Rechtschreibreform. Was hier geschieht, zählt in meinem Leben zu den schäbigsten Dingen, welche ich bisher erleben mußte. Wenn es eines Beweises bedurft hat, ob wir in einer Demokratie leben oder nicht, so ist für mich klar, daß wir hier im deutschsprachigen Raum keine haben. Alle vier Jahre bei einer Wahl ein Kreuz machen zu dürfen ist kein Beweis dafür, denn auch im kommunistischen Rußland oder in China darf man Kreuzchen am Wahlzettel machen. Es dürfte keinem Politiker entgangen sein, daß eine überwältigende Mehrheit gegen die Falschschreibung ist. Man müßte nun den verantwortlichen Politikern bei der kommenden Bundestagswahl, und mehr noch bei Landtagswahlen, einen demokratischen Denkzettel verpassen. Wenn Politiker bei der Sprachreform undemokratisch und unbelehrbar zu sein scheinen, dann werden sie das gleiche Fehlverhalten bei anderen wichtigen Dingen in unserem Leben an den Tag legen - das macht wirklich Angst. Für meine Begriffe ist jegliches Vertrauen in unsere Politiker geschwunden. Das betrifft bedauerlicherweise Politiker aller Richtungen. Dr. med. Christian Mitterdorfer, Gießhübl, Österreich«
( F.A.Z., 13.08.2005, Nr. 187 / Seite 6 )
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