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02.05.2017
Was ist ein Satz?
Kurzer Überblick
Definitionen sind nicht so wichtig, wie allgemein angenommen wird, aber ein Überblick hilft, sich zurechtzufinden. Der umstrittenste Begriff der Sprachwissenschaft ist der des "Satzes".
Die Wissenschaft ist nicht verpflichtet, allgemeinsprachliche Begriffe so zu definieren, daß sie wissenschaftstauglich werden und zugleich ihren intuitiven Sinn bewahren. Sprache, Wort, Satz sind solche Begriffe, an deren Definition die Sprachwissenschaft sich immer wieder versucht.
Es soll Hunderte von Satzdefinitionen geben, aber das meiste ist natürlich bloße Formulierung. Geht man nur dem Sinn nach, scheint es folgende Ansätze zu geben:
1.physiologisch
2.orthographisch
3.logisch
4.psychologisch
5.grammatisch
6.pragmatisch
7.konstruktivistisch
1.physiologisch
Die Atemluft reicht nicht beliebig lange. Dagegen ist zunächst einzuwenden, daß mündliche Rede zwar tendentiell gepulst ist, daß aber die Einheiten von zwei bis drei Sekunden nicht mit den Satzgrenzen übereinstimmen. Außerdem ist das Wesentliche am Satz nicht seine begrenzte Dauer, sondern seine Struktur.
Auf der Hörerseite könnte man Gedächtnisbeschränkungen geltend machen. Der zweite Einwand gilt aber auch hier.
2.orthographisch
Ein Satz ist das, was zwischen zwei Satzschlußzeichen steht. (Der große Anfangsbuchstabe kann als Anfangssignal verstanden werden.)
Diese Definition ist zirkelhaft, weil die Satzzeichen erst dann richtig gesetzt werden könnnen, wenn die Satzgrenzen schon feststehen. Sätze gibt es auch in mündlicher Rede und in schriftlosen Sprachen. Der Satz ist eine grammatische und keine orthographische Einheit.
3.logisch („semantisch“)
„Mit Sätzen werden Sachverhalte dargestellt. Semantisch gesehen ist der Satz die expliziteste grammatikalisierte Realisierungsform von Propositionen. Die konstitutiven Bestandteile einer Proposition, das Prädikat und die Argumente, werden in Sätzen als Verbalkomplex und Komplemente grammatisch kodiert.“ (IDS Grammis)
„Das semantische Korrelat des Satzes ist die Proposition, bestehend aus Prädikat und Argumenten.“ (Zifonun in Dürscheid/Schneider)
Logik ist nicht vor und unabhängig von der Sprache gegeben. Allzu deutlich sind Proposition, Begriff (Konzept), Prädikat, Argument aus den Bestandteilen der Rede herausgesponnen. Die logische Darstellung ist eine normalisierte (vereindeutigte) sprachliche Darstellung.
4.psychologisch
„A sentence is a group of words which expresses a complete thought.“ (http://www.grammar-monster.com/glossary/sentences.htm)
Hermann Paul: „Der Satz ist der sprachliche Ausdruck, das Symbol dafür, dass sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen in der Seele des Sprechenden vollzogen hat, und das Mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen Vorstellungen in der Seele des Hörenden zu erzeugen.“ (Prinzipien § 85)
Heute spricht man nicht mehr gern von „Seele“, sondern vom „Mentalen“, es ist aber dasselbe.
Die psychologische Erklärung scheitert daran, daß das Konstrukt von Denken und Gedanken erst am Leitfaden der Sprache entwickelt worden ist: Denken wird als stummes Reden oder „Gespräch der Seele mit sich selbst“ (Platon) aufgefaßt, weshalb sie auch wie die normale Rede wörtlich und indirekt zitiert werden kann.
5.grammatisch
Sätze sind nach Engel „die wichtigste Art von Verbalphrasen“. (Ulrich Engel: Syntax der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Berlin 1994:105)
IDS-Grammatik und Grammis: „Sätze sind Konstruktionsformen, die mindestens aus einem finiten Verb und seinen Komplementen bestehen.“ Gisela Zifonun rechtfertigt den Satz-Begriff des IDS und bekräftigt, daß Alle mal herhören, Nichts Neues unter der Sonne usw. keine Sätze sind. (Christa Dürscheid/Jan Georg Schneider, Hg.: Handbuch Satz, Äußerung, Schema. Berlin, Boston 2015:161) Dagegen hat Hermann Paul schon eingewandt, daß allzu vieles herausfällt: die verblosen Sätze im Deutschen und erst recht in anderen Sprachen, die auch die Kopula oft nicht setzen, wo sie bei uns zwingend ist. „Verbindungen wie Omnia praeclara rara, Summum jus summa injuria, Träume Schäume, Ich ein Lügner? Ich dir danken? erkläre ich gerade so gut für Sätze wie Der Mann lebt, Er ist tot.“ (Paul: Prinzipien § 85)
Als Vorzug wird genannt, daß dieses Kriterium die Nebensätze miterfasse. Dazu sagt Paul:
„In Wirklichkeit verhält sich auch der Nebensatz nicht anders als wie ein Satzglied oder unter Umständen nur wie ein Teil eines solchen. Aber die Möglichkeit ihn gerade auszugestalten wie einen selbständigen Satz hat die Veranlassung gegeben, ihm die Bezeichnung Satz beizulegen, wobei das Vorhandensein eines verb. fin. als ausschlaggebend betrachtet ist. Es kommt dazu, dass, wie wir noch sehen werden, die Grenze zwischen abhängigem und selbständigem Satze eine fliessende ist. Jedenfalls sieht man daran das Schwankende des Satzbegriffs.“ (ebd.)
6. pragmatisch
Ein Satz ist der Ausdruck eines abgeschlossenen Sprechakts, eine kommunikative Einheit.
Damit wird eine Intuition erfaßt, aber wegen der Uneinheitlichkeit und Vagheit der Sprechaktklassifikation ist es schwer, dieses Kriterium anzuwenden. Das Inventar der Sprechakte steht nicht fest; ein Sprechakt kann sich auch über mehrere Sätze erstrecken usw.
7. konstruktivistisch
Im Gefolge der generativen Grammatik gibt es auch konstruktivistische, an mathematische Verfahren angelehnte Nominaldefinitionen: Ein Satz ist, was die Grammatik als Satz „erzeugt“.
Die Kriterien kommen auch miteinander verbunden vor: „Satz (engl. clause oder sentence). Nach sprachspezifischen Regeln aus kleineren Einheiten (sog. Konstituenten) konstruierte Redeeinheit, die hinsichtlich Inhalt, grammatischer Struktur und Intonation relativ vollständig und unabhängig ist.“ (Bußmann)
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Kommentare zu »Was ist ein Satz?« |
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.12.2024 um 04.40 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#54280
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Einfach. Mehr. Freude. – Dieser Interpunktionsgag hat sich nicht nur in der Werbung erstaunlich verbreitet. Manche Journalisten sind geschmacklos genug, ihn anzuwenden.
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Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 03.08.2017 um 20.10 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#35890
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Noch härter: das Mädchen, die ein Käppchen trug.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.08.2017 um 16.48 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#35878
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Sätze sind grammatisch durchkonstruierte Einheiten. Werden sie zu lang und unübersichtlich, dann vergessen Sprecher und Hörer die weiter zurückliegenden Formen und bauen nur noch sinngemäß weiter. (Schriftlichkeit hebt diese Beschränkungen auf.)
Das erkennt man zum Beispiel an der Ersetzung des grammatischen Geschlechts durch das biologische. In unmittelbarer Nachbarschaft wäre es hart: Das Mädchen trug ihr rotes Käppchen.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.06.2017 um 10.56 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#35421
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Das IDS lehrt:
Subjunktorphrasen sind Phrasen, die einen Subjunktor wie weil, wenn, während als Kopf und einen Verbletztsatz als Komplement haben. Dabei regiert der Subjunktor sein Komplement hinsichtlich der Verbstellung, d.h. er fordert, dass es sich dabei um einen Verbletztsatz handelt.
Wenn Sie nicht weiter wissen, helfe ich Ihnen gerne.
Ich helfe dir nur, weil du es bist.
Während die Suppe vor sich hin kocht, kann ich dir ja helfen.
In traditioneller Auffassung handelt es sich bei Subjunktorphrasen um Satzstrukturen, nämlich Nebensätze. Gegen diese Analyse spricht aber, dass sie dann auch in Umgebungen auftreten können müssten, in denen "echte", uneingeleitete Sätze (Verberstsätze und Verbzweitsätze) erscheinen, - und das ist nicht der Fall. Vielmehr sind Subjunktorphrasen als Analogon zu Präpositionalphrasen anzusehen, in denen ebenfalls die Präposition als Kopf der Phrase gilt. Überdies lassen sich Präpositionalphrasen und Subjunktorphrasen systematisch gegeneinander austauschen.
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Die Argumentation ist nicht zwingend, das Kriterium willkürlich. An anderen Stellen scheint GRAMMIS denn auch nichts mehr davon zu wissen:
http://hypermedia.ids-mannheim.de/call/public/sysgram.ansicht?v_typ=d&v_id=1950
Schon die IDS-Grammatik, auf der das Ganze beruht, stammt ja von ganz verschiedenen Händen, die kaum voneinander wissen. GRAMMIS soll, wie mitgeteilt wird, von Grund auf überarbeitet werden.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.05.2017 um 16.43 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#35075
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Das Zitat kommt sehr gelegen, vielen Dank.
Ich hatte schon mal darauf hingewiesen, daß die Abtönungspartikel wohl eine Aussage der "Deliberationsgemeinschaft" der Hörer übergibt (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1058#33204)
Dadurch hat sie eine besondere Nähe zum Fragemodus (Intonationsfrage). Anders gesagt: Obwohl nicht als Frage markiert, fordert die Aussage mit wohl sehr oft eine "Antwort". Nur als Anmerkung zu den verschwimnmenden Grenzen.
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Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 09.05.2017 um 16.36 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#35073
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Man darf nicht von vornherein annehmen, daß jede Sprache formal differenzierte Satzbaumodelle für jeden der vier wichtigsten Satztypen (Behauptungen, Fragen, Ausrufe, Befehle) hat, die in der traditionellen Grammatik unterschieden werden. Es muß (...) so verfahren werden, daß zunächst für jede Sprache unabhängig die für diese Sprache geltenden grammatischen Einheiten und Kombinationsmodelle ermittelt werden und daß man diese, wenn überhaupt, erst dann mit Etiketten wie "Behauptung, Frage" usw. aufgrund ihres semantischen oder kontextuellen Zusammenhangs versieht. Die traditionelle Grammatik unterschied deshalb vier Haupttypen des Satzes, weil das Griechische und Lateinische vier formal distinkte Satzbaumodelle haben, die grob als die vier semantischen Kategorien der Feststellung, der Frage, des Ausrufs und des Befehls klassifiziert werden konnten. Die Lehrmeinung, daß diese vier Typen universale grammatische Kategorien seien, gehörte wie die Auffassung, daß die "Teile der Rede" Universalmerkmale der Sprache seien, mit zu der großen Übertragung der Besonderheiten des Griechischen und Lateinischen auf die Ebene der theoretisch notwendigen und apriorischen Kategorien, die von den spekulativen Grammatikern des Mittelalters und ihren Nachfolgern vorgenommen wurde.
(John Lyons: Einführung in die moderne Linguistik, 182) vgl. auch die Anmerkung zu der dritten Definition.
Interessant finde ich auch die Charakterisierung im Brockhaus: Der Vollsatz ist abgeschlossen, für sich alleine verständlich und beliebig erweiterbar.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.05.2017 um 17.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#35030
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Tatsache ist, daß die Rede nicht wie eine unendliche Melodie dahinfließt, sondern in Abschnitte gegliedert ist, die einer überschaubaren Zahl vom Mustern folgen. Jedesmal geht es wieder von vorn los. Warum ist das so? Ich neige dazu, folgendes für besonders wichtig zu halten:
Wenn der Sprecher etwas aussagt, kann der Hörer dazu Stellung nehmen, es also bestätigen oder bestreiten. Dazu muß er aber wissen, worauf er sich beziehen soll. Die kleinste Einheit ist ein Aussagesatz.
Wenn der Hörer zu etwas aufgefordert wird, muß er wissen, was er tun soll (und vielleicht zu tun verweigern kann). Die kleinste Einheit ist ein Aufforderungssatz.
Wenn der Hörer eine Frage beantworten soll (ein Spezialfall der Aufforderung, nämlich zu einer sprachlichen Reaktion), muß er wissen, wonach er gefragt worden ist. Die kleinste Einheit ist ein Fragesatz.
Das alles kann gar nicht anders sein.
In der IDS-Definition ist neben dem finiten Verb noch ein zweites Kriterium erwähnt, aber ohne diesen dialogischen Rahmen, was ich für einen entscheidenden Mangel halte.
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Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 05.05.2017 um 16.31 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1658#35029
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Ich bevorzuge ja möglichst formale (formalistische) Herangehensweisen. Diese vermeiden die Probleme der genannten (mehr oder weniger inhaltsbezogenen) Definitionen 1 bis 6. Besonders interessant finde ich die Position
"Der Satz ist die größte grammatische Einheit."
Er markiert also die Grenze zwischen Grammatik und Stilistik, d.h. zwischen richtig und falsch auf der einen und gut und schlecht auf der anderen Seite. (Wobei es natürlich immer auch gewisse Überlappungen gibt.)
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