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23.03.2017
Der "mentalistische Sumpf"
Kategorienfehler im Modell der Redeplanung
„Durch Sprache werden Bewußtseinsinhalte (Gedanken) zwischen Menschen übermittelt. Ein Gedanke hat eine komplexe, mehrdimensionale, aber keine zeitliche Struktur. Zur Übermittlung wird er in ein wahrnehmbares Ausdrucksmedium kodiert. (...) Die Bestandteile des Gedanken – die Begriffe und die Operatoren, die sie miteinander verknüpfen – müssen also zwecks Versprachlichung in eine Abfolge gebracht werden. Dieser Vorgang heißt die Linearisierung der zu übermittelnden Nachricht.“
(http://www.christianlehmann.eu/ling/lg_system/grammar/morph_syn/index.html?http://www.christianlehmann.eu/ling/lg_system/grammar/morph_syn/syntakt_funkt.php)
Das ist die naive mentalistische und zugleich logizistische Redeweise, die man in vielen Formulierungen findet:
„(...) que parler une langue, c'est en transformer l'ordre structural en ordre linéaire, et inversement que comprendre une langue c'est en transformer l'ordre linéaire en ordre structural.“ (Tesnière 1959:19)
usw.
Was der „Gedanke“ oder die „Nachricht“ ist, bevor sie „kodiert“ wird, bleibt unklar. Kodieren im technischen Sinn kann man nur Zeichen – ist der Gedanke selbst zeichenhaft? Ist die „Nachricht“ vielleicht schon in einer mentalen Sprache formuliert, wie oft angenommen wird? Solange man darüber nichts erfährt, bleibt es beim leeren Gerede.
Lashley hatte in seiner einflußreichen Arbeit den Versuch gemacht, die Entstehung einer geordneten Verhaltensabfolge realistisch zu erklären:
„Since memory traces are, we believe, in large part static, and persist simultaneously, it must be assumed, that they are spatially differentiated (...) The translation from spatial distribution of memory traces to temporal sequence seems to be a fundamental aspect of the problem of serial order.“ (Karl S. Lashley: „The problem of serial order in behavior“ [1951]. In: The neuropsychology of Lashley. Selected papers of K.S. Lashley, ed. by Frank A. Beach et al. New York. 1960:521)
Werner und Kaplan haben schon früh eingewendet:
„Lashley sees the articulation of serial order as a scanning operation, by which a quasi-spatial trace or neurophysiological network arrangement is translated into temporal articulation. It is significant that Lashley finds himself at a loss to characterize, even in general terms, the neurophysiological character of the scanning mechanism. We feel that Lashley's difficulty is caused by his reluctance to free himself completely from an adynamic bias: he still tends to conceive of trace-net and scanning mechanism as two distinct entities, one relatively spatial, the other relatively temporal.“ (Heinz Werner/Bernard Kaplan: Symbol formation: An organismic developmental approach to language and the expression of thought. New York 1963:23)
Lehmann übersieht, daß die „logische Struktur“, die er als zweidimensionales Schaubild der Dependenz aufs Papier bringt, ein Konstrukt ist, also eine vielleicht nützliche Fiktion, aber kein Teil der wirklichen Entstehung des Sprachverhaltens im Organismus.
Nach behavioristischer Auffassung steht die Nachricht nicht am Anfang der Redeentstehung, sondern am Ende: als vollendete Angepaßtheit des Sprachverhaltens an die Situation. Damit entfallen alle Vorstellungen vom „Kodieren“ usw.
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Kommentar von R. M., verfaßt am 23.03.2017 um 12.11 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1656#34736
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Ein Gedanke hat eine komplexe, mehrdimensionale, aber keine zeitliche Struktur.
Auch z. B. der Gedanke Dieses Essen schmeckt mir nicht? Wo sind hier die Dimensionen?
Wie lang oder kurz ist ein Gedanke?
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2019 um 04.50 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1656#41295
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Der Terminus Symbol oder auch Sinnbild wird im Allgemeinen für Bedeutungsträger (Zeichen, Wörter, Gegenstände, Vorgänge etc.) verwendet, die eine Vorstellung bezeichnen (von etwas, das nicht gegenwärtig sein muss). Welche Vorstellung dann mit dem Wort „Symbol“ konkret gemeint ist, wird in den verschiedenen Anwendungsgebieten genauer und zum Teil sehr unterschiedlich definiert. (Wikipedia)
Der übliche Kategorienfehler. Symbole „bezeichnen“, wenn überhaupt, nicht die Vorstellung, sondern das Vorgestellte. „Vorstellung“ ist ein verhältnismäßig junger Begriff aus der folk psychology. Man kann den Symbolbegriff vollkommen richtig gebrauchen, ohne sich auf irgendeine Psychologie einzulassen.
Der Eintrag "Symbol" ist in der deutschen Wikipedia sicher unzureichend, in der englischen aber noch viel dürftiger. Es wirkt, als habe sich keiner so recht rangetraut.
(Die Großschreibung von „im Allgemeinen“ ist von umwerfender Rückschrittlichkeit, wie mir hier wieder mal auffällt.)
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