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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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22.07.2011
 

„Die Schule hat unserer Überzeugung nach gar nichts zu reformiren“
Hermann Paul zur orthographischen Frage

Ich dachte, die klassischen Zitate aus Hermann Pauls Schrift „Zur orthographischen Frage“ (Deutsche Zeit- und Streitfragen 9/143, Berlin 1880, S. 3–40) stünden schon hier im Netz, kann sie aber nicht finden. Also hier sind sie:

„Es beginnt jetzt mehr und mehr die Überzeugung in das allgemeine Bewußtsein einzudringen, daß derjenige, der es unternimmt, willkürlich in die geschichtliche Entwickelung eines Gegenstandes einzugreifen, mit den allgemeinen Entwickelungsbedingungen dieses Gegenstandes vertraut sein muß.“

„Sie (die übliche Schreibweise) ist gar nicht dazu da, jemanden, der die betreffende Sprache noch nicht kennt, über die Natur der darin vorkommenden Laute zu belehren. Sie ist nur für den Angehörigen der Sprachgenossenschaft, der mit seiner Muttersprache schon ganz genau vertraut ist, soll und kann weiter nichts leisten, als zum Erkennungszeichen für etwas schon bekanntes zu dienen.“

„Ein Nachtheil aller Gesetzgebung gegenüber der Gewohnheit liegt darin, daß sie durch die Laune und Willkür einzelner im Augenblick maßgebender Persönlichkeiten bestimmt werden kann, ohne der Vernunft und dem allgemeinen Bedürfniß Rechnung zu tragen. Ein zweiter Nachtheil ist, daß durch sie alle allmählige, stätige Entwickelung abgeschnitten wird, daß alle Reform fortan nur ruckweise geschehn kann, mit gewaltsamen Übergängen, die viele Unbequemlichkeiten mit sich führen.“

„Man hat großen Lärm geschlagen über die Verwirrung unserer jetzigen Orthographie. Man hat von einem dringenden Nothstande gesprochen, der eine Appellation an die Staatsgewalt erfordere. Das Vorhandensein einer solchen Verwirrung kann man aber nur dann anerkennen, wenn man alle Reformexperimente einer kleinen Minorität im Auge hat. Daß es dem gegenüber eine in allen wesentlichen Stücken feststehende Norm giebt, wonach die große Mehrheit sich richtet, kann niemand leugnen.“

„Wozu braucht man demnach die Hülfe des Staates so nothwendig? Das Experimentieren des Einzelnen kann derselbe niemals verbieten. Er kann nur das Eindringen dieser Experimente in die Schule und in die Acten verhindern. Dazu aber genügt die ganz allgemeine Vorschrift sich an den herrschenden Usus zu halten.“

„Auch in der Sprache entstehen unaufhörlich neue Schwankungen, indem gleichzeitig die alten beseitigt werden. So wird es immer bleiben. Auch in der Orthographie könnte es unserer Überzeugung nach ruhig so weiter gehen wie bisher, daß die Schwankungen nicht mit einem Schlage weggeschafft werden, sondern allmählig, indem die eine Schreibung zunächst das Übergewicht erhält und dann zur Alleinherrschaft gelangt, nicht durch ein Machtgebot, sondern durch Beispiel und Empfehlung der maßgebenden Kreise.“

„Die Schule hat unserer Überzeugung nach gar nichts zu reformiren. Wenn sie es versucht, überschreitet sie ihre Competenz, und wenn sie es darüber hinaus versäumt, das wirklich übliche zu lehren, so versäumt sie eine Pflicht, welche sie der Gesammtheit gegenüber hat.“

(Ein künftiges Regelbuch) „müßte aber wesentlich anders beschaffen sein, als diejenigen, die man uns jetzt octroyiert hat. Es müßte zunächst eine genaue Angabe des wirklich üblichen enthalten. Dabei müßten also auch alle Schwankungen unparteiisch verzeichnet werden, und zwar eventuell mit Auszeichnung der verbreiteteren Schreibweise. (...) Hierzu dann eine Angabe darüber, was nach den angenommenen Grundsätzen das empfehlenwertere ist. Nirgends darf die Entscheidung in der Form eines Befehles, sondern nur immer in der Form eines Rathes auftreten. (...) Die Unterstützung eines solchen Regelbuches durch die Autorität der Staatsgewalt ist nicht erforderlich, vielleicht kaum wünschenswerth. (..) Von Seiten der Regierungen brauchte weiter nichts zu geschehen als eine Zurücknahme ihrer störenden Verordnungen. Ohne diese Zurücknahme werden wir freilich nicht vom Flecke kommen.“

„Wir können darin nur eine Marotte des sonst hochverdienten Mannes sehen, und man muß sich im hohen Grade darüber verwundern, daß eine solche Marotte von Staatswegen der ganzen Nation aufgedrungen werden soll.“ (über Raumers Beharren auf einem bestimmten Dehnungs-h.)



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Kommentare zu »„Die Schule hat unserer Überzeugung nach gar nichts zu reformiren“«
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Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 23.07.2011 um 00.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1473#19048

Der vollständige Aufsatz von Hermann Paul ist tatsächlich auf den Seiten der FDS zu finden, allerdings in dem nicht direkt zugänglichen Ordner "PDF".

Frage an die Redaktion: Welche sonstigen Schätze befinden sich in diesem Ordner, und wie kann man darauf zugreifen?
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 23.07.2011 um 11.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1473#19049

Ein Hinweis auf den Text von Paul als PDF-Datei findet sich hier.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.07.2011 um 14.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1473#19050

Das hatte ich vergessen, bis auf ein dumpfes Rumoren im Hinterkopf (oder im Hippocampus? Spitzer fragen!). Nun, es ist schon so lange her, und es kann ja nichts schaden, den Text ab und zu mal in Erinnerung zu bringen.
Eigentlich lese ich Hermann Paul zur Zeit wegen der Wortbildungslehre, denn er war auch auf diesem Gebiet tausendmal gescheiter als die meisten Heutigen.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 13.08.2012 um 07.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1473#21253

Weil Hermann Pauls Schriften so außerordentlich bedeutsam für das Verständnis sprachlicher und sprachwissenschaftlicher Probleme sind, stelle ich hier einen Link zu einer Liste eingescan(n)ter und inzwischen gemeinfreier Werke aus nordamerikanischen Bibliotheken ein:

http://archive.org/search.php?query=creator%3A%22Paul%2C+Hermann%2C+1846-1921%22

Man findet dort übrigens auch viele andere hochwertige Klassiker.
 
 

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