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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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09.02.2010
 

Gigantisch
Zu einem neuen Projekt des Verlags de Gruyter

Der Verlag schickt sich an, ein 25bändiges Riesenwerk herauszubringen: "Wörterbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft".
Über die Problematik eines solchen Projekts will ich hier noch nichts sagen, sondern einen ersten Blick auf die Leseprobe zum ersten Band (Grammatik) werfen, die man hier herunterladen kann:
www.degruyter.de/files/down/wskLeseprobe.pdf
Dabei lasse ich die Terminologie zur generativen Grammatik weg, die offenbar sehr ausführlich dokumentiert werden soll, auch die längst überholten Stadien. Der zweite große Block ist konventionelle deutsche Schulgrammatik. (Typographisch ist das folgende gegenüber dem Original vereinfacht.)

»Adkopulaphrase
Adjektivphrase, die nur in prädikativer Funktion verwendet werden kann.
adcopula phrase: adjective phrase which can only be used predicatively.

Im Dt. sind z.B. pleite, quitt oder schuld Adj., die nur als Kopf einer Adkopulaphrase fungieren können (vgl. *der pleite Mann, *die quitten Freunde oder *die schulde Frau). Im Engl. sind asleep, alive und sorry Beispiele für Adkopulas (vgl. *the asleep child, *the alive woman oder *the sorry man).

AARTS, F./ AARTS J. [1982] English Syntactic Structures. New York - QUIRK, R./ GREENBAUM, S./ LEECH,G./ SVARTVIK J. [1985] A Comprehensive Grammar of the English Language. London - Ruhrmeisterschaft RuhrGr@mm Grammatik. [Unter: http://www.ruhruni-bochum.de/ruhrgramm; letzter Zugriff: 08.08.2006].«

Dieser Eintrag verschleiert, daß es sich um einen Ausdruck aus dem engen Kreis der IDS-Grammatiker handelt. Darauf verweist nur die Literaturangabe zur "Ruhrmeisterschaft", denn dort wird das Konzept der IDS-Grammatik, insbesondere die popularisierte Fassung von GRAMMIS, zugrunde gelegt. Dies geht wiederum auf Ulrich Engel zurück, der den Begriff "Kopulapartikel" eingeführt und mehrmals modifiziert hat. In der englischsprachigen Wissenschaft kennt man ihn nicht (adcopula ergibt bei Google denn auch nichts Verwertbares), wohl aber – selbstverständlich – die nur prädikativ verwendbaren Adjektive. Die englischen Literaturangaben sind ziemlich irreführend. In dem schon besprochenen Handbuch deutscher Wortarten von Ludger Hoffmann (also aus demselben Kreis wie die IDS-Grammatik) ist die Adkopula ganz schlecht behandelt (von Eichinger). Die Extension ist völlig unklar. Auf die Sache selbst will ich aber hier nicht näher eingehen.



»absoluter Kasus
Kasus, dessen Auftreten im Satz auf eine elliptische Konstruktion zurückführbar ist.
absolute case: case which occurs in a sentence due to an elliptical construction

In elliptischen Partizipialkonstruktionen, in denen die Partizipien habend oder haltend gestrichen wurden, steht das Subst. im Akkusativ und damit in dem Kasus, den diese Partizipien zuweisen würden.
(1) Den Hut [Akkusativ] in der Hand haltend, betrat er den Raum.
(1a) Den Hut [Akkusativ] in der Hand betrat er den Raum.
Da an der Satzoberfläche das kasuszuweisende Element nicht mehr präsent ist, bezeichnet man diesen Kasus als absoluten Kasus. Neben dem absoluten Akkusativ (1a) gibt es auch den absoluten Nominativ (2a). Dieser lässt sich auf eine elliptische Konstruktion beziehen, in der das Subst. in der Funktion eines Prädikativums steht und deshalb den Nominativ trägt.
(2) Peter – er ist mein bester Freund – kommt heute später.
(2a) Peter – mein bester Freund – kommt heute später.
In den meisten Grammatiken (vgl. DUDEN 2005:910f.) wird nur dann von einem absoluten Kasus gesprochen, wenn das Auftreten des Kasus auf eine elliptische Konstruktion zurückführbar ist.
Diese Definition wird auch hier zugrunde gelegt. Dagegen vertreten ZIFONUN et al. (1997: 2224f.)
die Ansicht, dass der absolute Kasus keineswegs immer auf eine elliptische Konstruktion zurückzuführen sei. HENTSCHEL/WEYDT (2003: 383) sprechen sich dafür aus, dass auch Subst. im Genitiv oder Akkusativ, die in der Funktion eines Adverbials auftreten (vgl. (3) und (4)), als absolute Kasus bezeichnet werden sollten, denn auch hier sei der Kasus nicht von einem anderen Element des Satzes abhängig.
(3) Den ganzen Morgen [Akkusativ] las er die Zeitung.
(4) Rechter Hand [Genitiv] sehen Sie den Eiffelturm.
Auch in anderen Sprachen (Lat., Griech.) kommt eine solche Konstruktion vor. So ist im Altgriech.
die Absolutkonstruktion typischerweise eine Verbindung aus Partizip und Genitiv, in unpersönlichen Konstruktionen auch eine Verbindung aus Partizip und Akkusativ.

DITTMER, E. [1980] Zur Geschichte des absoluten Akkusativs (Nominativs) im Deutschen. In: DYHR, M./ HYLDGAARD-JENSEN, K./ OLSEN, J. [Hg.] Festschrift für Gunnar Bech. Kopenhagen: 61-83 – DUDEN [2005] Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl. (Duden 4). Mannheim [etc.] – HENTSCHEL, E./ WEYDT, H. [2003] Handbuch der deutschen Grammatik. 3., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] – KORTMANN, B. [1988]Freie Adjunkte und absolute Konstruktionen im Englischenund Deutschen. In: PzLing 38/1: 61-89 – ZIFONUN, G./ HOFFMANN, L./ STRECKER, B. et al. [1997] Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. (SchIDS 7). Berlin [etc.].«

Zunächst zum absoluten Akkusativ: Was soll dieses "Zurückführen" bedeuten? Historisch ist es nicht richtig, und "gestrichen" ist auch nichts. Man kann solche Partizipien hinzufügen, um sich die Konstruktion nach heutiger Redeweise mundgerecht zu machen, aber solche Paraphrasen besagen gar nichts.
Die Literaturangabe enthält einen folgenreichen Fehler: Der Aufsatz von Ernst Dittmer steht in der Gedenkschrift Dal (1988) und nicht in der Festschrift Bech (1980). Dort gibt es vielmehr einen Aufsatz vom Sohn Arne Dittmer. Offenbar ist der sorgfältig gearbeitete Aufsatz von Ernst Dittmer gar nicht gelesen worden, denn man erwartet eine Stellungnahme zu Dittmer, der mit anderen Autoren keineswegs eine solche „Zurückführung“ annimmt, sondern französischen Ursprung der ganzen Konstruktion (so schon Paul IV § 216, Blatz II 357).

Außerdem wird als "absoluter Nominativ" hier einfach die Apposition im Nominativ verstanden, sehr ungewöhnlich (wenn auch ähnlich der Dudengrammatik 2005:911, Bertelsmanngrammatik 143). Sie ist ja gar nicht "absolut". Traditionell versteht man darunter den Nominativus pendens und ähnliches, eine Menge Beispiele bringt Blatz II:310f.
Mit diesem Eintrag ist der Benutzer also sehr schlecht bedient.



Zu Apokoinu:
"Diachron belegte Apokoinukonstruktionen, in denen beide Syntagmen nicht auf den gleichen Sachverhalt rekurrieren und das Koinon unterschiedliche syntaktische Funktionen in A-B und B-C erfüllen, sind gegenwartssprachlich nicht mehr belegt.“

Wieso denn nicht?

Fahrpläne gibt es, sind aber ausverkauft. (Zeit 18.3.88)

Was ist und gibt es Gerechtigkeit? (Jur. Arbeitsblätter 1985)

Es ist ein Wort, das vor wenigen Monaten nur die Politiker der Linkspartei in den Mund genommen haben, aber jetzt die Debatte in Berlin beherrscht. (SZ 6.2.09)



Es gibt ständig Literaturverweise auf die Dudengrammatik oder auf die IDS-Grammatik ohne Seitenangaben. Was soll der Leser damit anfangen? Die IDS-Grammatik hat gut 2.500 Seiten!

In der Verlagswerbung heißt es, das Werk sei "unentbehrlich für Studenten, die deutsche und englische Fachtexte lesen müssen".

Ist dieses "müssen" nicht köstlich? Es klingt nach Bologna ...



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Kommentare zu »Gigantisch«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2015 um 07.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1277#28012

Es gibt schon wieder ein Riesenprojekt aus demselben Hause:
http://www.degruyter.com/view/serial/185144

Das gesamte sprachwissenschaftliche Wissen sollte schon in den HSK-Bänden eingefangen werden, seither wird es unter immer wieder anderen Gesichtspunkten auf neue Buchreihen verteilt. Neues ist von solchen Handbüchern naturgemäß nicht zu erwarten. Für Privatleute kommt die Anschaffung wegen des exorbitanten Preises nicht in Frage. Da aber Universitäts- und einschlägigen Seminarbibliotheken die Reihen erwerben müssen, ist eine ausreichende Mindestauflage gesichert. Für den Verlag de Gruyter geht die Rechnung in jedem Fall auf.
Das Ganze spiegelt eine gewisse Erschöpfung der Sprachwissenschaft. Aufsehenerregende Vorstöße wie die generative Grammatik Chomskys sind nach enormer Betriebsamkeit im Sande verlaufen. Die Neurolinguistik kommt kaum voran, wirkt auch allmählich ernüchtert. Mehr oder weniger dilettantisch wird eine sprach- und gesellschaftskritische (feministische, politisch-korrekte) Linguistik betrieben, aber auch hier sind Ermüdungserscheinungen und Überdruß unverkennbar. Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft arbeitet unauffällig an kleinen Problemen, die wenig für die Öffentlichkeit taugen.
Die enzyklopädischen Gebinde enthalten viel Wertloses und vieles, was der einzelne Benutzer in Kauf nimmt, obwohl er es nicht braucht.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.06.2013 um 19.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1277#23464

Macht man die Gegenprobe und gibt "Sprachlehre" ein, erhält man in Alt- und Neugriechisch die Antwort "grammatikä".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2013 um 10.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1277#23463

Die vereinfachte Grammatik des IDS, die der Ruhrmeisterschaft zugrunde liegt, beginnt so:

"Im Altgriechischen bedeutete grammatiké techné einfach 'Lehre von den Buchstaben'."
(http://hypermedia.ids-mannheim.de/call/public/gruwi.ansicht?v_id=3123)

Das ist die Etymologie, nicht die wirkliche Bedeutung. Die erste erhaltene Grammatik mit diesem Titel ist von Dionysios Thrax und steht im Netz. Man kann sich also leicht überzeugen, wovon sie wirklich handelt. Ich glaube nicht, daß der Ausdruck irgendwo in der altgriechischen Literatur etwas anderes als Sprachlehre bedeutet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.05.2013 um 09.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1277#23287

Zum letzten Abschnitt meines Eintrags: In der amazon-Rezension zu einem germanistischen Studienbuch steht:

Perfekt für das Studium geeignet, aber auch für Interessenten!

Wenn man ein bißchen boshaft ist, kann man das so verstehen, daß Studenten sich erst einmal nicht interessieren. Diese Voraussetzung liegt einem Großteil der Didaktik zugrunde. Sie ist "self-fulfilling".

Nach einer Lehrprobe klopfen Oberstufenschüler dem verschwitzten Referendar gutmütig auf die Schulter: "Na, haben Sie uns auch schön motiviert?" Sie kennen den Betrieb schon, obwohl sie noch nie bei einer der absurden Lehrproben-Besprechungen dabei waren.
 
 

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